S 16 AS 1744/14

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
SG Magdeburg (SAN)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
16
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 16 AS 1744/14
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 5 AS 688/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Der Bescheid vom 08.11.2013 in Fassung der Änderungsbescheide vom 06.12.2013 sowie 30.12.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.05.2014 wird abgeändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin für den Zeitraum 10/2013 bis 03/2014 eine monatliche Bruttokaltmiete von EUR 380,00 zu zahlen.

2. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.

3. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten um höhere Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) in Form höherer Leistungen nach § 22 SGB II für die von der Klägerin und ihrer Tochter bewohnten, im Rubrum bezeichneten Wohnung.

Die Klägerin stand im streitigen Zeitraum Oktober 2013 bis März 2014 als Bedarfsgemeinschaft mit ihrer Tochter bei der Beklagten im Leistungsbezug und hat durch Bescheid vom 08.11.2013 für diesen Zeitraum Leistungen bezogen. Dabei berücksichtigte die Beklagte für die Leistungen nach § 22 SGB II nicht die tatsächlich zu zahlenden Kosten der Unterkunft in Höhe von EUR 526,00, sondern nur die nach dem von ihr zu Grunde gelegten Konzept angemessenen Kosten in Höhe von EUR 301,80 (Blatt 15 der Gerichtsakte).

Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin mit Schreiben ihrer jetzigen Prozessbevollmächtigten vom 06.12.2013 am 11.12.2013 (Blatt 2971 der Verwaltungsakte) beschränkt auf die Kosten der Unterkunft Widerspruch eingelegt, welcher durch Widerspruchsbescheid vom 14.05.20154 (Blatt 2979 der Verwaltungsakte) zurückgewiesen worden ist. Zur Begründung hat die Beklagte ausgeführt, die von der Klägerin zu zahlenden Kosten der Unterkunft seien unangemessen; die Klägerin habe sich trotz übersandter Kostensenkungsaufforderung nicht um eine Senkung ihrer Unterkunftskosten bemüht.

Mit der Klage, die nominell nur von der Klägerin erhoben worden ist, verfolgt diese ihr Anliegen weiter. Die Beklagte könne ihre Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung nicht auf ein schlüssiges Konzept im Sinne der Rechtsprechung des BSG stützen. Die Klägerin habe nach der Tabelle zu § 12 Wohngeldgesetz (WoGG) einen Anspruch auf eine Bruttokaltmiete von EUR 380,00.

Die Beklagte hat am 06.12.2013 sowie 30.12.2013 Änderungsbescheide erlassen, die nicht die Kosten der Unterkunft und Heizung betreffen.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid vom 08.11.2013 in Fassung der Änderungsbescheide vom 06.12.2013 sowie 30.12.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.05.2014 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin für den Zeitraum 10/2013 bis 03/2014 eine monatliche Bruttokaltmiete von EUR 380,00 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und im erkannten Umfang begründet.

Aus dem Klagevorbringen ergibt sich zunächst, dass die Klage nicht ausschließlich von und für die Klägerin, sondern auch – hinsichtlich der Kosten der Unterkunft – auch für deren nicht im Rubrum der Klägerin aufgeführte Tochter erhoben worden ist. Dieses ergibt sich notwendig daraus, dass sich aus allen, von der Klägerin eingereichten Schriftsätzen und aus dem gesamten Vorbringen im Verwaltungsverfahren ergibt, dass sämtliche Kosten der Unterkunft bzw. die nach der Tabelle zu § 12 WoGG für einen Zweipersonenhaushalt angemessenen Kosten der Unterkunft geltend gemacht worden sind.

Die Klage ist in zulässiger Weise auf die Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung beschränkt worden, wobei vorliegend ausschließlich die Kosten der Unterkunft, also die Bruttokaltmiete, zwischen den Parteien streitig sind. Bei den Ansprüchen auf Leistungen für Unterkunft und Heizung handelt es sich um abtrennbare selbstständige Ansprüche (BSG, Urteil vom 22.9.2009, B 4 AS 70/08 R).

Die Klägerin und ihre Tochter werden durch den Bescheid vom 08.11.2013 in Fassung der Änderungsbescheide vom 06.12.2013 sowie 30.12.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.05.2014 dadurch in ihren Rechten verletzt, dass die Beklagte die von ihr bewilligten Kosten auf einen Betrag von EUR 301,80 beschränkt hat, ohne dass die von ihr bewilligten angemessenen Kosten der Unterkunft auf einem schlüssigen Konzept im Sinne der Rechtsprechung des BSG beruhen würden.

Die von der Beklagten für den streitigen Zeitraum anzuwendende Richtlinie des Beklagten genügt den Anforderungen an ein "schlüssiges Konzept", soweit es die Ermittlung der Bruttokaltmiete betrifft für W. nicht.

Nach der Rechtsprechung des BSG setzt ein Konzept zur Ermittlung der angemessenen Bruttokaltmiete ein planmäßiges Vorgehen im Sinne einer systematischen Ermittlung und Bewertung genereller Tatsachen für sämtliche Anwendungsfälle im maßgeblichen Raum voraus. Von der Schlüssigkeit eines Konzepts ist auszugehen, sofern die folgenden Mindestvoraussetzungen erfüllt sind.

Die Grundsicherungsträger sind zur Ermittlung des abstrakt angemessenen Mietpreises nicht zu bestimmten Vorgehensweisen verpflichtet. Sie können vielmehr im Rahmen der Methodenfreiheit ein Konzept zur empirischen Ableitung der angemessenen Bruttokaltmiete unter Einbeziehung von Angebots- und Nachfrageseite wählen. Voraussetzung ist die Einhaltung der für ein schlüssiges Konzept aufgestellten und entwicklungsoffenen Grundsätze (BSG, Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde vom 20. Dezember 2016, B 4 AS 247/16 B. u.a. (5), Juris). Auch nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll eine "Vielfalt an Konzepten" zur Festsetzung der angemessenen Bedarfe für Unterkunft und Heizung möglich sein (BT-Drs. 17/3404, S. 101 zur Satzung nach § 22b SGB II).

Entgegen der Auffassung der Beklagten ist nicht der gesamte Landkreis als ein Vergleichsraum anzusehen. Der Begriff des Vergleichsraums stellt einen richterrechtlich entwickelten unbestimmten Rechtsbegriff dar, der der vollen gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Die Bestimmung des Vergleichsraumes ist entgegen der Ansicht der Beklagten auch nicht einer Entscheidung durch das Gericht entzogen.

Nach der Rechtsprechung des BSG ist zur Bestimmung der angemessenen Miete maßgeblich auf den örtlichen Vergleichsraum abzustellen. Es handelt sich dabei um "ausreichend große Räume der Wohnbebauung aufgrund räumlicher Nähe, mit zusammenhängender Infrastruktur und insbesondere verkehrstechnischer Verbundenheit, die insgesamt betrachtet einen homogenen Lebens- und Wohnbereich darstellen" (vgl. u.a. BSG, Urteil vom 16. Juni 2015, B 4 AS 44/14 R, Rn. 16). Die Sozialgerichte müssen den Vergleichsraum bestimmen, wobei es sich um eine tatrichterliche Einzelfallfeststellung handelt (vgl. u.a. BSG, Urteil vom 11. Dezember 2012, B 4 AS 44/12 R, Rn. 17).

In erster Linie ist der Wohnort maßgebend, ohne dass der kommunalverfassungsrechtliche Begriff der "Gemeinde" endscheidend sein muss. Umfasst sein muss aber ein ausreichend großer Raum der Wohnbebauung, um ein entsprechendes Wohnungsangebot aufzuweisen und die notwendige repräsentative Bestimmung der abstrakt angemessenen Bruttokaltmiete zu ermöglichen (vgl. BSG, Urteil vom 11. Dezember 2012, a.a.O., Rn. 24).

Wenn danach die Wohnortgemeinde keinen eigenen Wohnungsmarkt hat, muss geprüft werden, ob weitere Gemeinden oder der gesamte Landkreis einzubeziehen sind. Bei besonders kleinen Gemeinden ohne eigenen repräsentativen Wohnungsmarkt kann es daher geboten sein, größere Gebiete als Vergleichsmaßstab zusammenzufassen. Zulässig ist etwa die Zusammenfassung mehrerer Gemeinden im ländlichen Raum zu "Raumschaften".

Unter Anwendung dieser Maßstäbe ist der Landkreis Harz in 14 Vergleichsräume zu unterteilen. Als Ganzes bildet er keinen einheitlichen, homogenen Lebensraum, entsprechend den 14 dort vorhandenen Einheits- und Verbandsgemeinden(Vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 11.05.2017, L 5 AS 547/16).

Die Stadt W. bildet danach einen eigenen Vergleichsraum. In der Stadt W. wohnen 33.108 Menschen auf 170,18 qkm (195 Einwohner/qkm). Zur Kernstadt (mit H. und N.) gehören die Ortschaften B., M., R., Sch., S. und D. A. H.

Die Stadt unterhält einen eigenen Stadtverkehr mit vier Buslinien. Ferner verteilen sich sechs Grundschulen, drei Sekundarschulen, zwei Gymnasien und das Landesgymnasium für Musik auf das Stadtgebiet. Hinzu kommen zwei integrative Förderschulen.

Sie beherbergt 7.047 Wohngebäude mit 19.859 Wohnungen. 2015 zogen 1.550 Menschen in die Stadt, 1.520 verließen sie (LSG Sachsen-Anhalt, aaO, Rn. 91ff).

Unter Berücksichtigung des Vorstehenden ist das von der Fa. A. & K. erstellte Konzept für den Vergleichsraum W. nicht schlüssig im Sinne der Rechtsprechung des BSG.

Es mangelt dem Konzept für diesen Vergleichsraum an einer ausreichend großen und vom BSG mit mindestens 10% der möglichen Vergleichsdaten zu Grunde zu legenden Datenmenge.

Nach den Daten des Mikrozensus 2011 gibt es in der Stadt W. 4758 Wohnungen mit einer Größe von 40-59 m² und 5670 Wohnungen mit einer Größe von 60-79 m², was einer Gesamtzahl von 10428 entspricht. Aus dem Konzept der Fa. A. & K. ergibt sich, dass der Firma bei der Auswertung und Festlegung der angemessenen Kosten der Unterkunft für diese Wohnungsgrößen insgesamt 818 Daten vorgelegen haben, so dass die vom BSG für notwendig erachtete Anzahl von 10% der möglichen vorhandenen Daten nicht erreicht worden ist. Hinzu kommt, dass das Gericht nicht feststellen kann, dass bei der Berechnung der Kosten wenigstens für Wohnungen von 60m² die Anzahl von 10% erreicht worden ist.

Dieses geht zu Lasten der Beklagten.

Weitere Erkenntnismöglichkeiten sind auch auf Grund des Zeitablaufs nicht erkennbar, sodass das Gericht bei der Bemessung der angemessenen Kosten der Unterkunft auf die Werte der Tabelle zu § 12 Wohngeldgesetz zurückgreifen kann.

Danach liegt W. in der Mietstufe 2. Für einen Zweipersonenhaushalt ist nach der Tabelle eine monatliche Bruttokaltmiete von EUR 380,00 zuzüglich eines Sicherheitszuschlages von 10% noch angemessen. Die von den Klägerinnen geltend gemachten Kosten von EUR 380,00 sind danach angemessen.

Die Beklagte hat für den Zeitraum 10/2013 bis 03/2014 die Differenz zwischen den bewilligten Kosten von EUR 301,80 und den geltend gemachten Kosten von EUR 380,00 nachzuzahlen.

Da die Klägerinnen nicht die vollständigen Kosten der Unterkunft, sondern nur den nach der Tabelle zu § 12 WoGG angemessenen Betrag geltend gemacht haben, hat die Beklagte deren außergerichtlichen Kosten nach § 193 SGG zu erstatten.

Das Gericht hat die Berufung zugelassen, weil zwei widerstreitende Entscheidungen des LSG Sachsen-Anhalt existieren, gegen welche Revision eingelegt worden ist, so dass eine rechtskräftige Entscheidung zum von der Beklagten genutzten Konzeptes nicht existiert, weshalb die Entscheidung des Gerichts jedenfalls einer der beiden obergerichtlichen Entscheidungen widerspricht (§ 144 Abs. 2 Ziff. 2. SGG).
Rechtskraft
Aus
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