L 6 R 342/17

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 6 R 407/15
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 R 342/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Ist der Leistungsfall vor der Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen eingetreten, besteht grundsätzlich kein Anspruch auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

2. Eine Erwerbsminderung iS des § 43 Abs 1 S 2 und Abs 2 S 2 SGB 6 liegt vor, wenn eine rentenrelevante Leistungseinschränkung über einen Zeitraum von mehr als 6 Monaten besteht.

3. Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Leistungsminderung auf "nicht absehbare Zeit" vorliegt, ist eine retrospektive Betrachtungsweise geboten.
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 7. August 2017 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander auch für das Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach dem Sozialgesetzbuch Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI). Umstritten ist insbesondere, ob bei der Klägerin eine Erwerbsminderung in rentenberechtigendem Ausmaß erst zu dem Zeitpunkt vorgelegen hat, in dem die für einen Rentenanspruch erforderlichen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt waren oder bereits zu einem früheren Zeitpunkt bestanden hat.

Die 1975 in Jordanien geborene Klägerin verfügt über eine abgeschlossene Berufsausbildung als Chemieingenieurin. Sie kam 2003 nach Deutschland und war seitdem nicht mehr erwerbstätig. Mit ihrem im Jahr 2013 verstorbenen Ehemann hat sie drei gemeinsame Kinder, die alle in Deutschland geboren sind. Die Tochter D. kam 2004 zur Welt, der Sohn E. 2007 und die Tochter F. 2013. Mit Bescheid vom 4. August 2014 merkte die Beklagte betreffend die Tochter D. den Zeitraum vom 1. Juni 2004 bis 31. Mai 2007 als Kindererziehungszeit und für den Zeitraum vom 3. Mai 2004 bis 16. Dezember 2013 Berücksichtigungszeiten für Kindererziehung, betreffend den Sohn E. den Zeitraum vom 1. Juni 2007 bis 31. Mai 2010 als Kindererziehungszeit und für den Zeitraum vom 11. Mai 2007 bis 16. Dezember 2013 Berücksichtigungszeiten für Kindererziehung und betreffend die Tochter F. den Zeitraum vom 1. Juli 2013 bis 16. Dezember 2013 als Kindererziehungszeit und für den Zeitraum vom 26. Juni 2013 bis 16. Dezember 2013 Berücksichtigungszeiten für Kindererziehung vor. Seit dem 14. August 2014 bezieht die Klägerin Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe – (SGB XII) in Form von Hilfe zur Pflege, sowie seit September 2013 eine Witwenrente. Davor erhielt sie Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch- Grundsicherung für Arbeitssuchende- (SGB II), für die Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet wurden. Am 16. Dezember 2013 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und legte mehrere Befundberichte ihrer behandelnden Ärzte vor. Auf Veranlassung der Beklagten wurde sie daraufhin am 12. Juni 2014 von dem Facharzt für Neurologie Dr. med. H. untersucht. Dr. med. H. diagnostizierte eine durchgängige Hemiparese links nach zwei Schlaganfällen im Jahr 2005, eine Anpassungsstörung im Sinne einer verlängerten Trauerreaktion, Folgen tiefer Beinvenenthrombosen und eine Migräne mit Auren und stellte ein aufgrund dieser Erkrankungen aufgehobenes Leistungsvermögen fest. Dieses aufgehobene Leistungsvermögen bestehe bei retrospektiver Betrachtung bereits seit dem Jahr 2005.

Gestützt auf diese Leistungsbeurteilung lehnte die Beklagte den Rentenantrag durch Bescheid vom 4. August 2014 unter Verweis auf die fehlenden versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für den Bezug einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ab. Bei der Klägerin bestehe zwar nach den getroffenen medizinischen Feststellungen seit dem 28. Februar 2005 eine volle Erwerbsminderung im Sinne des Gesetzes, allerdings sei die gemäß § 43 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) erforderliche Wartezeit von fünf Jahren nicht erfüllt. In dem maßgeblichen 5-Jahreszeitraum vor dem Eintritt des Versicherungsfalls seien lediglich 9 Kalendermonate mit Pflichtbeiträgen belegt, so dass die für einen Rentenanspruch erforderliche Wartezeit von 60 Monaten nicht erfüllt werde.

Gegen den ablehnenden Rentenbescheid vom 4. August 2014 erhob die Klägerin am 21. August 2014 Widerspruch und machte geltend, dass die Beklagte die Kindererziehungszeiten nicht als Pflichtbeitragszeiten anerkannt habe. Insgesamt seien bis zum 30. Juni 2016 insgesamt 108 Monate an Kindererziehungszeiten anzuerkennen. Insoweit sei auch nicht verständlich, wieso die Beklagte auf den Zeitpunkt 28. Februar 2005 abstelle und nicht auf den Zeitpunkt der Antragstellung.

Mit Schreiben vom 2. Dezember 2014 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass die Klägerin nach den ärztlichen Feststellungen bereits seit Februar 2005 nicht mehr in der Lage gewesen sei, mindestens sechs Stunden täglich unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein und somit seit diesem Zeitpunkt voll erwerbsgemindert sei. Dies sei der so genannte Leistungsfall bis zu dem die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen vorliegen müssten. Dies sei aber nicht der Fall, da bis zum Februar 2005 lediglich 9 auf die Wartezeit anrechenbare Monate vorhanden seien. Nach dem Eintritt des Leistungsfalls der Erwerbsminderung zurückgelegte rentenrechtliche Zeiten würden nicht zur Erfüllung eines Anspruchs auf Rente wegen Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 2 SGB VI beitragen. Die allgemeine Wartezeit sei daher nicht erfüllt.

Gestützt auf die Ausführungen im Aufklärungsschreiben vom 2. Dezember 2014 wies die Beklagte den klägerischen Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 26. Juni 2015 als unbegründet zurück.

Die Klägerin hat daraufhin am 30. Juli 2015 Klage vor dem Sozialgericht Darmstadt erhoben und sich zur Begründung auf ihren Vortrag im Widerspruchsverfahren bezogen.

Im Rahmen eines Termins zur mündlichen Verhandlung am 22. Februar 2016 hat die Klägerin auf Nachfrage der Vorsitzenden ergänzend ausgeführt, dass sie sich seit dem Jahr 2005 überhaupt nicht mehr in der Lage fühle zu arbeiten. Nach den Schlaganfällen habe sie zunächst im Rollstuhl gesessen und ihren Körper nicht mehr beherrschen können. Sie habe auch starke Probleme mit dem Gedächtnis. Sie könne auch ihre Kinder nicht selbst betreuen. Seit 2005 habe sie Hilfe von Verwandten gehabt, die nur durch einen Aufenthalt im Frauenhaus unterbrochen gewesen wäre. In dieser Zeit (im Frauenhaus) habe sie die Kinder selbst betreut.

Die Beklagte hat mitgeteilt, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erstmals am 1. Mai 2009 erfüllt gewesen wären.

Das Sozialgericht hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts Befundberichte der Klinik für neurologische Rehabilitation vom 1. April 2005, der Klinik für Neurologie an der Johann Wolfgang Goethe- Universität Frankfurt am Main vom 28. April 2005, 21. September 2005, 12. Juli 2007, sowie der Klinik für Innere Medizin an der Johann Wolfgang Goethe- Universität Frankfurt am Main vom 20. April 2005 und 20. September 2006 eingeholt und die Krankenunterlagen der Hausärzte Dr. med. G. und Dr. med. J., sowie die Akte des Hessischen Amtes für Versorgung und Soziales beigezogen.

Im Anschluss daran hat das Sozialgericht Darmstadt von Amts wegen Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens bei dem Facharzt für Neurologie, Notfallmedizin und Intensivmedizin Dr. med. K. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 4. Mai 2017 im Anschluss an eine am vorherigen Tag erfolgte ambulante Untersuchung der Klägerin einen Zustand nach zweifachem Hirninfarkt mit linksseitiger spastischer Hemiparese, gliedkinetischer Apraxie und Wernicke- Mann´scher Gangstörung, Migräne mit Aura und eine Störung aus dem depressiven Formenkreis diagnostiziert. Er ist zu dem Ergebnis gelangt, dass das Leistungsvermögen der Klägerin sowohl in zeitlicher, als auch qualitativer Hinsicht auf unter 3 Stunden arbeitstäglich herabgemindert sei und dieser Zustand seit dem Hirninfarkt im Mai 2005 bestehe. Es sei auch äußerst unwahrscheinlich, dass diese Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden könne.

Gestützt auf diese Ermittlungen hat das Sozialgericht die Klage durch Urteil vom 7. August 2017 unter Bezugnahme auf die Gründe der angefochtenen Bescheide (§ 136 Abs. 3 SGG) abgewiesen.

Die Klägerin hat gegen das ihr am 20. September 2017 zugestellte Urteil des Sozialgerichts Darmstadt am 20. Oktober 2017 Berufung eingelegt. Sie verfolgt ihr Rentenbegehren weiter und verweist darauf, dass ihrer Ansicht nach der Leistungsfall erst nach Ablauf der allgemeinen Wartezeit eingetreten sei.

Die Klägerin beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 7. August 2017 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 4. August 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juni 2015 zu verurteilen, ihr für die Zeit ab Antragstellung (16. Dezember 2013) Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie sieht sich in ihrer Auffassung durch das erstinstanzliche Urteil bestätigt.

Auf Anfrage des Vorsitzenden haben sich die Beteiligten übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie zur Ergänzung des Sach- und Streitstands im Übrigen wird Bezug genommen auf die gewechselten Schriftsätze sowie auf den Inhalt der die Klägerin betreffenden Rentenakten der Beklagten.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte den vorliegenden Rechtsstreit gemäß § 153 Abs. 1 in Verbindung mit § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, weil die Beteiligten ihr Einverständnis hierzu erteilt haben.

Die Berufung ist zulässig. Sie ist insbesondere form- und fristgerecht eingelegt sowie statthaft (§ 151 Abs. 1 und §§ 143, 144 SGG).

Sie ist jedoch unbegründet. Das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 7. August 2017 ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. Der angefochtene Bescheid der Beklagten 4. August 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juni 2015 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Sie hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf die Gewährung einer Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung, weil die gesetzliche Wartezeit nicht erfüllt ist.

Gemäß § 43 Abs. 1 und 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze einen Anspruch auf Rente wegen teilweiser bzw. voller Erwerbsminderung, wenn sie

1. teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind,

2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und

3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Teilweise erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI demgegenüber Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 3 SGB VI auch

1. Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, und

2. Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt.

Erwerbsgemindert ist der Vorschrift des § 43 Abs. 3 SGB VI zufolge nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Die für eine Rente wegen Erwerbsminderung erforderliche allgemeine Wartezeit im Sinne des § 43 Abs. 1 und 2 Nr. 3 SGB VI ist gemäß § 50 Abs. 1 SGB VI erfüllt, wenn vor Eintritt der Erwerbsminderung eine Versicherungszeit von fünf Jahren zurückgelegt ist. Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren und seitdem ununterbrochen voll erwerbsgemindert sind, haben gemäß § 43 Abs. 6 SGB VI Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie die Wartezeit von 20 Jahren erfüllt haben.

Hiervon ausgehend hat die Klägerin keinen Anspruch auf die Gewährung einer Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung. Die Klägerin ist zwar aufgrund bestehender gesundheitlicher Einschränkungen des neurologischen Fachgebietes auf nicht absehbare Zeit außer Stande, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein und somit voll erwerbsgemindert im Sinne der genannten gesetzlichen Bestimmung. Allerdings war die für einen Rentenanspruch erforderliche Wartezeit nicht erfüllt.

Zwar hat die Klägerin zum Zeitpunkt der Beantragung der Rente im Dezember 2013 unter Berücksichtigung der von ihr zurückgelegten Beitragszeiten unstreitig die Wartezeit gemäß § 43 Abs. 1 und 2 Nr. 3 i. V. m. § 50 Abs. 1 SGB VI erfüllt. Ihr Rentenbegehren scheitert aber daran, dass der Leistungsfall der vollen Erwerbsminderung bereits zu einem Zeitpunkt eingetreten ist, in dem die für den Rentenanspruch notwendige Wartezeit noch nicht erfüllt war. Ausweislich des zwischen den Beteiligten unstreitigen Versicherungsverlaufs sind im maßgeblichen 5-Jahreszeitraum vor dem Eintritt der Erwerbsminderung nur 9 statt der gesetzlich geforderten 60 Wartemonate zurückgelegt worden. Diese waren erstmalig am 1. Mai 2009 erfüllt. Zu diesem Zeitpunkt war die Klägerin jedoch bereits voll erwerbsgemindert.

Im Vordergrund steht dabei die aufgrund der Hirninfarkte erlittene Hemiparese mit den dadurch verbundenen Einschränkungen, wie sie durch die in großer Zahl vorliegenden ärztlichen Befundberichte und Krankenhausentlassungsberichte, sowie die Gutachten der Sachverständigen Dr. med. H. vom 12 Juni 2014 und Dr. med. K. vom 4. Mai 2017 festgestellt worden sind. Danach hat die Klägerin am 11. Februar 2005 einen Hirninfarkt im Mediastromgebiet links mit Hemiparese links erlitten. Im Verlauf der stationären Behandlung kam es weiterhin zu einem Verschluss der Arteria Fermoralis und der Arteria femoralis profunda rechts. Aufgrund der zu diesem Zeitpunkt erheblich ausgeprägten Hemiparese erfolgte eine vierwöchige stationäre Rehabilitationsbehandlung in der eine deutliche Besserung der Symptomatik erreicht werden konnte. Aufgrund eines weiteren Hirninfarktes im Stromgebiet der Arteria cerebri media rechts befand sich die Klägerin bis Juni 2005 wiederum in stationärer Behandlung, im Rahmen derer eine umfangreiche Diagnostik durchgeführt wurde, die zu keinem eindeutigen Ergebnis führte. Unter dauerhafter Medikamentengabe erfolgte eine Stabilisierung des Zustandes. Die Klägerin wurde am 7. Juni 2005 arbeitsunfähig entlassen. Zu diesem Zeitpunkt wurde eine brachiofazialbetonte Hemiparese links mit Kraftgrad 2-3/5 distal und 3-4/5 proximal am linken Arm, eine ausgeprägte Feinmotorikstörung der linken Hand, eine deutliche Einschränkung der kognitiven Leistungsfähigkeit und eine Kraftminderung am linken Bein diagnostiziert. Ausgehend von diesem Krankheitsverlauf, wie er durch die Vielzahl der ärztlichen Behandlungsberichte und medizinischen Gutachten im Detail auch dokumentiert wird, steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die durch die Hirninfarkte verursachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen das Leistungsvermögen der Klägerin spätestens seit April 2005 nicht nur in qualitativer Hinsicht eingeschränkt, sondern es auch quantitativ - d. h. in zeitlicher Hinsicht - in rentenmaßgeblichem Umfang herabgemindert haben. Hingegen ist ein erst "mit Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen" im Jahr 2013 eingetretener Leistungsfall der vollen Erwerbsminderung - wie von der Klägerin angenommen wird - anhand der vorliegenden medizinischen Unterlagen nicht begründbar, da die Ärzte teilweise sogar von einer leichten Verbesserung der Beschwerden berichtet haben.

Die die Erwerbsminderung begründenden Beschwerden sind allesamt auf die beiden erlittenen Hirninfarkte zurückzuführen und sind seit April 2005 im Wesentlichen unverändert geblieben. Die Klägerin ist daher bereits seit April 2005 auf nicht absehbare Zeit außerstande gewesen, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Eine Erwerbsminderung auf "nicht absehbare Zeit" im Sinne des § 43 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 2 SGB VI liegt vor, wenn eine rentenrelevante Leistungseinschränkung über einen Zeitraum von mehr als 6 Monaten besteht. Dies folgt im Rückschluss aus der Regelung des § 101 Abs. 1 SGB VI, wonach befristete Renten wegen voller Erwerbsminderung nicht vor dem Beginn des 7. Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu leisten sind. Bei einer weniger als 6 Monate andauernden Leistungseinschränkung handelt es sich hingegen um ein vorübergehendes Leistungshindernis im Sinne eines Behandlungsleidens ohne erwerbsmindernden Dauereinfluss, dessen Absicherung in den Risikobereich der Gesetzlichen Krankenversicherung fällt. Insoweit dient die Regelung des § 43 Abs. 1 und 2 Satz 2 i.V.m. § 101 SGB VI nach der gesetzgeberischen Intention der Risikoverteilung zwischen der Gesetzlichen Krankenversicherung und der Gesetzlichen Rentenversicherung (BT-Drucks. 11/4124, S. 176). Das gesundheitsbedingte Unvermögen, eine Erwerbstätigkeit auf nicht absehbare Zeit ausüben zu können, ist ein objektives Merkmal der Erwerbsminderung und somit Voraussetzung für den Rentenanspruch (BSG, Urteil vom 23. März 1977 - 4 RJ 49/76 – juris). Bei der Beurteilung, ob eine Leistungsminderung auf nicht absehbare Zeit vorliegt, ist eine rückschauende, d. h. retrospektive Betrachtungsweise zum Zeitpunkt der Entscheidung der Beklagten über den Rentenantrag bzw. zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung geboten (BSG, Urteil vom 23. März 1977 - 4 RJ 49/76 – juris). Dem steht nicht entgegen, dass vor dem Ablauf von 6 Monaten möglicherweise noch nicht feststeht, ob ein Leistungshindernis nur vorübergehend oder auf Dauer besteht. Insofern kann die Sache während der ersten 6 Monate einer Leistungsminderung ggf. noch nicht entscheidungsreif sein. Wird aber retrospektiv festgestellt, dass die Leistungsminderung bzw. Leistungsunfähigkeit tatsächlich länger als 6 Monate angedauert hat, so ist der Leistungsfall der Erwerbsminderung ab dem Beginn der Leistungsminderung bzw. Leistungsunfähigkeit eingetreten, unabhängig davon, ob seinerzeit Aussicht auf Behebung der Leistungsminderung bestanden hat (BSG, Urteil vom 23. März 1977 - 4 RJ 49/76 – juris). Die prognostisch zu beurteilende Aussicht auf Behebung der Erwerbsminderung hat dabei lediglich Auswirkungen für die Dauer der Rentengewährung (§ 102 Abs. 2 SGB VI), nicht aber für den Eintritt des Leistungsfalls der Erwerbsminderung (BSG a.a.O.). Von diesem Maßstab ausgehend hat die Beklagte vorliegend zu Recht einen spätestens im April 2005 eingetretenen Leistungsfall der vollen Erwerbsminderung angenommen. Seit diesem Zeitpunkt ist das Leistungsvermögen der Klägerin infolge ihrer neurologischen Ausfallerscheinungen sowohl in qualitativer, als auch quantitativer in rentenmaßgeblichem Umfang dauerhaft eingeschränkt. Denn die Klägerin ist aufgrund der schweren Funktionseinschränkung der linken Körperseite mit neurologischen Ausfallerscheinungen auf Dauer nicht mehr in der Lage, Tätigkeiten im zeitlichen Umfang von mehr als 3 Stunden arbeitstäglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zu verrichten. Eine durchgreifende Befundbesserung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats ist nicht nachgewiesen. Der Sachverständige Dr. med. K. hat am 4. Mai 2017 eine distal betonte spastische Hemiparese mit dystoner Fehlstellung der linken Hand im Sinne eines massiven Überwiegens der Hand – und Fingerbeuger festgestellt. Die Fußinversion und –adduktion links war ebenfalls dyston mit einer beginnenden Kontraktur, was zu einem Wernicke- Mann´schen Gangbild führte und den Gang insgesamt unsicher und langsam erscheinen ließ. Dieser Befund deckt sich mit den Vorbefunden aus den behandelnden Kliniken und auch mit der Untersuchung durch Dr. med. H. Der Gesundheitszustand der Klägerin hat sich damit nicht wesentlich verändert, sondern ist nahezu gleich geblieben. In den Verlaufsberichten der Neurologischen Klinik der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Mai ist seit April 2005 eine durchgehend bestehende Hemiparese mit Kribbelparästhesien und Feinmotorikstörungen der linken Hand befundet worden. In sämtlichen Verlaufskontrollen wurden gesteigerte Muskeleigenreflexe der linken Seite und eine distal betonte KG 4 Parese der linken Seite mit spastischer Tonuserhöhung festgestellt, so dass von den Ärzten ein stabiler neurologischer Verlauf beschrieben wurde. Im Jahr 2007 wurde darüber hinaus von erheblichen psychosozialen Problemen berichtet. Auch in den Befundberichten des Reha- Zentrums Bad Orb vom 4. April 2007 und 27. Juni 2005 ist beschrieben, dass eine arm- und distal betonte Hemiparese links vom Kraftgrad 2-3-4/5 im Vordergrund stand und es der Klägerin schwer fiel, den Arm überhaupt zu heben, bzw. mit der linken Hand etwas zu greifen. Die Koordination zeigte sich gestört und das Gangbild wurde jeweils als unsicher beschrieben, zumal aufgrund eines Beckenhochstandes rechts und einer schlechten Rumpfhaltung eine massive Sturzgefährdung vorlag. Neben den körperlichen Einschränkungen wurden auch Störungen in den Bereichen Aufmerksamkeit, Exekutivfunktionen und Gedächtnis festgestellt, was insgesamt dazu führte, dass die Klägerin seinerzeit im arbeitsunfähigen Zustand in die ambulante Behandlung entlassen, gleichzeitig aber auch schon ein Antrag auf Schwerbehinderung gestellt wurde. Dieses Beschwerdebild hat sich auch im weiteren Verlauf nicht wesentlich verändert. Der in die ambulante Behandlung der Klägerin eingebundene Neurologe Dr. med. L. hat am 3. September 2005 und am 8. März 2006 berichtet, dass die ambulante Kranken- und Ergotherapie bislang keinen Erfolg gebracht hat und es seit Februar 2006 sogar zu einer Zunahme der Parästhesien der linken Körperhälfte gekommen ist. Beim Gang zeigte sich eine Circumduktion links und reduzierte Mitbewegungen des linken Armes bei bestehender Hemiparese links. Weiterhin beschrieb er eine Fußrandheberparese links und ein Absinken im Armhalteversuch links. Zusätzlich hat Dr. med. L. am 28. September 2005 eine depressive Verstimmung mit Schlaf- und Appetitstörung, Ängstlichkeit und eine reduzierte Schwingungsfähigkeit diagnostiziert, die seiner Ansicht nach auch behandlungsbedürftig war. Auch der Hausarzt der Klägerin Dr. med. J. hat im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens bezüglich der Feststellung eines Grades der Behinderung wiederkehrend bescheinigt, dass die Klägerin seit ihren Schlaganfällen dauerhaft unter einer erheblichen Gehbehinderung leidet und nur ganz kleine Strecken mit Hilfe einer Stütze gehen kann. Darüber hinaus bestätigte er die bereits während der stationären Aufenthalte der Klägerin im Universitätsklinikum Frankfurt am Main und des Reha- Zentrums Bad Orb beschriebenen neurologischen Ausfallerscheinungen. Trotz intensiver therapeutischer Bemühungen konnte keine durchgreifende Befundverbesserung erzielt werden. Dies hat die Klägerin anlässlich der mündlichen Verhandlung am 22. Februar 2016 vor dem Sozialgericht Darmstadt auch selbst bestätigt und ausgeführt, dass sie sich seit 2005 nicht mehr in der Lage gefühlt habe, wieder zu arbeiten. Weiterhin schilderte sie auch, dass sie die Betreuung ihrer Kinder nicht allein wahrnehmen konnte und sie seit 2005 stets Hilfe von Verwandten und Bekannten, sowie eine vom Sozialamt bezahlte Haushaltshilfe hatte.

Nach dem aktenkundigen ärztlichen Berichtswesen und der eigenen Einschätzung der Klägerin, die sich mit den ärztlichen Feststellungen deckt, ist davon auszugehen, dass die Klägerin seit Abschluss der Rehabilitationsmaßnahme dauerhaft arbeitsunfähig war und dass die Beeinträchtigungen, welche die Annahme eines unter dreistündigen Leistungsvermögens gerechtfertigt haben, unverändert weiter bestanden haben. Den anamnestischen Angaben des Betroffenen kommt im Rahmen der sozialmedizinischen Bewertung der Leistungsfähigkeit ein nicht ganz unbedeuteter Stellenwert zu. Soweit sich die subjektiven Angaben mit den ärztlichen Feststellung decken, spricht insoweit nichts dagegen, diese ebenfalls als Grundlage der Leistungsbewertung einzubeziehen.

Bei der im Rahmen der Beurteilung des Leistungsfalls gebotenen retrospektiven Betrachtung des Krankheitsverlaufs zum Zeitpunkt der Entscheidung der Beklagten über den maßgeblichen Rentenantrag hat somit seit April 2005 eine anhaltende Arbeitsunfähigkeit bestanden, die in eine dauerhafte Leistungsminderung übergegangen ist. Dies entspricht auch der Leistungsbeurteilung der beauftragten Sachverständigen Dr. med. K. und Dr. med. H.

Soweit die Klägerin nunmehr der Auffassung ist, ihre Leistungsfähigkeit sei erst im Jahr 2013 dauerhaft aufgehoben gewesen, so findet sich für diese Annahme keine objektivierbare Stütze. Diese subjektive Einschätzung steht im offensichtlichen Widerspruch zu den aktenkundigen Behandlungsberichten sowie den gutachterlichen Ausführungen und ist wohl eher vor dem Hintergrund ihres Rentenbegehrens zu sehen.

Daher ist der Leistungsfall aufgrund der im Einzelnen dargelegten Erwägungen im April 2005 und somit zu einem Zeitpunkt eingetreten, in dem die Wartezeit für den Bezug einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit noch nicht erfüllt war. Ist die Erwerbsminderung aber vor der Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen eingetreten, besteht grundsätzlich kein Anspruch auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (Gabke in juris-PK SGB VI, § 43 RdNr. 45; Senatsurteil vom 25. März 2011 – L 5 R 203/09; LSG Baden-Württemberg vom 23. August 2011 – L 13 R 5780/09).

Für eine (rechtlich) relevante Besserung des Leistungsvermögens mit nachfolgendem erneuten Leistungsfall bestehen nach den aktenkundigen ärztlichen Berichten und der eingeholten Gutachten ebenfalls keine Anhaltspunkte. Ausgehend von den aktenkundigen Behandlungsbefunden bestand durchgehend seit April 2005 ein aufgehobenes Leistungsvermögen.

Der Senat hält den Sachverhalt angesichts des in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkts des Leistungsfalls, der eindeutigen Befundlage und der lückenlos dokumentierten Krankheitsgeschichte sowie der von Dr. med. K. im Gutachten vom 4. Mai 2017 eindeutig getroffenen medizinischen Feststellungen keine Veranlassung für weitere Ermittlungen von Amts wegen. Neue und bislang unberücksichtigt gebliebene medizinische Gesichtspunkte, die den geltend gemachten Anspruch stützen könnten, sind von der Klägerin im Berufungsverfahren nicht vorgetragen worden, so dass sich der Senat nicht zu weiteren Ermittlungen von Amts wegen gedrängt fühlen musste.

Nach alledem steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Leistungsfall der vollen Erwerbsminderung vorliegend bei der gebotenen retrospektiven Betrachtungsweise bereits zu einem Zeitpunkt eingetreten ist, in dem die für den Rentenanspruch erforderliche Wartezeit nicht erfüllt war. Denn in dem maßgeblichen Zeitraum vom März 2000 bis April 2005 sind in dem von der Beklagten vorgelegten Versicherungsverlauf nur 9 Monate mit Pflichtbeitragszeiten belegt. Erst bei Annahme eines nach dem 1. Mai 2009 eingetretenen Leistungsfalls wäre die Wartezeit erfüllt. Zu diesem Zeitpunkt war die Klägerin jedoch – wie bereits ausgeführt – bereits voll erwerbsgemindert. Die nach dem Eintritt eines Leistungsfalls zurückgelegten Pflichtbeitragszeiten sind ohne Bedeutung, so dass die nach April 2005 von der Klägerin erworbenen Pflichtbeiträge ohne Relevanz für den geltend gemachten Rentenanspruch sind.

Der Nachweis weitergehender, im Versicherungsverlauf nicht dokumentierter Anrechnungszeiten ist nicht ersichtlich. Eine vorzeitige Erfüllung der Wartezeit nach § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI liegt ebenfalls nicht vor, da die Minderung der Erwerbsfähigkeit vorliegend nicht infolge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit eingetreten ist und auch sonst keine der in § 53 Abs. 1 S. 1 SGB VI genannten Fallkonstellationen vorliegen.

Im Ergebnis hat dies zur Folge, dass die von der Klägerin in der Zeit ab April 2005 zu berücksichtigenden Anrechnungszeiten nicht auf die allgemeine Wartezeit von 60 Kalendermonaten angerechnet werden können. Einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung kann sie deshalb allenfalls nach Maßgabe des § 43 Abs. 6 SGB VI erwerben. Die insoweit erforderliche Wartezeit von 20 Jahren ist ebenfalls nicht erfüllt.

Die Berufung der Klägerin konnte daher im Ergebnis unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt zum Erfolg führen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
Aus
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