S 26 SO 71/14

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Wiesbaden (HES)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
26
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 26 SO 71/14
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 SO 304/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 8 SO 87/18 B
Datum
Kategorie
Urteil
1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger weiterhin Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII hat, oder ob für ihn das Leistungssystem des SGB II anwendbar ist.

1. Der Kläger wurde 1967 geboren. Er hat nach dem Besuch der Hauptschule keine Ausbildung abgeschlossen und mit Unterbrechungen durch Zeiten der Arbeitslosigkeit zuletzt 1994 versicherungspflichtig gearbeitet.

Der Kläger bezog zunächst Leistungen nach dem SGB II. Zum August 2006 stellte die damalige "Arbeitsgemeinschaft Limburg-Weilburg" diese Leistungen mit der Begründung ein, dass nach Einschätzung des ärztlichen Dienstes der Agentur für Arbeit wegen einer schweren Lungenerkrankung (Asthma bronchiale) die Erwerbsfähigkeit dauerhaft weggefallen sei.

Ab August 2006 gewährte der Beklagte dem Kläger Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel SGB XII. Im September 2013 ersuchte der Beklagte die Deutsche Rentenversicherung nach § 45 SGB XII, zu prüfen, ob weiterhin eine Erwerbsminderung bestehe. Ende Februar 2014 teilte die Deutsche Rentenversicherung mit, nach dem Ergebnis ihrer ärztlichen Untersuchung sei der Kläger nicht dauerhaft voll erwerbsgemindert, sondern könne unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig sein.

Mit angegriffenem Bescheid vom 6. März 2014 und Widerspruchsbescheid vom 4. April 2014 hob der Beklagte seinen vorangegangenen Bewilligungsbescheid gem. § 48 SGB X auf und stellte die Leistungen nach dem 4. Kapitel SGB XII ab April 2014 ein, weil keine dauerhafte volle Erwerbsminderung vorliege.

2. Dagegen hat der Kläger am 23. April 2014 Klage zum Sozialgericht Wiesbaden erhoben.

a. Das Gericht hat die Akte der Deutschen Rentenversicherung beigezogen. Darin befindet sich u.a. das dort eingeholte ärztliche Gutachten, das die Fachärztin für Neurologie und Sozialmedizin C. am 12. Februar 2014 erstellte, nachdem sie den Kläger am 10. Februar 2014 untersucht hatte. Die Ärztin nimmt an, dass die Erwerbsfähigkeit des Klägers wegen einer Lungenerkrankung qualitativ eingeschränkt sei, er aber trotzdem vollschichtig leichte Tätigkeiten ausüben könne. Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 129-138 der Gerichtsakte verwiesen.

Das Gericht hat weiter Befundberichte eingeholt. Der behandelnde Internist und Lungenfacharzt D., D-Stadt, hat eine COPD mit Emphysem und Diabetes Mellitus bescheinigt. Die Hausärztin Dr. E., A-Stadt, hat gegenüber dem Gericht angegeben, der Kläger leide zudem an einer chronische Gastritis, im Verwaltungsverfahren hatte sie außerdem ein Hautekzem und wiederkehrende depressive Episoden attestiert.

Das Gericht hat außerdem ein medizinisches Gutachten bei Dr. F., Facharzt für Allgemeinmedizin, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin, F-Stadt, eingeholt. Der Sachverständige hat den Kläger am 8. Dezember 2014 untersucht und sein Gutachten am 5. Januar 2015 vorgelegt. Der Sachverständige stellt fest, dass das Leistungsvermögen qualitativ eingeschränkt sei, der Kläger könne nur noch leichte Arbeiten in geschlossenen Räumen ohne Luftbelastungen und ohne Kontakt zu hautreizenden Stoffen sowie ohne Wechsel- und Nachtschichten ausüben. Für leidensgerechte Tätigkeiten bestehe ein täglich 6-stündiges Leistungsvermögen. Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 71-103 der Gerichtsakte verwiesen.

Das Gericht hat das jobcenter Limburg-Weilburg beigeladen.

b. Der Kläger trägt vor, sein Gesundheitszustand habe sich seit der ersten Feststellung seiner dauerhaften Erwerbsunfähigkeit durch den medizinischen Dienst der Arbeitsagentur im Juli 2006 verschlechtert, nicht verbessert. Dazu legt er ein Attest seiner Hausärztin vor, die meint, der Kläger könne nicht mehr als 3 Stunden täglich arbeiten. Außerdem habe er, weil er weder eine Berufsausbildung noch einen Führerschein habe, keine Aussicht, einen Arbeitsplatz im Landkreis Limburg-Weilburg zu finden.

Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 6. März 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. April 2014 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm über den 30. März 2014 hinaus Leistungen der Grundsicherung wegen dauerhaft vorliegender voller Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel SGB XII in gesetzlichem Umfang zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Er verweist auf die Gutachten, die von der Deutschen Rentenversicherung und im Gerichtsverfahren erstellt wurden. Auf die Arbeitsmarktsituation im Landkreis Limburg komme es nicht an.

Der Beigeladene beantragt,
die Klage zurückzuweisen.

Er schließe sich den Ausführungen des Beklagten an.

Die Akte der Beklagten lag dem Gericht vor. Wegen der Einzelheiten wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig. Sie ist insbesondere als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage statthaft, § 54 Abs. 1, Abs. 4 SGG.

Die Klage ist aber nicht begründet. Der Kläger ist durch die angegriffenen Bescheide nicht in seinen Rechten verletzt. Er hat keinen Anspruch auf Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII.

a. Gemäß §§ 19 Abs. 2, 41 Abs. 3 SGB XII setzt die vom Kläger begehrte Grundsicherung bei Erwerbsminderung (neben anderen, hier nicht streitigen Voraussetzungen) voraus, dass die leistungsberechtigte Person unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage voll erwerbsgemindert ist; weiter muss unwahrscheinlich sein, dass diese volle Erwerbsminderung behoben werden kann. Zur Bestimmung des Tatbestandsmerkmals der vollen Erwerbsminderung verweist § 41 Abs. 3 SGB XII auf das Recht der gesetzlichen Rentenversicherung, konkret auf § 43 Abs. 2 SGB VI. Nach dieser Vorschrift sind Personen voll erwerbsgemindert, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Im Rahmen des Verwaltungsverfahrens obliegt die Feststellung der dauerhaften vollen Erwerbsminderung gemäß § 45 Abs. 1 SGB XII auch dann, wenn es um die Abgrenzung zwischen der Sozialhilfe nach dem SGB XII und der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II geht, allein dem zuständigen Rentenversicherungsträger. Dessen Entscheidung bindet den Sozialhilfeträger nach § 45 Abs. 1 Satz 2 SGB XII. Diese Bindungswirkung erstreckt sich allerdings nicht auf das Gerichtsverfahren, die Gerichte stellen das Erwerbsvermögen in vollem Umfang selbst fest (vgl. BSG, Urt. v. 12. Juni 1992 - 11 RAr 35/91 -, juris, Rn. 28; Blüggel, in: jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 45, Rn. 41, 53).

b. Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger erwerbsfähig ist und keine Erwerbsminderung besteht.

Das Gericht stützt sich dabei auf die ärztlichen Befundberichte und auf die inhaltlich nachvollziehbaren und im Ergebnis übereinstimmenden Gutachten von Frau C. vom 12. Februar 2014 aus dem Prüfungsverfahren der Deutschen Rentenversicherung Hessen und von Dr. F. vom 5. Januar 2015 aus dem Gerichtsverfahren. Danach liegen beim Kläger mehrere Erkrankungen vor: Er leidet an einer chronischen obstruktiven Lungenerkrankung mit Emphysem, an einer Blutzuckererkrankung, Bluthochdruck, einem Hautekzem, einem Bauchdeckenbruch und Magenbeschwerden. Dagegen hält das Gericht die von der Hausärztin angegebene depressive Störung nicht für nachgewiesen. Denn insoweit fehlt es an einer fachärztlichen Diagnose, auch eine ärztliche oder psychotherapeutische Behandlung findet nicht statt. Beide Gutachten befassen sich mit der psychischen Situation des Klägers, stellen aber keine depressive Störung mit Krankheitswert fest. Die nachgewiesenen Erkrankungen führen auch zu Funktionseinbußen. Die Lungenerkrankung schränkt die körperliche Belastbarkeit generell ein und führt dazu, dass der Kläger Witterungseinflüsse, starke Temperaturschwankungen und Luftbelastungen vermeiden muss. Wegen der Blutzuckererkrankung ist der Kläger auf einen regelmäßigen Tagesablauf angewiesen. Die Hauterkrankung führt dazu, dass er sich weder starken Luftbelastungen noch hautreizenden Stoffe aussetzen sollte. Diese Funktionseinbußen führen zu qualitativen Einschränkungen des Leistungsvermögens. Der Kläger kann nur noch körperlich leichte Tätigkeiten in überwiegend sitzender Haltung und in Tagschicht ausüben, er muss sich dabei in geschlossenen Räumen aufhalten, in denen er keinen lungen- oder hautreizenden Stoffen ausgesetzt ist. Eine quantitative Einschränkung des Leistungsvermögens auf unter 3 Stunden folgt aus den Erkrankungen aber nicht.

Auf die tatsächlichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt kommt es nach der ausdrücklichen Formulierung des § 43 Abs. 3 SGB VI nicht an. Daher sind weder die – nach Vortrag des Klägers – angespannte Arbeitsmarktlage in D-Stadt noch der Umstand, dass der Kläger über keinen Führerschein und keine abgeschlossene Berufsausbildung verfügt und vor mehr als 20 Jahren zuletzt berufstätig war, hier beachtlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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