L 5 KR 50/00

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 27 KR 112/99
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 5 KR 50/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Duisburg vom 03.11.1999 geändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Bescheide vom 21.06.1999 und 30.06.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.08.1999 verurteilt, dem Kläger die im Jahre 1999 geleisteten Eigenanteile in Höhe von 311,91 DM zu erstatten. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Erstattung von 311,91 DM, die er im Jahre 1999 als Zuzahlung zu Arzneimitteln (32,91 DM) sowie als Eigenanteil zum Zahnersatz (279,00 DM) aufgewendet hat.

Der am ...1963 geborene Kläger, der bis zum 31.12.1999 Mitglied der beklagten Krankenkasse war, bezog vom 01.01.1999 bis 05.09.1999 vom Arbeitsamt D ... Unterhaltsgeld in Höhe von 343,91 DM wöchentlich; ab 06.09.1999 bis 31.12.1999 erhielt er Arbeitslosengeld in gleicher Höhe.

Die vom Kläger beantragte Befreiung von Zuzahlungen und Eigenanteilen gemäß § 61 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V) lehnte die Beklagte durch die Bescheide vom 21.06.1999 und 30.06.1999 ab: Für die Befreiung von Zuzahlungen und Eigenanteilen gelte im Kalenderjahr 1999 eine Einkommensgrenze von 1.764,00 DM. Die zu berücksichtigenden Einkünfte des Klägers betrügen jedoch 1.973,30 DM brutto. Auszugehen sei von einem monatlichen Zahlbetrag des Arbeitsamtes in Höhe von 1.479,69 DM, dem jedoch die auf ein entsprechendes Nettoarbeitsentgelt entfallenden Beträge der Lohnsteuer (80,58 DM), Kirchensteuer (7,25 DM) sowie die Beiträge zur Krankenversicherung (132,21 DM), Rentenversicherung (192,40 DM), Arbeitslosenversicherung (64,13 DM) und Pflegeversicherung (16,77 DM) hinzuzurechnen seien, so dass sich der (fiktive) Betrag von 1.973,30 DM ergebe.

Dagegen legte der Kläger am 07.07.1999 Widerspruch ein, mit dem er darauf verwies, dass ihm brutto definitiv lediglich 1.479,96 DM im Monat zur Verfügung gestanden hätten.

Die Beklagte wies den Widerspruch durch den Widerspruchsbescheid vom 09.08.1999 zurück: Eine Befreiung gemäß § 61 Absatz 1 SGB V sei nicht möglich. Eine unzumutbare Belastung i.S.d. § 61 Abs. 2 Nr. 1 SGB V liege nur dann vor, wenn die monatlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt 40 v.H. der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 des Vierten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IV, 1999: 1.764,00 DM) nicht überschritten. Die Leistungen des Arbeitsamtes seien auf einen Bruttobetrag hochzurechnen, weil sich ansonsten gegenüber Arbeitnehmern mit gleich hohen Nettoeinkünften ein (ungerechtfertigter) Vorteil ergebe.

Der Kläger hat am 18.08.1999 Klage vor dem Sozialgericht Duisburg erhoben.

Er hat weiterhin die Ansicht vertreten, dass die Beklagte die Leistungen des Arbeitsamtes zu Unrecht auf einen fiktiven Bruttobetrag hochgerechnet habe. Im Unterschied zu Arbeitnehmern habe er z.B. keine Möglichkeit, einen Lohnsteuerjahresausgleich durchzuführen.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 21.06.1999 und 30.06.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.08.1999 zu verurteilen, ihn von der Zuzahlung gemäß § 61 SGB V vollständig zu befreien und die geleisteten Eigenanteile in Höhe von 311,91 DM zu erstatten.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat an der in den angefochtenen Bescheiden geäußerten Rechtsauffassung festgehalten.

Das Sozialgericht Duisburg hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 03.11.1999 abgewiesen. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe Bezug genommen.

Gegen den mit der Rechtsmittelbelehrung "Berufung" versehenen Gerichtsbescheid, der dem Kläger am 18.11.1999 zugestellt worden ist, hat der Kläger am 10.12.1999 Berufung und - nach einem entsprechenden Hinweis des Senats - am 24.02.2000 Nichtzulassungsbeschwerde beim Sozialgericht Duisburg eingelegt. Das Sozialgericht hat durch Beschluss vom 11.03.2000 die Berufung gegen den Gerichtsbescheid zugelassen.

Der Kläger ist weiterhin der Ansicht, dass die Hochrechnung der von ihm bezogenen Leistungen des Arbeitsamtes auf einen fiktiven Bruttobetrag rechtlich unzulässig sei.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Duisburg vom 03.11.1999 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 21.06.1999 und 30.06.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.08.1999 zu verurteilen, ihm 311,91 DM zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird verwiesen auf den übrigen Inhalt der Streitakten sowie der Verwaltungsakten der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die kraft Zulassung zulässige Berufung des Klägers ist begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Die Bescheide vom 21.06.1999 und vom 30.06.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.08.1999 sind rechtswidrig, denn der Kläger kann von der Beklagten die Erstattung der von ihm im Jahre 1999 geleisteten Zuzahlung zu Arzneimitteln und des Eigenanteils zum Zahnersatz in Höhe von 311,91 DM verlangen.

Das nunmehr lediglich auf die Erstattung der im Kalenderjahr 1999 geleisteten Zuzahlungen und Eigenanteile gerichtete und damit gegenüber dem erstinstanzlichen Antrag geänderte Klagebegehren ist gemäß § 99 Abs. 3 Nr. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig. Da der Kläger mit Ablauf des 31.12.1999 nicht mehr Mitglied der Beklagten ist und somit für die Zukunft eine Befreiung von der Zuzahlungspflicht gegenüber der Beklagten nicht mehr erstreiten kann, kommt nur noch die Erstattung für den Zeitraum bis Ende 1999 in Betracht. Gegen die Umstellung der Klage bestehen mit Rücksicht auf § 99 Abs. 3 Nr. 3 SGG keine Bedenken (vgl. BSG, Urteil vom 09.06.1998, Az.: B 1 KR 22/96 R, SozR 3-2500 § 61 SGB V Nr. 8).

Der Kläger hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Erstattung der von ihm im Kalenderjahr 1999 geleisteten Zuzahlungen zu Arzneimitteln sowie der von ihm getragenen Anteile bei der Versorgung mit Zahnersatz in Höhe von insgesamt 311,91 DM. Die Beklagte hat es zu Unrecht abgelehnt, eine vollständige Befreiung i.S.d. § 61 SGB V für das Kalenderjahr 1999 vorzunehmen.

Gemäß § 61 Abs. 1 SGB V hat die Krankenkasse u.a. Versicherte von der Zuzahlung zu Arzneimitteln zu befreien sowie bei der Versorgung mit Zahnersatz den von den Versicherten zu tragenden Anteil der Kosten nach § 30 Abs. 2 zu übernehmen, wenn die Versicherten unzumutbar belastet würden.

Nach § 61 Absatz 2 Nr.1 SGB V liegt eine unzumutbare Belastung vor, wenn die monatlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt des Versicherten 40 v.H. der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 des Vierten Buches nicht überschreiten. Im Falle des Klägers liegt eine derartige unzumutbare Belastung vor, denn seine monatlichen Bruttoeinnahmen im Jahr 1999 in Höhe von 1479,96 DM haben die Einkommensgrenze des § 61 Absatz 2 Nr.1 SGB V nicht überschritten. 40 v.H. der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 SGB IV betrugen im Kalenderjahr 1999 1.764,00 DM (Bezugsgröße 1999= 52920 DM; 40% hiervon = 21.168 DM; 21.168: 12 = 1.764 DM monatlich).

Der Kläger hatte im Jahr 1999 monatliche Bruttoeinnahmen in Höhe von 1479,96 DM. Es handelte es sich um die Leistungen des Arbeitsamtes, die dem Kläger als Arbeitslosengeld bzw. Unterhaltsgeld gewährt wurden. Die Höhe der Bruttoeinnahmen eines Empfängers von Leistungen des Arbeitsamtes entspricht dem Zahlbetrag dieser Leistungen, die sich nach den Vorschriften des Dritten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB III) bestimmen.

Die Leistungen des Arbeitsamtes können nicht auf einen fiktiven Bruttobetrag hochgerechnet werden. Hierfür fehlt es an einer gesetzlichen Grundlage. Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts findet die von der Beklagten vorgenommene Hochrechnung der Leistungen des Arbeitsamtes auf einen fiktiven Bruttobetrag in § 14 Absatz 2 SGB IV keine rechtliche Stütze. Nach dieser Vorschrift gelten - für den Fall der Vereinbarung eines Nettoarbeitentgelts - als Arbeitsentgelt die Einnahmen des Beschäftigten einschließlich der darauf entfallenden Steuern und der seinem gesetzlichen Anteil entsprechenden Beiträge zur Sozialversicherung und Arbeitsförderung. Diese Vorschrift regelt nach ihrem klaren Wortlaut die Höhe des Arbeitsentgelts ausschließlich für den Fall, dass zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber ein Nettoarbeitsentgelt vereinbart worden ist. Nur dann sind dem Nettoarbeitsentgelt die hierauf entfallenden Steuern sowie der vom Beschäftigten zu tragende gesetzliche Anteil der Beiträge zur Sozialversicherung und zur Arbeitsförderung hinzuzurechnen. Der Kläger hat aber nicht mit einem Arbeitgeber ein Nettoarbeitsentgelt vereinbart, sondern hat vielmehr Sozialleistungen des Arbeitsamtes erhalten. Im Gegensatz zu dem in § 14 Absatz 2 SGB IV geregelten Fall wird das vom Kläger bezogene Unterhaltsgeld und das Arbeitslosengeld aufgrund gesetzlicher Regelungen - der Vorschriften des Dritten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB III) - berechnet und gewährt; der Kläger stand gerade nicht in einem Beschäftigungsverhältnis.

Eine analoge Anwendung des § 14 Absatz 2 SGB IV auf den Fall des Bezugs von Sozialleistungen kommt nicht in Betracht. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist eine analoge Anwendung eines Gesetzes dann geboten, wenn die Regelungsabsicht des Gesetzgebers wegen der Gleichheit der zugrundeliegenden Interessenlage auch den nicht geregelten Fall hätte einbeziehen müssen. Dieses Gebot beruht auf der Forderung normativer Gerechtigkeit, Gleichartiges gleich zu behandeln (vergl. Bundessozialgericht, Urteil vom 06.08.1986, Az 5a RKn 22/85, SozR 2600 § 57 Nr.3 mit weiteren Nachweisen). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Der sich ausschließlich nach gesetzlichen Vorschriften bestimmende Bezug von Sozialleistungen ist grundsätzlich nicht vergleichbar mit der Zahlung von Arbeitsentgelt aufgrund einer Nettolohnvereinbarung. Während im Falle einer Nettolohnvereinbarung die auf das Nettoarbeitsentgelt zu entrichtenden Steuern und Sozialversicherungsbeiträge einen Teil des Arbeitslohnes darstellen und damit rechtlich dem Arbeitnehmer zuzuordnen sind, wäre die Hochrechnung der Leistungen des Arbeitsamtes auf einen Bruttobetrag rein fiktiv: Ein rechtlicher Bezug zu den Sozialleistungen wird nicht hergestellt.

Es spricht nichts für die Annahme, dass der Gesetzgeber eine entsprechende Anwendung des § 14 Abs. 2 SGB IV auf den Fall des Bezugs von Sozialleistungen gewollt hätte. Vielmehr ist davon auszugehen, dass dann eine entsprechende - ausdrückliche - gesetzliche Regelung erfolgt wäre; schließlich stellt sich die hier zu entscheidende Frage im Zusammenhang mit jeder Sozialleistung und damit in einer Vielzahl von Fällen.

Auch das Argument der Beklagten, der Kläger stehe besser als ein Arbeitnehmer mit einem entsprechenden Nettoeinkommen, ist nicht überzeugend. Die Höhe der dem Kläger vom Arbeitsamt gewährten Leistungen richtet sich u.a. nach dem früher vom Kläger bezogenen Arbeitsentgelt. Die Verhältnisse des Klägers sind deshalb nicht ohne weiteres vergleichbar mit einem Arbeitnehmer, der ein Nettoarbeitsentgelt in Höhe der vom Kläger jetzt bezogenen Sozialleistungen erhält. Die Beklagte stellt (nur) allgemeine Gerechtigkeitserwägungen an, die willkürlich erscheinen, weil sie sich auf keine gesetzliche Grundlage stützen können. Eine derartige, von der Beklagten offenbar für "gerecht" gehaltene Berücksichtigung eines fiktiven Bruttoeinkommens im Falle des Bezugs von Sozialleistungen könnte nur aufgrund einer vom Gesetzgeber zu schaffenden Grundlage erfolgen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Anlass, die Revision zuzulassen, hat nicht bestanden.
Rechtskraft
Aus
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