S 1 KR 2376/18 ER

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Reutlingen (BWB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 1 KR 2376/18 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Ein an Diabetes mellitus Typ I erkranktes 3 1/2jähriges Kind hat im Rahmen der Eingliederungshilfe Anspruch auf eine Integrationskraft zur Beobachtung und Beaufsichtigung im Kindergarten, da anderenfalls der Besuch eines Regelkindergartens nicht möglich ist.
2. Dieser Beobachtungs- und Beaufsichtigungsbedarf ist durch die Erzieherinnen des Regelkindergartens nicht zu erbringen.
3. Nach Weiterleitung des Antrages durch den an sich hierfür zuständigen Sozialhilfeträger an die Krankenkasse hat diese den Anspruch zu erfüllen.
4. Die Genehmigungsfiktion des § 18 Abs. 3 SGB IX greift hier nicht, da die Krankenkasse als Träger der Eingliederungshilfe tätig wird.
5. Daneben besteht – bei entsprechender vertragsärztlicher Verordnung – ein Anspruch gegen die Krankenkasse auf Gewährung häuslicher Krankenpflege, die Blutzuckermessungen und Insulingaben umfasst.
1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet, der Antragstellerin ab 15.11.2018 Eingliederungshilfe in Form einer Integrationskraft für den Besuch ihres Kindergartens, jeweils von Montag bis Freitag von 7:00 Uhr bis 13:30 Uhr, zu gewähren. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt. 2. Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu erstatten.

Gründe:

I.

Vorliegend begehrt die Antragstellerin (Ast) im Wege der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes die Verpflichtung der Antragsgegnerin (Ag), ihr Eingliederungshilfe in Form einer Integrationskraft für ihren Besuch eines Kindergartens zu gewähren.

Die am ... geborene Ast ist über ihre bei der Ag pflichtversicherte Mutter im Rahmen der Familienversicherung dort kranken- und pflegeversichert.

Bei ihr besteht ein insulinpflichtiger Diabetes mellitus Typ I, der erstmals im Dezember 2017 diagnostiziert wurde. Im Rahmen der danach eingeleiteten Insulintherapie ist sie mit einer Insulinpumpe versorgt.

Auf der Grundlage des Pflegegutachtens der Pflegefachkraft G. vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) erhält die Ast ab Antragstellung am 17.04.2018 Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach Pflegegrad 3.

Die Ast besucht seit ... den katholischen Kindergarten in ..., einen Regelkindergarten. Nachdem sie zunächst in der Kleinkindgruppe (Krippe, Alter von ein bis drei Jahren) aufgenommen war, wird sie seit Ende August 2018 in einer von zwei VÖ-Gruppen (verlängerte Öffnungszeiten) mit jeweils 25 Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren betreut.

Unter Beifügung des Pflegegutachtens, eines Schreibens des katholischen Kindergartens ... sowie eines Entlassberichts der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums. vom beantragte die Ast am 19.04.2018 beim Landratsamt des , dem mit Beschluss vom 26.10.2018 Beigeladenen, die Übernahme der Kosten für integrative Maßnahmen im Kindergarten.

Dieser Antrag wurde vom Beigeladenen mit Schreiben vom 20.04.2018 nach § 14 des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IX) an die Ag mit der Begründung weitergeleitet, sie sei für die beantragte Leistung nicht zuständig und könne daher keine Kosten im Rahmen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach dem 6. Kapitel des Zwölften Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB XII) übernehmen. Aufgrund der vorliegenden ärztlichen Diagnostik und des Berichtes des Kindergartens handele es sich bei der integrativen Maßnahme um einen behinderungsbedingten Mehraufwand im Bereich der medizinischen Versorgung und damit verbundener Hilfsmaßnahmen, für die die Ag im Rahmen der Behandlungssicherungspflege nach § 37 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB V) zuständig sei.

Mit Schreiben vom 05.06.2018 beauftragte die Ag daraufhin den MDK mit der Erstellung einer gutachterlichen Stellungnahme.

Dr ... vom MDK gelangte in seinem Gutachten vom 05.07.2018 zu dem Ergebnis, zur fach- und sachgerechten Behandlung des Diabetes mellitus müssten die Blutzuckerwerte regelmäßig und bei Bedarf (z.B. nach ausgeprägter körperlicher Betätigung) gemessen und das Insulin über die Pumpe verabreicht werden. Dabei handle es sich um behandlungspflegerische Maßnahmen, die der behandelnde Arzt als Leistung der häuslichen Krankenpflege verordnen könne. Die darüber hinaus erforderlichen allgemeinen Maßnahmen, wie Information des Personals im Kindergarten, dass die Ast unter einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus leide, seien keine ärztlichen Leistungen im Sinne der Richtlinie häuslicher Krankenpflege, die der behandelnde Arzt an eine qualifizierte Pflegefachkraft delegieren könne.

Gestützt auf diese gutachterliche Stellungnahme teilte die Ag der Ast mit Bescheid vom 05.07.2018 mit, behandlungspflegerische Maßnahmen, wie das Blutzuckermessen oder das Spritzen von Insulin könnten als Leistung der häuslichen Krankenpflege von ihr übernommen werden. Bei den allgemeinen Maßnahmen handle es sich aber nicht um behandlungspflegerische Maßnahmen im Sinne der häuslichen Krankenpflege, die von ihr übernommen werden könnten. Eine weitergehende Betreuung in Form einer persönlichen Assistenz während des Besuchs des Kindergartens (Integrationshelferin) stelle ebenfalls keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung dar. Eine solche Betreuungsleistung ziele darauf ab, den Besuch des Regelkindergartens zu ermöglichen und dem Kind die Möglichkeit zu geben, den selbständigen Umgang mit den im Zusammenhang mit der Diabetes-Erkrankung notwendigen Maßnahmen zu erlernen. Sinn der Kindergartenbegleitung sei also, das Kind langfristig möglichst unabhängig von pflegerischen Hilfen zu machen. Diesem Zweck diene jedoch die Eingliederungshilfe, nicht die Behandlungspflege der Krankenversicherung. Sollte tatsächlich die Notwendigkeit für eine Integrationshelferin gesehen werden, werde empfohlen, beim Landratsamt ... nochmals einen Antrag auf Integrationsleistungen zu stellen.

Entsprechend dieser Empfehlung beantragte die Ag am 11.07.2018 erneut beim Beigeladenen die Gewährung einer Integrationskraft unter Beifügung eines Entlassberichts der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums vom., in dem auf sehr schwankende Blutzuckerwerte bei der Ast mit Hypoglykämien und Hyperglykämien hin gewiesen wurde. Insgesamt seien Hypoglykämien ca. fünfmal je Woche aufgetreten. Am 01.05.2018 sei eine schwere Hypoglykämie nachts aufgetreten.

Dieser Antrag wurde vom Beigeladenen erneut mit Schreiben vom 18.07.2018 an die Ag weitergeleitet, wo er am 23.07.2018 einging.

Unter Berücksichtigung eines weiteren Schreibens des katholischen Kindergartens. lehnte die Ag mit Bescheid vom 13.08.2018 erneut Leistungen der Eingliederungshilfe ab. Pflegerische Maßnahmen im Rahmen der häuslichen Krankenpflege könnten hingegen von ihr übernommen werden. Dazu gehörten die notwendigen Blutzuckermessungen und Insulingaben.

Gegen diesen Bescheid wurde von der Ast am 13.08.2018 Widerspruch eingelegt, über den - soweit ersichtlich – bislang noch nicht entschieden wurde.

Ferner hat die Ast am 23.08.2018 mit ihrem zunächst beim Verwaltungsgericht gestellten, dann mit Beschluss vom 10.09.2018 an das zuständige Sozialgericht Reutlingen (SG) verwiesenen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes die Verpflichtung der Ag beantragt, ihr Eingliederungshilfe in Form einer Integrationskraft für ihren Kindergartenbesuch zu gewähren. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ausgeführt, sie sei auf eine persönliche Assistenz angewiesen, um ihr den Besuch des Kindergartens zu ermöglichen. Die behandelnden Ärzte der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums. hätten in ihrem Entlassbericht vom ... darauf hingewiesen, dass sie in letzter Zeit sehr schwankende Blutzuckerwerte mit Hypoglykämien und Hyperglykämien gehabt habe. Ausdrücklich sei von den dort behandelnden Ärzten als flankierende Maßnahme eine Integrationskraft für den Kindergarten zwingend empfohlen worden, um ihr den Besuch des Kindergartens im Sinne einer Teilhabe zu ermöglichen. Auch im Schreiben des Kindergartens ... werde darauf hingewiesen, dass sie ununterbrochen unter Beobachtung stehen müsse. Ihr Gemütszustand müsse genau im Auge behalten und auf sehr viele Feinheiten geachtet werden. Hierauf müsse dann unmittelbar reagiert werden. So müsse ihr bei einer Unterzuckerung zum Beispiel sofort die richtige Menge Traubenzucker verabreicht werden. Des Weiteren sei, um den Blutzuckerspiegel zu senken, die Motivation zur Bewegung erforderlich. Auch beim Essen müsse darauf geachtet werden, dass sie die richtige Menge zur richtigen Uhrzeit einnehme. Dabei sei sie ebenfalls auf Unterstützung angewiesen. In Sonderfällen müsse darüber hinaus während der Betreuungszeit telefonisch Rücksprache mit ihrer Mutter gehalten werden. Auch bei jedem Toilettengang sei sie auf Hilfe angewiesen. Die Nadel der Insulinpumpe sei an ihrem Hinterteil angebracht. Diese sei mit einem Schlauch mit der Pumpe verbunden. Aus diesem Grund sei sie auf die Unterstützung beim An- und Ausziehen angewiesen. Ihre Betreuung erfordere nach Angaben des Kindergartens eine zeitintensive Einzelbetreuung. In dieser Zeit sei die andere Erzieherin mit 24 anderen Kindern alleine in der Gruppe. Durch den jetzigen Personalschlüssel und die große Gruppe von 25 Kindern bestehe daher keine Möglichkeit, ihr diesen besonderen, zusätzlichen Betreuungs- und Förderungsbedarf zukommen zu lassen. Auch der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung notwendige Anordnungsgrund liege vor. Zwar besuche sie derzeit noch den Kindergarten. Ohne Bewilligung einer Integrationskraft könnte jedoch nach Angaben des Kindergartens die notwendige intensive Betreuung und Förderung nicht mehr gewährleistet werden. Somit wäre man gezwungen, ihren Kindergartenplatz zu kündigen.

Die Ast beantragt,

die Ag im Wege der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes zu verpflichten, ihr Eingliederungshilfe in Form einer Integrationskraft, jeweils von Montag bis Freitag von 7:00 Uhr bis 13:30 Uhr ab dem 28.08.2018 zu gewähren.

Die Ag beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ausgeführt, sie habe nach Befragung des MDK keinen Bedarf für eine ganztägige Kindergartenbegleitung durch eine Integrationshelferin erkennen können. Ausreichend und zweckmäßig seien Maßnahmen der Behandlungspflege, die im Rahmen des § 37 Abs. 2 SGB V ärztlich zu verordnen wären. Die Notwendigkeit einer ständigen Kindergartenbegleitung sei weder aus medizinischen Gründen noch im Rahmen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung nach dem SGB XII gegeben.

Der Beigeladene hat zwar keinen Antrag gestellt, gleichwohl ausgeführt, gegen die Weiterleitung des Antrages mit Schreiben vom 20.04.2018 habe die Ag zwar Widerspruch erhoben, der jedoch mit Widerspruchsbescheid vom 16.05.2018 als unzulässig zurückgewiesen worden sei. Nachdem der Antrag fristgerecht an die Ag weitergeleitet worden sei, habe diese als zweitangegangener Rehabilitationsträger über den Antrag zu entscheiden. Die im Bericht des Kindergartens ... aufgeführten Betreuungsleistungen für die Ast könnten seines Erachtens über die Leistung der häuslichen Krankenpflege gedeckt werden. Die vom MDK darüber hinaus genannten Aufgaben zur Information und Aufklärung über das Krankheitsbild stellten keinen Bedarf der Eingliederungshilfe dar, sondern seien im Zusammenhang mit der Leistung der Ag zu sehen. Es bestehe somit kein Anspruch auf Übernahme der Kosten für eine Integrationskraft zum Besuch des Kindergartens im Rahmen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach dem 6. Kapitel des SGB XII.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakte der Ag und der Gerichtsakte Bezug genommen.

II.

Der an das sachlich und örtlich zuständige SG verwiesene Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang auch begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann das Gericht der Hauptsache, soweit - wie hier - nicht ein Fall des Abs. 1 vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung, Satz 2). Vorliegend kommt nur eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG in Betracht.

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die - summarische - Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung). Beides sind gleichberechtigte Voraussetzungen, die ein bewegliches System darstellen: Je nach Wahrscheinlichkeit des Erfolges in der Hauptsache können die Anforderungen an den Anordnungsgrund geringer sein und umgekehrt. Völlig entfallen darf hingegen keine der beiden. Dementsprechend sind die insoweit zu stellenden Anforderungen um so niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere auch im Hinblick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen (Bundesverfassungsgericht, NJW 2003, 1236; NVwZ 2005, 927). Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache sind dann in Ansehung des sich aus Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes ergebenden Gebotes der Sicherstellung einer menschenwürdigen Existenz sowie des grundrechtlich geschützten Anspruches auf effektiven Rechtsschutz unter Umständen nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Ist im Eilverfahren eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, so ist bei besonders folgenschweren Beeinträchtigungen eine Güter- und Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers vorzunehmen (vgl. Landessozialgericht Baden-Württemberg - LSG - , Beschlüsse vom 13.10.2005 - L 7 SO 3804/05 ER-B - und vom 06.09.2007 - L 7 AS 4008/07 ER-B; beide Juris unter Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts). Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (LSG, Beschlüsse vom 04.04.2008 - L 7 AS 5626/07 ER-B - und vom 11.06.2008 - L 7 AS 2309/08 ER-B - beide Juris).

Unter Berücksichtigung der dargestellten gesetzlichen Grundlagen ist die Ag verpflichtet, der Ast ab 15.11.2018 für den Besuch ihres Kindergartens Eingliederungshilfe in Form einer Integrationskraft zu gewähren. Sowohl der hierfür erforderliche Anordnungsanspruch als auch der dafür notwendige Anordnungsgrund liegen vor.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass zwischen den Beteiligten kein Streit darüber besteht, dass bei entsprechender vertragsärztlicher Versorgung die Ast einen Anspruch gegen die Ag auf Gewährung häuslicher Krankenpflege hat, die Blutzuckermessungen und Insulinabgaben umfasst. Dieser Anspruch ergibt sich aus § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V, wonach Versicherte – wie die Ast - unter anderem in Kindergärten als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege erhalten, wenn diese zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist. Hierbei umfasst die auf der Grundlage des § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V vom Gemeinsamen Bundesausschuss erlassene Richtlinie über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege (Häusliche Krankenpflege-Richtlinie) nach dem dort als Anlage enthaltenen Verzeichnis verordnungsfähiger Maßnahmen der häuslichen Krankenpflege neben der Blutzuckermessung auch die Injektion von Insulin. Dass sowohl Blutzuckermessungen als auch Insulingaben bei dem bei der Ast vorliegenden Diabetes mellitus Typ I notwendig sind, um das Ziel der ärztlichen Behandlung, eine weitgehende Beschwerdefreiheit, zu sichern, bedarf angesichts der ansonsten bestehenden Gefahr lebensgefährlicher Entgleisungen des Blutzuckerspiegels keiner Erörterung. Diese Leistungen der häuslichen Krankenpflege, also die notwendigen Blutzuckermessungen und Insulingaben, würden der Ast bei entsprechender vertragsärztlicher Verordnung von der Ag auch gewährt werden. Dies hat die Ag selbst in ihren Bescheiden vom 05.07. und vom 13.08.2018 nochmals besonders hervorgehoben.

Zwischen den Beteiligten im vorliegenden Verfahren ist jedoch streitig, ob im Hinblick auf den bei der Ast vorliegenden insulinpflichtigen Diabetes mellitus Typ I während ihres Kindergartenbesuches ein über die häusliche Krankenpflege hinausgehender Assistenzbedarf in Form einer Integrationskraft besteht.

Grundlage für das Begehren der Ast auf Gewährung einer Integrationskraft im Rahmen der Eingliederungshilfe ist § 19 Abs. 3 SGB XII i.V.m. den §§ 53 ff. SGB XII. Nach § 19 Abs. 3 SGB XII wird u.a. Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach dem Fünften bis Neunten Kapitel dieses Buches geleistet, soweit den Leistungsberechtigten, soweit sie minderjährig und unverheiratet sind, auch ihren Eltern die Aufbringung der Mittel aus dem Einkommen und Vermögen nach den Vorschriften des Elften Kapitels nicht zuzumuten ist.

Nach § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII werden Leistungen der Eingliederungshilfe als Pflichtleistungen an Personen erbracht, die durch eine Behinderung im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann.

Besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es nach § 53 Abs. 3 Sätze 1 und 2 SGB XII unter anderem, die Folgen einer Behinderung zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört insbesondere, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen.

So bestimmt der über § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII anwendbare § 55 Abs. 2 Nr. 7 SGB IX in der am 31.12.2017 geltenden Fassung, dass die Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft insbesondere Hilfen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen Leben umfassen.

Zuständig für die Gewährung von Leistungen der Eingliederungshilfe ist zwar nach § 3 Abs. 1 und 2 SGB XII hier der aufgrund des im gelegenen Wohnorts der Ast örtlich zuständige Landkreis , der Beigeladene.

Allerdings wurden die dort richtigerweise von der Ast am 19.04. und am 11.07.2018 gestellten Anträge auf Gewährung von Eingliederungshilfe nach § 14 Abs. 1 Sätze 1 und 2 SGB IX unverzüglich an die nach Auffassung des Beigeladenen hierfür zuständige Ag weitergeleitet. Ob diese Weiterleitung zu Recht erfolgte, bedarf keiner Erörterung, da selbst bei ihrer Unzuständigkeit die Ag hieran gebunden ist (Ulrich in jurisPK-SGB IX, § 14 Rdnr. 88 unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts). Zudem ist eine erneute Weiterleitung durch die Ag nach § 14 Abs. 3 SGB IX nicht erfolgt.

Nach Weiterleitung der Anträge an die Ag hat diese den Rehabilitationsbedarf anhand der Instrumente zur Bedarfsermittlung nach § 13 unverzüglich und umfassend festzustellen und die Leistungen zu erbringen (§ 14 Abs. 2 Satz 4 i.V.m. Satz 1 SGB IX).

Damit hat die Ag als gesetzliche Krankenkasse als zweitangegangener Rehabilitationsträger die an sie weitergeleiteten Anträge auf Gewährung von Eingliederungshilfe nach dem SGB XII umfassend zu prüfen und über diese zu entscheiden (Landessozialgericht Baden-Württemberg - LSG -, Beschluss vom 12.12.2017 – L 7 SO 3798/17 ER-B – juris m.w.N.). Als gesetzliche Krankenkasse wird sie daher vorliegend als Träger der Eingliederungshilfe tätig. Trotz der von ihr hier hinsichtlich des am 19.04.2018 gestellten Antrages nicht eingehaltenen Zwei-Monats-Frist des § 18 Abs. 1 SGB IX greift damit die Genehmigungsfiktion des § 18 Abs. 3 SGB IX hier nicht ein, da diese nach § 18 Abs. 7 SGB IX gerade nicht für die hier als Träger der Eingliederungshilfe tätig werdende Ag gilt.

Nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren vorzunehmenden summarischen Prüfung ist die Kammer der Überzeugung, dass die dargestellten gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Eingliederungshilfe durch eine Integrationskraft für den Kindergartenbesuch der Ast gegeben sind.

Bei der Ast liegt aufgrund ihres insulinpflichtigen Diabetes mellitus Typ I eine wesentliche körperliche Behinderung im Sinne des § 2 Abs. 1 SGB IX und im Sinne des § 1 Nr. 3 der auf der Grundlage des § 60 SGB XII ergangenen Eingliederungshilfe-Verordnung vor (so auch LSG, a.a.O.; Oberverwaltungsgericht Bremen – OVG -, Beschluss vom 12.05.2009 – S 3 B 10/09 – juris-). Dies ist zwischen den Beteiligten vorliegend unstreitig.

Aufgrund dieser Behinderung liegt bei ihr nach Überzeugung der Kammer auch eine wesentliche Beeinträchtigung ihrer Teilhabefähigkeit vor, weil sie aufgrund ihres Alters von derzeit 3 1/2 Jahren nicht in der Lage ist, den Verlauf ihrer Diabeteserkrankung mit schwankenden Blutzuckerwerten sowie häufigen Hypoglykämien und Hyperglykämien zu beobachten und nötigenfalls entsprechend zu handeln. Aufgrund der damit möglicherweise eintretenden erheblichen Gesundheitsgefahren könnte sie nach Überzeugung der Kammer ohne entsprechende Unterstützung durch Erwachsene den Kindergarten nicht besuchen und damit nicht an der dortigen Gemeinschaft mit gleichaltrigen Kindern teilhaben (vgl. hierzu auch LSG, a.a.O.).

Um diese Teilhabe zu gewährleisten reichen die durch die Ag als gesetzliche Krankenkasse zu erbringenden Leistungen der häuslichen Krankenpflege nicht aus. Über diese Leistungen hinaus (Blutzuckermessungen, Insulingabe) besteht nach Überzeugung der Kammer ein weiterer Assistenzbedarf, der zudem nicht durch die Erzieherinnen im ... Kindergarten gedeckt werden kann.

Zu dieser Überzeugung gelangt die Kammer einerseits aufgrund des Entlassberichtes der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums. vom ..., andererseits aufgrund der beiden Schreiben des Kindergartens ...

Wie aus diesem Entlassbericht zu ersehen ist, liegen bei der Ast sehr schwankende Blutzuckerwerte mit Hypoglykämien und Hyperglykämien vor, obwohl bei niedrigen Werten die Ast Hunger angibt. Insgesamt seien nach den dortigen Angaben Hypoglykämien ca. fünfmal je Woche aufgetreten. Von einer schweren, nachts aufgetretenen Hypoglykämie wird weiter berichtet. Als flankierende Maßnahme wird von den dortigen Ärzten eine Integrationskraft für den Kindergarten zwingend empfohlen, um der Ast den Besuch zu ermöglichen

In den beiden Schreiben des Kindergartens ... wird für die Kammer überzeugend dargelegt, welche Beobachtungs- und Betreuungsmaßnahmen bei der Ast während des Kindergartenbesuchs durchzuführen sind. So muss die Ast – wie in beiden Schreiben dargelegt – ununterbrochen unter Beobachtung stehen. Ihr Gemütszustand müsse genau im Auge behalten und auf viele Feinheiten geachtet werden Bei etwaigen Anzeichen einer Unterzuckerung ist es erforderlich, sofort entsprechend zu reagieren, beispielsweise durch Verabreichung der richtigen Menge Traubenzucker oder durch Motivation zur Bewegung. Beim Essen muß darauf geachtet werden, dass die Ast die richtige Menge zur richtigen Zeit isst, wobei die Ast auf die Unterstützung der Erzieherinnen angewiesen ist. Ohne weiteres nachvollziehbar sind ferner die weiteren Ausführungen in beiden Schreiben, dass bei jedem Toilettengang die Ast auf die Hilfe der Erzieherinnen angewiesen ist. Dies ergibt sich aufgrund der Tatsache, dass die Nadel für die Insulinpumpe am Hinterteil der Ast angebracht ist. Damit benötigt sie Unterstützung beim An- und Ausziehen, da anderenfalls es ohne weiteres geschehen könnte, dass die Nadel der Insulinpumpe herausgezogen wird.

Wie diese für die Kammer ohne weiteres nachvollziehbaren Ausführungen der Erzieherinnen belegen, bedarf die Ast aufgrund der bei ihr vorliegenden Erkrankung einer intensiven Einzelbetreuung, die bei einer Gruppengröße von 25 Kindern und einem Personalschlüssel von zwei Erzieherinnen nicht ohne Gefährdung sowohl der Ast als auch bei ihrer Einzelbetreuung der übrigen Kinder gewährleistet werden kann. Auf entsprechende haftungsrechtliche Folgen für die Erzieherinnen beim Eintritt von gesundheitlichen Schäden aufgrund einer unzureichenden Beobachtung ist in diesem Zusammenhang hinzuweisen. Dass die bei der Ast zu erbringenden Leistungen wohl bislang von den Erzieherinnen des ... Kindergartens erbracht werden, steht bereits aus den dargestellten haftungsrechtlichen Folgen einem Anspruch der Ast auf Gewährung von Eingliederungshilfe nicht entgegen.

Nach Überzeugung der Kammer ist somit bei der Ast eine ständige vermehrte Beaufsichtigung und Beobachtung notwendig, da bei ihr ein deutlich erhöhtes gesundheitliches Risiko aufgrund der immer wieder auftretenden erheblichen Blutzuckerschwankungen mit der Gefahr von Hypoglykämien und Hyperglykämien besteht.

Aufgrund des damit bei ihr bestehenden vermehrten Beaufsichtigungs- und Beobachtungsbedarfes hat sie neben einem Anspruch auf häusliche Krankenpflege nach entsprechender vertragsärztlicher Verordnung einen Anspruch auf Gewährung von Eingliederungshilfe in Form einer Integrationskraft für ihren Kindergartenbesuch (vgl. hierzu auch OVG, a.aO.).

Diese Eingliederungshilfe ist nach § 92 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB XII ohne Berücksichtigung von vorhandenem Vermögen zu erbringen. Nach § 92 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB XII ist das Einkommen allenfalls für die Kosten des Lebensunterhalts, der integraler Bestandteil der Hilfen ist, heranzuziehen (LSG, a.a.O. m.w.N.)

Auch der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderliche Anordnungsgrund wurde von der Ast glaubhaft gemacht. Ohne die hier begehrte Eingliederungshilfe ist ihr ein weiterer Besuch des Kindergartens nicht mehr möglich. Dies ergibt sich zur Überzeugung der Kammer aus dem Schreiben des Kindergartens, wonach ohne Bewilligung einer Integrationsfachkraft die notwendige intensive Betreuung und Förderung nicht mehr gewährleistet werden kann und damit gezwungenermaßen der Kindergartenplatz der Ast gekündigt werden muss.

Bei der hier zu treffenden Entscheidung hat die Kammer berücksichtigt, dass der Ag ein "gewisser Vorlauf" für die Bereitstellung einer Integrationskraft für den Kindergartenbesuch der Ast zugebilligt werden muss. Bei dieser Integrationskraft sollte es sich zweckmäßigerweise um eine Person handeln, die auch die notwendige Befähigung zur Erbringung von – vertragsärztlich verordneten – Leistungen der häuslichen Krankenpflege (Blutzuckermessung und Insulinabgabe) besitzt. Sollte die Ag zur Bereitstellung einer Integrationskraft nicht in der Lage sein, würde der bestehende "Bereitstellungsanspruch" sich in einen Anspruch auf Übernahme entstehender Kosten in angemessener Höhe für eine selbstbeschaffte Integrationskraft umwandeln.

Weiter hat die Kammer berücksichtigt, dass für die Vergangenheit die Gewährung einer Integrationskraft ausscheidet. Anhaltspunkte dafür, dass sich die Ast bereits eine entsprechende Integrationskraft selbst beschafft hat und ihr dafür Kosten entstanden sind, deren Erstattung sie nunmehr im Wege der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes begehrt, liegen nicht vor.

Dem Begehren der Ast war daher ab 15.11.2018 zu entsprechen. Hinsichtlich des davorliegenden Zeitraums blieb ihr Antrag ohne Erfolg.

Ob ein Erstattungsanspruch der Ag gegen den Beigeladenen besteht, ist vorliegend nicht zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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