Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 8 KR 2358/02
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 KR 3151/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Leistungen des Arbeitsamtes sind bei der Berechnung der Befreiung von Zuzahlungen Krankenversicherungsrecht nach der bis 31.12.2002 geltenden Rechtslage nicht auf einen fiktiven Bruttobetrag hochzurechnen.
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts K. vom 24. Juli 2003 abgeändert: Die Beklagte hatte den Kläger nur bis 31.12.2003 von der Zuzahlung bei Fahrtkosten, Arznei- Verband- und Heilmitteln, Hilfsmitteln und stationären Vorsorge- und Rehabilitationsleistungen zu befreien. Die weitergehende Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig ist die Befreiung des Klägers von der Zuzahlung zu den in § 61 Abs. 1 Sozialgesetzbuch 5. Buch (SGB V) in der bis 31.12.2003 gültigen Fassung genannten Kosten.
Der am 23.12.1967 geborene und bei der Beklagten pflichtversicherte Kläger bezog vom Arbeitsamt K. ab 05.07.2002 Arbeitslosengeld in Höhe von 171,64 EUR wöchentlich. Ab 01.10.2002 bis voraussichtlich 13.07.2004 wurde ihm Unterhaltsgeld zunächst in gleicher Höhe und ab 01.01.2003 in Höhe von 170,59 EUR wöchentlich bewilligt.
Den Antrag des Klägers vom 25.07.2002 auf volle Kostenübernahme bei Fahrkosten, Arznei-, Verband- und Heilmitteln sowie bei Hilfsmitteln und Kuren nach § 61 SGB V lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 29.07.2002 ab, da die maßgebenden Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt die gesetzlichen Bruttoeinkommensgrenzen überschreiten würden. Erläuternd teilte die Beklagte dem Kläger auf dessen Rückfrage mit, nach dem Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 12.03.1999 -S 4 K 142/98- seien alle gesetzlichen Krankenkassen dazu verpflichtet, bei Beziehern von Sozialleistungen nicht den Auszahlungsbetrag, sondern ein fiktives Bruttoentgelt zu berücksichtigen.
Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 04.11.2002 zurück: Damit der Kläger von der Sozialklausel berücksichtigt und von den Zuzahlungen befreit werden könne, dürften seine Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt im Jahr 2002 monatlich einen Betrag von 938,00 EUR nicht übersteigen. Bei Sozialleistungen sei der Leistungsbetrag vor Abzug gegebenenfalls daraus zu entrichtender Beiträge zu berücksichtigen (z.B. Arbeitslosengeld in Höhe des fiktiv errechneten Bruttobetrages). Die Berechnung des fiktiven Bruttolohnes solle bei Beziehern von Arbeitslosengeld einen Vergleich zu einem Arbeitnehmer herstellen, da die Bemessungsgrundlage der Sozialleistung bei der Beurteilung des Härtefalles nicht heranzuziehen sei, weil diese keine Einnahme des Versicherten darstelle, sondern lediglich der Berechnung dieser Leistung diene. Ausgehend von dem wöchentlichen Leistungssatz des Klägers von 171,64 EUR errechne sich ein fiktives "Brutto-Arbeitsentgelt" von 958,95 EUR, welches den maßgebenden Grenzbetrag von 938,00 EUR (40 % der monatlichen Bezugsgröße 2002) überschreite.
Deswegen erhob der Kläger Klage zum Sozialgericht K. (SG) mit der Begründung, es entspreche anerkannter Rechtsprechung sowohl zu § 61 Abs. 1 SGB V als auch zu den früheren §§ 182a, 182c, 184a bzw. 180 RVO, dass das Arbeitslosengeld in Höhe des auszuzahlenden Betrages und nicht etwa hochgerechnet bei der Prüfung zu Grunde zu legen sei, ob eine unzumutbare Belastung im Sinne von § 61Abs. 2 Nr. 1 SGB V vorliege oder nicht. Das Bundessozialgericht sei in seinem Urteil vom 09.06.1998 -B 1 KR 22/96 R- nicht nur beiläufig, sondern selbstverständlich davon ausgegangen, dass die bezogenen Auszahlungsbeträge an Arbeitslosengeld (nicht das hochgerechnete Bemessungsentgelt) bei der einschlägigen Prüfung der Unzumutbarkeit zugrundegelegt worden sei.
Die Beklagte trat der Klage entgegen: Bei dem wöchentlichen Auszahlbetrag des Klägers handele es sich um einen "Nettobezug". Der sich daraus ergebende monatliche Auszahlbetrag könne deshalb bei der Berechnung der Bruttoeinnahmen nach § 61 Abs. 2 Nr. 1 SGB V nicht in Ansatz gebracht werden. Vielmehr sei dieser Auszahlbetrag im Rahmen der Gleichbehandlung zu einem "Bruttolohnbezieher" mit identischem Nettoeinkommen auf ein "fiktives Bruttoeinkommen" hochzurechnen.
Mit Urteil vom 24.07.2003, der Beklagten zugestellt am 31.07.2003, hob das SG den Bescheid vom 29.07.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 04.11.2002 auf und verurteilte die Beklagte, den Kläger von der Zuzahlung bei Fahrtkosten, Arznei-, Verband- und Heilmitteln, Hilfsmitteln und stationären Vorsorge- und Rehabilitationsleistungen zu befreien. In den Entscheidungsgründen führte das SG im Wesentlichen aus, für die Hochrechnung des Leistungsbetrages des Arbeitsamtes auf einen fiktiven Bruttobetrag fehle es an einer gesetzlichen Grundlage. § 14 Abs. 2 SGB IV könne weder unmittelbar noch analog im Rahmen des § 61 Abs. 2 Nr. 1 SGB V angewandt werden (Hinweis auf die Entscheidungen des LSG Nordrhein-Westfalen vom 06.02.2001 -L 5 KR 50/00- und des LSG Rheinland-Pfalz vom 07.02.2002 - L 5 KR 63/01-).
Hiergegen richtet sich die am 11.08.2003 eingelegte Berufung der Beklagten. Zur Begründung verweist sie auf ihren Sachvortrag in erster Instanz und trägt ergänzend vor, aus § 166 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI werde deutlich, dass der Zahlbetrag des Arbeitslosengeldes keine Bruttoeinnahmen darstelle, da nicht hieraus die abzuführenden Beiträge berechnet würden, sondern aus 80 % des der Leistung zugrundeliegenden (ehemaligen) Arbeitsentgelts bzw. Arbeitseinkommen. Da für die Prüfung nach § 61 SGB V die Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt zu berücksichtigen seien, der Zahlbetrag des Arbeitslosengeldes des Arbeitsamtes K. keine Brutto- sondern eine Nettoeinnahme darstelle, bestehe keine andere Möglichkeit, als einen "fiktiven Bruttobetrag" durch die erfolgte Netto-Bruttoberechnung zu ermitteln und diesen bei der Beurteilung zu Grunde zu legen. Die Berechnung gemäß EDV- Lohnberechnungsprogramm auf der Basis eines monatlichen Leistungsbetrages von 735,60 EUR ergebe ein fiktives "Brutto-Arbeitentgelt" in Höhe von 945,24 EUR, so dass der Grenzwert ebenfalls überschritten werde. Unter Zugrundelegung des Unterhaltsgeldes von 170,59 EUR ab 01.01.2003 betrage das fiktive Bruttoarbeitentgelt 941,04 EUR.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts K. vom 24. Juli 2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger erachtet das angefochtene Urteil für zutreffend. Er hat die Bewilligungsbescheide des Arbeitsamtes K. vom 19.07. und 22.11.2002 sowie den Änderungsbescheid vom 17.01.2003 vorgelegt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die erst- und zweitinstanzlichen Gerichtsakten sowie die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die nach den §§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig und insbesondere nach § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG statthaft, da der Kläger eine zeitlich unbeschränkte Befreiung von Zuzahlungen während der Zeit der Arbeitslosigkeit begehrte und angesichts des bis Juli 2004 bewilligten Unterhaltsgeldes und der Ungewissheit der anschließenden finanziellen Situation des Klägers zum Zeitpunkt der Berufungseinlegung noch wiederkehrende Leistungen von mehr als einem Jahr im Streit waren (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG). Die Berufung der Beklagten erweist sich aber lediglich als begründet, soweit sie -unbegrenzt- verurteilt wurde, den Kläger auch ab 01.01.2004 von Zuzahlungen zu befreien. Im Übrigen ist die Berufung nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 29.07.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.11.2002 war unter Geltung der bis 31.12.2003 maßgebenden Vorschriften rechtswidrig und verletzte den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger konnte von der Beklagten die Befreiung von Zuzahlungen bis 31.12.2003 verlangen.
Rechtsgrundlage hierfür war § 61 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 SGB V. Die darin genannten Voraussetzungen sind im Urteil des SG zutreffend zitiert; zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat hierauf Bezug.
Die monatliche Belastungsgrenze nach § 18 SGB IV belief sich für den Kläger im Jahr 2002 auf 938 EUR (40 % von 2.344 EUR) und im Jahr 2003 auf 952 EUR (40 % 2.380 EUR).
Das Einkommen des Klägers bestand im Jahr 2002 aus Arbeitslosengeld bzw. ab 01.10.2002 aus Unterhaltsgeld in Höhe von 735,60 EUR (täglicher Zahlbetrag 24,52 EUR x 30 -§ 339 SGB III-) und im Jahr 2003 aus Unterhaltsgeld in Höhe von 731,10 EUR (täglicher Zahlbetrag 24,37 EUR x 30). Sowohl das Arbeitslosengeld als auch das Unterhaltsgeld lagen mithin unterhalb der maßgeblichen Grenzen.
Was den Zeitraum vom 01.01.2003 bis 31.12.2003 angeht, hatte der Kläger auch bei Zugrundelegung der Rechtsauffassung der Beklagten Anspruch auf Befreiung von Zuzahlungen; denn nach den Berechnungen der Beklagten betrug bei dem wöchentlichen Zahlbetrag des Unterhaltsgeldes von 170,59 EUR ab 01.01.2003 das fiktive Bruttoarbeitsentgelt 941,04 EUR. Es überstieg damit die oben aufgeführte monatliche Belastungsgrenze von 952 EUR im Jahr 2003 nicht.
Die Streitfrage betrifft vorliegend daher nur den Zeitraum bis 31.12.2002. Entgegen der Auffassung der Beklagten können die Leistungen des Arbeitsamtes nicht auf einen fiktiven Bruttobetrag hochgerechnet werden. Der Beklagten ist zwar zuzugeben, dass Lohnersatzleistungen in aller Regel in Höhe oder in einer Teilhöhe des zuletzt erzielten Nettoarbeitsentgelts gezahlt werden (vgl. zum Arbeitslosengeld § 129 SGB III und zum Unterhaltsgeld § 157 Abs. 1 SGB III), für die von der Beklagten praktizierte Vorgehensweise fehlt es jedoch an einer gesetzlichen Grundlage. Dass das Gesetz in § 61 Abs. 2 Nr. 1 SGB V von Bruttoeinnahmen spricht, gibt -worauf das SG zutreffend hingewiesen hat- keine Ermächtigung dafür, Einnahmen, bei denen kein Abzug an Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen erfolgt, fiktiv um entsprechende Zuschläge zu erhöhen und ein so ermitteltes fiktives Bruttoeinkommen als Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt zu Grunde zu legen. § 14 Abs. 2 SGB IV kann hierzu auch nach Auffassung des erkennenden Senats weder unmittelbar noch analog herangezogen werden (in gleichem Sinne Urteile des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 06.02.2001 -L 5 KR 50/00- und des LSG Rheinland-Pfalz vom 07.02.2002 -L 5 KR 63/01-). § 14 Abs. 2 SGB IV regelt nach seinem klaren Wortlaut die Höhe des Arbeitsentgelts ausschließlich für den Fall, dass zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber ein Nettoarbeitsentgelt vereinbart worden ist. Nur dann sind dem Nettoarbeitsentgelt die hierauf entfallenden Steuern sowie der vom Beschäftigten zu tragende gesetzliche Anteil der Beiträge zur Sozialversicherung und Arbeitsförderung hinzuzurechnen. Der Kläger hat aber nicht mit einem Arbeitgeber ein Arbeitsentgelt vereinbart, sondern hat vielmehr Sozialleistungen des Arbeitsamtes erhalten. Im Gegensatz zu dem in § 14 Abs. 2 SGB IV geregelten Fall wird das vom Kläger bezogene Arbeitslosengeld und Unterhaltsgeld aufgrund gesetzlicher Regelungen -der Vorschriften des SGB III- berechnet und gewährt. Der Kläger stand nicht in einem Beschäftigungsverhältnis und erhielt kein Arbeitsentgelt. Es liegt auch keine Gesetzeslücke vor, die durch eine entsprechende Anwendung des § 14 Abs. 2 SGB IV ausgefüllt werden könnte. Nach der Rechtssprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist der Richter zur Ausfüllung einer Gesetzeslücke dort berufen, wo das Gesetz mit Absicht schweigt, weil es der Rechtssprechung überlassen wollte, das Recht zu finden, oder das Schweigen des Gesetzgebers auf einem Versehen oder darauf beruht, dass sich der nicht geregelte Tatbestand erst nach Erlass des Gesetzes durch eine Veränderung der Lebensverhältnisse ergeben hat (vgl. BSG Urteil vom 23.11.1995 -1 RK 11/95-). Die analoge Anwendung des Gesetzes auf gesetzlich nicht umfasste Sachverhalte ist dann geboten, wenn auch der nicht geregelte Fall nach der Regelungsabsicht des Gesetzgebers wegen der Gleichheit der zugrundeliegenden Interessenlage hätte einbezogen werden müssen. Denn dieses Gebot beruht letztlich auf der Forderung normativer Gerechtigkeit, gleichartiges gleich zu behandeln (BSGE 60, 176, 178). Abgesehen davon, dass der Bezug von Lohnersatzleistungen wie das Arbeitslosengeld und Unterhaltsgeld, bei dem Brutto- gleich Nettobetrag ist, nicht vergleichbar mit der Zahlung von Arbeitsentgelt aufgrund einer Nettolohnvereinbarung ist, wollte der Gesetzgeber durch die Heranziehung der Bruttoeinnahmen der Versicherten eine rasche und unbürokratische Verwaltungsentscheidung ermöglichen. Die Regelung knüpft daher an relativ einfach nachprüfbare Sachverhalte an, bei denen das Bestehen der Bedürftigkeit als nachgewiesen gelten kann (BSG Urteil vom 29.06.1994 -1 RK 47/93, SozR 3-2500 § 61 Nr. 5). Es handelt sich insoweit um verfassungsrechtlich zulässige typisierende und pauschalierende Regelungen. Dieser Zweck des Gesetzes ist mit der von der Beklagten durchgeführten Hochrechnung des Arbeitslosen- und des Unterhaltsgeldes auf ein fiktives Bruttoeinkommen nicht vereinbar. Hätte dies der Gesetzgeber gewollt, hätte er -wie bei § 14 Abs. 2 SGB IV geschehen- eine entsprechende Regelung getroffen.
Der Senat verkennt nicht, dass für die von der Beklagten vertretene Auffassung durchaus gute Gründe sprechen (vgl. dazu Hauck/Haines, Kommentar zum SGB V, K § 61 Rdnr. 46 bis 48), als Organ der Rechtssprechung ist der Senat jedoch nicht dazu berufen, sich in die Rolle einer normsetzenden Instanz zu begeben. Dass insoweit eine eindeutige gesetzliche Regelung zur Sicherstellung einer einheitlichen Vorgehensweise notwendig ist, war im Übrigen auch das Ergebnis der Besprechung der Spitzenverbände der Krankenkassen vom März 2001.
Mit Wirkung vom 01.01.2004 sind die §§ 61, 62 SGB V durch das Gesundheitsmodernisierungsgesetz vom 14.11.2003 (BGBl. I S. 2190) neu gefasst worden. Danach ist eine Bescheinigung über die Befreiung von Zuzahlungen erst dann zu erteilen, wenn innerhalb eines Kalenderjahres die Zuzahlungen die Belastungsgrenze erreichen. Es sind daher nach neuem Recht auf jeden Fall Zuzahlungen zu leisten, eine vollständige Befreiung von Vornherein gibt es nicht mehr, weshalb der Urteilsausspruch des SG entsprechend zu begrenzen ist.
Auf die Berufung der Beklagten war daher das Urteil des SG im tenorierten Umfang abzuändern und die weitergehende Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Dabei wurde berücksichtigt, dass die Beklagte mit ihrer Rechtssauffassung unterlegen ist und die Abänderung des erstinstanzlichen Urteils allein aufgrund der zwischenzeitlichen Gesetzesänderung erforderlich war.
Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig ist die Befreiung des Klägers von der Zuzahlung zu den in § 61 Abs. 1 Sozialgesetzbuch 5. Buch (SGB V) in der bis 31.12.2003 gültigen Fassung genannten Kosten.
Der am 23.12.1967 geborene und bei der Beklagten pflichtversicherte Kläger bezog vom Arbeitsamt K. ab 05.07.2002 Arbeitslosengeld in Höhe von 171,64 EUR wöchentlich. Ab 01.10.2002 bis voraussichtlich 13.07.2004 wurde ihm Unterhaltsgeld zunächst in gleicher Höhe und ab 01.01.2003 in Höhe von 170,59 EUR wöchentlich bewilligt.
Den Antrag des Klägers vom 25.07.2002 auf volle Kostenübernahme bei Fahrkosten, Arznei-, Verband- und Heilmitteln sowie bei Hilfsmitteln und Kuren nach § 61 SGB V lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 29.07.2002 ab, da die maßgebenden Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt die gesetzlichen Bruttoeinkommensgrenzen überschreiten würden. Erläuternd teilte die Beklagte dem Kläger auf dessen Rückfrage mit, nach dem Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 12.03.1999 -S 4 K 142/98- seien alle gesetzlichen Krankenkassen dazu verpflichtet, bei Beziehern von Sozialleistungen nicht den Auszahlungsbetrag, sondern ein fiktives Bruttoentgelt zu berücksichtigen.
Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 04.11.2002 zurück: Damit der Kläger von der Sozialklausel berücksichtigt und von den Zuzahlungen befreit werden könne, dürften seine Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt im Jahr 2002 monatlich einen Betrag von 938,00 EUR nicht übersteigen. Bei Sozialleistungen sei der Leistungsbetrag vor Abzug gegebenenfalls daraus zu entrichtender Beiträge zu berücksichtigen (z.B. Arbeitslosengeld in Höhe des fiktiv errechneten Bruttobetrages). Die Berechnung des fiktiven Bruttolohnes solle bei Beziehern von Arbeitslosengeld einen Vergleich zu einem Arbeitnehmer herstellen, da die Bemessungsgrundlage der Sozialleistung bei der Beurteilung des Härtefalles nicht heranzuziehen sei, weil diese keine Einnahme des Versicherten darstelle, sondern lediglich der Berechnung dieser Leistung diene. Ausgehend von dem wöchentlichen Leistungssatz des Klägers von 171,64 EUR errechne sich ein fiktives "Brutto-Arbeitsentgelt" von 958,95 EUR, welches den maßgebenden Grenzbetrag von 938,00 EUR (40 % der monatlichen Bezugsgröße 2002) überschreite.
Deswegen erhob der Kläger Klage zum Sozialgericht K. (SG) mit der Begründung, es entspreche anerkannter Rechtsprechung sowohl zu § 61 Abs. 1 SGB V als auch zu den früheren §§ 182a, 182c, 184a bzw. 180 RVO, dass das Arbeitslosengeld in Höhe des auszuzahlenden Betrages und nicht etwa hochgerechnet bei der Prüfung zu Grunde zu legen sei, ob eine unzumutbare Belastung im Sinne von § 61Abs. 2 Nr. 1 SGB V vorliege oder nicht. Das Bundessozialgericht sei in seinem Urteil vom 09.06.1998 -B 1 KR 22/96 R- nicht nur beiläufig, sondern selbstverständlich davon ausgegangen, dass die bezogenen Auszahlungsbeträge an Arbeitslosengeld (nicht das hochgerechnete Bemessungsentgelt) bei der einschlägigen Prüfung der Unzumutbarkeit zugrundegelegt worden sei.
Die Beklagte trat der Klage entgegen: Bei dem wöchentlichen Auszahlbetrag des Klägers handele es sich um einen "Nettobezug". Der sich daraus ergebende monatliche Auszahlbetrag könne deshalb bei der Berechnung der Bruttoeinnahmen nach § 61 Abs. 2 Nr. 1 SGB V nicht in Ansatz gebracht werden. Vielmehr sei dieser Auszahlbetrag im Rahmen der Gleichbehandlung zu einem "Bruttolohnbezieher" mit identischem Nettoeinkommen auf ein "fiktives Bruttoeinkommen" hochzurechnen.
Mit Urteil vom 24.07.2003, der Beklagten zugestellt am 31.07.2003, hob das SG den Bescheid vom 29.07.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 04.11.2002 auf und verurteilte die Beklagte, den Kläger von der Zuzahlung bei Fahrtkosten, Arznei-, Verband- und Heilmitteln, Hilfsmitteln und stationären Vorsorge- und Rehabilitationsleistungen zu befreien. In den Entscheidungsgründen führte das SG im Wesentlichen aus, für die Hochrechnung des Leistungsbetrages des Arbeitsamtes auf einen fiktiven Bruttobetrag fehle es an einer gesetzlichen Grundlage. § 14 Abs. 2 SGB IV könne weder unmittelbar noch analog im Rahmen des § 61 Abs. 2 Nr. 1 SGB V angewandt werden (Hinweis auf die Entscheidungen des LSG Nordrhein-Westfalen vom 06.02.2001 -L 5 KR 50/00- und des LSG Rheinland-Pfalz vom 07.02.2002 - L 5 KR 63/01-).
Hiergegen richtet sich die am 11.08.2003 eingelegte Berufung der Beklagten. Zur Begründung verweist sie auf ihren Sachvortrag in erster Instanz und trägt ergänzend vor, aus § 166 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI werde deutlich, dass der Zahlbetrag des Arbeitslosengeldes keine Bruttoeinnahmen darstelle, da nicht hieraus die abzuführenden Beiträge berechnet würden, sondern aus 80 % des der Leistung zugrundeliegenden (ehemaligen) Arbeitsentgelts bzw. Arbeitseinkommen. Da für die Prüfung nach § 61 SGB V die Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt zu berücksichtigen seien, der Zahlbetrag des Arbeitslosengeldes des Arbeitsamtes K. keine Brutto- sondern eine Nettoeinnahme darstelle, bestehe keine andere Möglichkeit, als einen "fiktiven Bruttobetrag" durch die erfolgte Netto-Bruttoberechnung zu ermitteln und diesen bei der Beurteilung zu Grunde zu legen. Die Berechnung gemäß EDV- Lohnberechnungsprogramm auf der Basis eines monatlichen Leistungsbetrages von 735,60 EUR ergebe ein fiktives "Brutto-Arbeitentgelt" in Höhe von 945,24 EUR, so dass der Grenzwert ebenfalls überschritten werde. Unter Zugrundelegung des Unterhaltsgeldes von 170,59 EUR ab 01.01.2003 betrage das fiktive Bruttoarbeitentgelt 941,04 EUR.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts K. vom 24. Juli 2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger erachtet das angefochtene Urteil für zutreffend. Er hat die Bewilligungsbescheide des Arbeitsamtes K. vom 19.07. und 22.11.2002 sowie den Änderungsbescheid vom 17.01.2003 vorgelegt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die erst- und zweitinstanzlichen Gerichtsakten sowie die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die nach den §§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig und insbesondere nach § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG statthaft, da der Kläger eine zeitlich unbeschränkte Befreiung von Zuzahlungen während der Zeit der Arbeitslosigkeit begehrte und angesichts des bis Juli 2004 bewilligten Unterhaltsgeldes und der Ungewissheit der anschließenden finanziellen Situation des Klägers zum Zeitpunkt der Berufungseinlegung noch wiederkehrende Leistungen von mehr als einem Jahr im Streit waren (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG). Die Berufung der Beklagten erweist sich aber lediglich als begründet, soweit sie -unbegrenzt- verurteilt wurde, den Kläger auch ab 01.01.2004 von Zuzahlungen zu befreien. Im Übrigen ist die Berufung nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 29.07.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.11.2002 war unter Geltung der bis 31.12.2003 maßgebenden Vorschriften rechtswidrig und verletzte den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger konnte von der Beklagten die Befreiung von Zuzahlungen bis 31.12.2003 verlangen.
Rechtsgrundlage hierfür war § 61 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 SGB V. Die darin genannten Voraussetzungen sind im Urteil des SG zutreffend zitiert; zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat hierauf Bezug.
Die monatliche Belastungsgrenze nach § 18 SGB IV belief sich für den Kläger im Jahr 2002 auf 938 EUR (40 % von 2.344 EUR) und im Jahr 2003 auf 952 EUR (40 % 2.380 EUR).
Das Einkommen des Klägers bestand im Jahr 2002 aus Arbeitslosengeld bzw. ab 01.10.2002 aus Unterhaltsgeld in Höhe von 735,60 EUR (täglicher Zahlbetrag 24,52 EUR x 30 -§ 339 SGB III-) und im Jahr 2003 aus Unterhaltsgeld in Höhe von 731,10 EUR (täglicher Zahlbetrag 24,37 EUR x 30). Sowohl das Arbeitslosengeld als auch das Unterhaltsgeld lagen mithin unterhalb der maßgeblichen Grenzen.
Was den Zeitraum vom 01.01.2003 bis 31.12.2003 angeht, hatte der Kläger auch bei Zugrundelegung der Rechtsauffassung der Beklagten Anspruch auf Befreiung von Zuzahlungen; denn nach den Berechnungen der Beklagten betrug bei dem wöchentlichen Zahlbetrag des Unterhaltsgeldes von 170,59 EUR ab 01.01.2003 das fiktive Bruttoarbeitsentgelt 941,04 EUR. Es überstieg damit die oben aufgeführte monatliche Belastungsgrenze von 952 EUR im Jahr 2003 nicht.
Die Streitfrage betrifft vorliegend daher nur den Zeitraum bis 31.12.2002. Entgegen der Auffassung der Beklagten können die Leistungen des Arbeitsamtes nicht auf einen fiktiven Bruttobetrag hochgerechnet werden. Der Beklagten ist zwar zuzugeben, dass Lohnersatzleistungen in aller Regel in Höhe oder in einer Teilhöhe des zuletzt erzielten Nettoarbeitsentgelts gezahlt werden (vgl. zum Arbeitslosengeld § 129 SGB III und zum Unterhaltsgeld § 157 Abs. 1 SGB III), für die von der Beklagten praktizierte Vorgehensweise fehlt es jedoch an einer gesetzlichen Grundlage. Dass das Gesetz in § 61 Abs. 2 Nr. 1 SGB V von Bruttoeinnahmen spricht, gibt -worauf das SG zutreffend hingewiesen hat- keine Ermächtigung dafür, Einnahmen, bei denen kein Abzug an Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen erfolgt, fiktiv um entsprechende Zuschläge zu erhöhen und ein so ermitteltes fiktives Bruttoeinkommen als Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt zu Grunde zu legen. § 14 Abs. 2 SGB IV kann hierzu auch nach Auffassung des erkennenden Senats weder unmittelbar noch analog herangezogen werden (in gleichem Sinne Urteile des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 06.02.2001 -L 5 KR 50/00- und des LSG Rheinland-Pfalz vom 07.02.2002 -L 5 KR 63/01-). § 14 Abs. 2 SGB IV regelt nach seinem klaren Wortlaut die Höhe des Arbeitsentgelts ausschließlich für den Fall, dass zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber ein Nettoarbeitsentgelt vereinbart worden ist. Nur dann sind dem Nettoarbeitsentgelt die hierauf entfallenden Steuern sowie der vom Beschäftigten zu tragende gesetzliche Anteil der Beiträge zur Sozialversicherung und Arbeitsförderung hinzuzurechnen. Der Kläger hat aber nicht mit einem Arbeitgeber ein Arbeitsentgelt vereinbart, sondern hat vielmehr Sozialleistungen des Arbeitsamtes erhalten. Im Gegensatz zu dem in § 14 Abs. 2 SGB IV geregelten Fall wird das vom Kläger bezogene Arbeitslosengeld und Unterhaltsgeld aufgrund gesetzlicher Regelungen -der Vorschriften des SGB III- berechnet und gewährt. Der Kläger stand nicht in einem Beschäftigungsverhältnis und erhielt kein Arbeitsentgelt. Es liegt auch keine Gesetzeslücke vor, die durch eine entsprechende Anwendung des § 14 Abs. 2 SGB IV ausgefüllt werden könnte. Nach der Rechtssprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist der Richter zur Ausfüllung einer Gesetzeslücke dort berufen, wo das Gesetz mit Absicht schweigt, weil es der Rechtssprechung überlassen wollte, das Recht zu finden, oder das Schweigen des Gesetzgebers auf einem Versehen oder darauf beruht, dass sich der nicht geregelte Tatbestand erst nach Erlass des Gesetzes durch eine Veränderung der Lebensverhältnisse ergeben hat (vgl. BSG Urteil vom 23.11.1995 -1 RK 11/95-). Die analoge Anwendung des Gesetzes auf gesetzlich nicht umfasste Sachverhalte ist dann geboten, wenn auch der nicht geregelte Fall nach der Regelungsabsicht des Gesetzgebers wegen der Gleichheit der zugrundeliegenden Interessenlage hätte einbezogen werden müssen. Denn dieses Gebot beruht letztlich auf der Forderung normativer Gerechtigkeit, gleichartiges gleich zu behandeln (BSGE 60, 176, 178). Abgesehen davon, dass der Bezug von Lohnersatzleistungen wie das Arbeitslosengeld und Unterhaltsgeld, bei dem Brutto- gleich Nettobetrag ist, nicht vergleichbar mit der Zahlung von Arbeitsentgelt aufgrund einer Nettolohnvereinbarung ist, wollte der Gesetzgeber durch die Heranziehung der Bruttoeinnahmen der Versicherten eine rasche und unbürokratische Verwaltungsentscheidung ermöglichen. Die Regelung knüpft daher an relativ einfach nachprüfbare Sachverhalte an, bei denen das Bestehen der Bedürftigkeit als nachgewiesen gelten kann (BSG Urteil vom 29.06.1994 -1 RK 47/93, SozR 3-2500 § 61 Nr. 5). Es handelt sich insoweit um verfassungsrechtlich zulässige typisierende und pauschalierende Regelungen. Dieser Zweck des Gesetzes ist mit der von der Beklagten durchgeführten Hochrechnung des Arbeitslosen- und des Unterhaltsgeldes auf ein fiktives Bruttoeinkommen nicht vereinbar. Hätte dies der Gesetzgeber gewollt, hätte er -wie bei § 14 Abs. 2 SGB IV geschehen- eine entsprechende Regelung getroffen.
Der Senat verkennt nicht, dass für die von der Beklagten vertretene Auffassung durchaus gute Gründe sprechen (vgl. dazu Hauck/Haines, Kommentar zum SGB V, K § 61 Rdnr. 46 bis 48), als Organ der Rechtssprechung ist der Senat jedoch nicht dazu berufen, sich in die Rolle einer normsetzenden Instanz zu begeben. Dass insoweit eine eindeutige gesetzliche Regelung zur Sicherstellung einer einheitlichen Vorgehensweise notwendig ist, war im Übrigen auch das Ergebnis der Besprechung der Spitzenverbände der Krankenkassen vom März 2001.
Mit Wirkung vom 01.01.2004 sind die §§ 61, 62 SGB V durch das Gesundheitsmodernisierungsgesetz vom 14.11.2003 (BGBl. I S. 2190) neu gefasst worden. Danach ist eine Bescheinigung über die Befreiung von Zuzahlungen erst dann zu erteilen, wenn innerhalb eines Kalenderjahres die Zuzahlungen die Belastungsgrenze erreichen. Es sind daher nach neuem Recht auf jeden Fall Zuzahlungen zu leisten, eine vollständige Befreiung von Vornherein gibt es nicht mehr, weshalb der Urteilsausspruch des SG entsprechend zu begrenzen ist.
Auf die Berufung der Beklagten war daher das Urteil des SG im tenorierten Umfang abzuändern und die weitergehende Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Dabei wurde berücksichtigt, dass die Beklagte mit ihrer Rechtssauffassung unterlegen ist und die Abänderung des erstinstanzlichen Urteils allein aufgrund der zwischenzeitlichen Gesetzesänderung erforderlich war.
Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
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