L 6 U 33/20 WA

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 21 U 124/13
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 6 U 33/20 WA
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 118/20 B
Datum
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der 1949 geborene Kläger begehrt die Fortsetzung des Rechtsstreits L ..., in welchem er wiederholt wegen Verschlimmerung der Folgen eines Arbeitsunfalls Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) über 50 vom Hundert (vH) begehrt hatte.

Der Kläger bezieht von der Beklagten wegen der Folgen eines am 24. Januar 1994 erlittenen Arbeitsunfalls Verletztenrente (inzwischen) nach einer MdE um 50 vH (Ausführungsbescheid vom 11. September 2001 zum Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt [LSG] vom 26. Juli 2001 – L ...).

Am 5. November 2002 beantragte der Kläger wegen Verschlimmerung der Unfallfolgen bei der Beklagten die Neufeststellung der Rente, was diese – nach Einholung mehrerer Gutachten – mit Bescheid vom 24. Juni 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. September 2003 ablehnte. Die hiergegen erhobene Klage wies das Sozialgericht (SG) Halle mit Urteil vom 4. Mai 2007 (S ...) ab; das nachfolgende Berufungsverfahren (L ...) blieb ohne Erfolg (Urteil vom 23. März 2011).

Mit Schreiben vom 23. Dezember 2012 stellte der Kläger bei der Beklagten erneut einen Verschlimmerungsantrag, dem diese mit Bescheid vom 6. August 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. September 2013 mangels wesentlicher Verschlimmerung der Unfallfolgen nicht stattgab. Die hiergegen erhobene Klage wies das SG mit Urteil vom 24. April 2017 ab.

Gegen das ihm am 4. Mai 2017 zugestellte Urteil hat der Kläger noch im selben Monat beim LSG Berufung eingelegt (Verfahren L ...).

Der Senat hat Dr. K. mit der Erstellung des unfallchirurgischen Gutachtens vom 16. Januar 2019 betraut.

Mit Bescheid vom 7. März 2019 hat die Beklagte den mit Schreiben vom 24. November 2017 gestellten Antrag des Klägers auf Änderung des Bescheides vom 26. Juli 2001 abgelehnt. Zugleich hat sie eine Rücknahme des Bescheides vom 6. August 2013 abgelehnt. Der hiergegen erhobene Widerspruch des Klägers ist erfolglos geblieben (Widerspruchsbescheid vom 25. Juni 2019).

Im Termin der mündlichen Verhandlung am 20. Februar 2020 hat der Vorsitzende den Kläger laut Sitzungsprotokoll darauf hingewiesen, dass die von ihm angesprochenen Punkte der Sache nach Gegenstand des bereits anhängigen Überprüfungsverfahrens (L ...) sein dürften, jedenfalls keine Veränderung im Sinne des vorliegend maßgeblichen § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – darstellen. Daraufhin hat der Kläger erklärt: "Ich nehme die Berufung im vorliegenden Verfahren zurück und betreibe das andere Verfahren weiter." Diese Erklärung ist ihm laut vorgespielt und vom Kläger daraufhin genehmigt worden.

Am 10. März 2020 ist beim Senat das Schreiben des Klägers vom 7. März 2020 eingegangen, wonach dieser seine Berufungsrücknahme irrtümlich erklärt habe. Er sei davon ausgegangen, die Rücknahmeerklärung habe sich auf das Parallelverfahren L ... bezogen (das hinsichtlich des streitbefangenen Umbaus der Dusche im Wohnhaus des Klägers in der mündlichen Verhandlung am 20. Februar 2020 durch Teilvergleich und im Übrigen durch Urteil vom selben Tag beendet worden ist). Mit Schreiben vom 28. März sowie 3. und 7. Mai 2020 hat der Kläger auf der Fortsetzung des Verfahrens L ... bestanden.

Der Kläger beantragt, festzustellen, dass der Rechtsstreit L ... noch anhängig ist, das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 24. April 2017 sowie den Bescheid der Beklagten vom 6. August 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. September 2013 sowie der Fassung des Bescheides vom 7. März 2019 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 24. Januar 1994 vom 30. September 2013 an Verletztenrente nach einer MdE um mindestens 60 vH zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, das Verfahren L ... sei durch wirksame Berufungsrücknahme erledigt.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Rechtsstreits durch den Senat ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung des Senats.

Entscheidungsgründe:

Die Feststellungsklage hat keinen Erfolg und das Berufungsverfahren ist durch wirksame Rücknahmeerklärung beendet, worüber der Senat im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte.

Gegenstand des Verfahrens ist zunächst das Begehren des Klägers auf Fortsetzung des Rechtsstreits L ..., das der Senat angesichts einer nach § 179 Abs. 1 SGG i.V.m. den §§ 589 Abs. 1, 584 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) als unzulässig zu verwerfenden Wiederaufnahmeklage als Feststellungsantrag auslegt, das Verfahren sei durch die Erklärung vom 20. Februar 2020 nicht beendet worden. Dieser Antrag ist als Klageänderung durch Klageerweiterung nach § 99 Abs. 1 SGG i.V.m. den §§ 55 Abs. 1 Nr. 1, 56 SGG zulässig (vgl. hierzu Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 26. Juli 1989 – 11 RAr 31/88 – SozR 1500 § 73 Nr. 6).

In der Sache hat der Kläger jedoch keinen Anspruch auf die begehrte Feststellung. Denn der Rechtsstreit L ... ist wegen Berufungsrücknahme nicht mehr anhängig.

Nach § 156 Abs. 1 Satz 1 SGG kann die Berufung bis zur Rechtskraft des Urteils zurückgenommen werden. Um wirksam zu sein, muss die Rücknahme eindeutig, klar, unmissverständlich und bedingungslos ausgesprochen werden. Bei der Auslegung der Rücknahmeerklärung ist das wirklich Gewollte, das in der Äußerung erkennbar ist, zu ermitteln. Im Zweifelsfall ist darauf abzustellen, was das Erklärte vernünftigerweise bedeuten soll (BSG, Urteil vom 29. Mai 1980 – 9 RV 8/80 – juris). Prozesserklärungen unterliegen den allgemeinen Auslegungsregeln für empfangsbedürftige Willenserklärungen nach dem bürgerlichen Recht (§§ 133, 157 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB]). Nach § 133 BGB ist bei der Auslegung einer Willenserklärung der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften. Das Wort "Rücknahme" muss nicht zwingend verwendet werden. Andernfalls bedürfte es keiner Auslegung der Rücknahmeerklärung, die das BSG aber für zulässig hält.

Ausgehend davon liegt hier eine wirksame Rücknahmeerklärung vor.

Die in der mündlichen Verhandlung am 20. Februar 2020 abgegebene Erklärung des Klägers kann nur so verstanden werden, dass er an der Weiterverfolgung des Klagebegehrens in der Berufungsinstanz kein Interesse mehr hatte und das Verfahren beenden wollte. Er hat vom Gericht keine weitere Entscheidung mehr erwartet. Diese Erklärung ist auch in sich widerspruchsfrei. Auch der Kläger ging erkennbar davon aus, dass mit seiner Erklärung das Verfahren vor dem Berufungsgericht beendet wurde.

Die Berufungsrücknahme wurde ordnungsgemäß protokolliert (§§ 156 Abs. 1, 122 SGG i.V.m. den §§ 159 Abs. 1, 160 Abs. 3 Nr. 8, 160a, 162 Abs. 1, 163 ZPO).

Die Rücknahme ist auch nicht nichtig.

Die Rücknahmeerklärung ist eine Prozesshandlung. Die Wirksamkeit einer Prozesshandlung erfordert die Prozessfähigkeit des Erklärenden, denn die Prozessfähigkeit ist die Fähigkeit, Prozesshandlungen selbst wirksam vornehmen zu können. Nach § 71 Abs. 1 SGG ist ein Beteiligter prozessfähig, soweit er sich durch Verträge verpflichten kann. Durch Verträge verpflichten kann sich, wer geschäftsfähig ist. (Voll)Geschäftsfähig ist, wer volljährig ist (Umkehrschluss aus den §§ 104, 106 BGB) und sich nicht in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist (§ 104 Nr. 2 BGB). Die Willenserklärung eines Geschäftsunfähigen ist nichtig (§ 105 Abs. 1 BGB). Nichtig ist auch eine Willenserklärung, die im Zustand der Bewusstlosigkeit oder vorübergehender Störung der Geistestätigkeit abgegeben wird (§ 105 Abs. 2 BGB).

Es ist nichts dafür ersichtlich, dass der Kläger im Zeitpunkt der Erklärung der Berufungsrücknahme geschäftsunfähig nach § 104 Nr. 2 BGB war. Auch eine Nichtigkeit der Erklärung nach § 105 Abs. 2 BGB kann nicht angenommen werden. Eine vorübergehende Störung der Geistestätigkeit im Sinne von § 105 Abs. 2 BGB liegt vor, wenn die Störung ein solches Ausmaß erreicht, dass die freie Willensbestimmung ausgeschlossen ist. Es reicht nicht aus, dass die freie Willensbestimmung nur geschwächt oder gemindert ist. Die freie Willensbestimmung muss vielmehr völlig ausgeschlossen sein (Bundesgerichtshof, Urteil vom 5. Juni 1972 – II ZR 119/70 – juris). Weder gehen entsprechende Beobachtungen aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung hervor noch hat der Kläger derartiges überhaupt in irgendeiner Art und Weise behauptet. Er hat insbesondere auch keine ärztliche Bescheinigung eingereicht, aus der hervorgeht, dass bei ihm zu diesem Zeitpunkt eine gesundheitliche Beeinträchtigung vorlag, die auf eine Störung der Geistestätigkeit schließen ließe.

Die wirksam erklärte Berufungsrücknahme kann als prozessuale Gestaltungshandlung auch nicht frei widerrufen oder entsprechend den bürgerlich-rechtlichen Vorschriften angefochten werden (ständige Rechtsprechung, vgl. nur BSG, Urteil vom 6. April 1960 – 11/9 RV 214/57 – SozR Nr. 3 zu § 119 BGB; Urteil vom 24. April 1980 – 9 RV 16/79 – juris; Urteil vom 20. Dezember 1995 – 6 RKa 18/95 – juris; Beschluss vom 19. März 2002 – B 9 V 75/01 B – juris).

Schließlich kann sich der Kläger von seiner Rücknahmeerklärung auch nicht unter dem Aspekt des Eingreifens von Wiederaufnahmegründen lösen, was entsprechend § 179 Abs. 1 SGG i.V.m. den §§ 578-580 ZPO schwerste Mängel oder unrichtige Urteilsgrundlagen voraussetzen würde (vgl. hierzu etwa BSG, Urteil vom 14. Juni 1978 – 9/10 RV 31/77SozR 1500 § 102 Nr. 2). Dafür, dass die für die Nichtigkeitsklage erforderlichen Voraussetzungen des § 579 Abs. 1 Nr. 1-4 ZPO vorliegen (nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts, Mitwirkung ausgeschlossener oder abgelehnter Richter, nicht ordnungsgemäße Vertretung), ist nichts ersichtlich. Ebenso hat weder der Kläger Wiederaufnahmegründe für eine Restitutionsklage nach § 580 ZPO vorgetragen noch sind solche sonst erkennbar.

Im Ergebnis ist das Urteil des SG mit der Berufungsrücknahme rechtskräftig geworden, was den Senat hindert, über den Sachantrag des Klägers zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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