Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 4 U 105/94
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 19/97
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Vorschriften über den Sonderentscheid können auch noch nach 1991 angewandt werden. Einer Obergutachtenkommission bedarf es dazu nicht.
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 7. November 1996 mit dem Bescheid vom 11. Januar 1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. November 1994 aufgehoben, als Berufskrankheit wird eine chronisch obstruktive Atemwegserkrankung des Klägers festgestellt und die Beklagte verurteilt, dem Kläger eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 30 v. H. ab 1. Dezember 1991 zu gewähren. II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten. Im Übrigen sind Kosten nicht zuerstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte die Lungenerkrankung des Klägers als Berufskrankheit anzuerkennen und zu entschädigen hat.
Der am ...1937 geborene Kläger absolvierte von 1951 bis 1953 eine Facharbeiterausbildung zum Sägewerker und arbeitete im Anschluss daran als Geselle im VEB S ..., K ... Vom 01.10.1954 bis zum 31.07.1957 studierte er an der Ingenieurschule für Holztechnologie, D ..., und erreichte den Abschluss als Ingenieur der Fachrichtung Rohholzbearbeitung-Holzwerkstoffe. Er arbeitete sodann als Fertigungstechnologe im VEB H ...werke, L ... (01.09.1957 bis 31.01.1962), wobei er täglich ca. 6 bis 7 Stunden seiner Arbeitszeit an einer Spanplattenanlage vom Typ SPA 16 (Lieferant: Firma B ..., K ...) verbrachte, an der pro Schicht ca. 7,5 Tonnen Harnstoff-Formaldehydleim mit einem Gehalt an freiem Formaldehyd von 0,8 - 1,3 % verarbeitet wurde. Der Formaldehydgehalt in der Atemluft hat die damals zulässigen Grenzwerte deutlich überschritten. Nachdem beim Kläger 1961 ein Asthma-bronchiale ausgebrochen war, wurde er als wissenschaftlich-technischer Berater in der "Forschungs- und Entwicklungsstelle für Spanplatten" in L ..., B ..., eingesetzt. Hier hatte er nicht täglich, jedoch öfters für mehrere Wochen hintereinander an den Spanplattenanlagen in formaldehydbelasteter Luft zu arbeiten. Ab 1963 wurde Spanplattenleim mit einer geringeren Formaldehydkonzentration (0,6 - 0,9 %) verwendet. Ab Dezember 1965 hatte der Kläger keinen beruflichen Kontakt mehr mit Formaldehyd.
Mit Schreiben vom 23.12.1991 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Anerkennung seines Asthma-bronchiale als Berufskrankheit. Diese zog Dr. med. L1 ..., Facharzt für Innere Medizin, Pulmulogie/Allergologie, als Sachverständigen heran, der beim Kläger aufgrund einer Schlaf-Labor-Untersuchung ein augeprägtes schweres Apnoe-Syndrom feststellte, ferner einen arteriellen Hypertonus und eine chronisch obstruktive Bronchitis mit Lungenemphysem. Die jetzige Lungenfunktionsprüfung habe jedoch keine schwere bronchio-pulmonale Symptomatik ergeben. Ob es sich bei der obstruktiven Ventilationsstörung um eine allergische Reaktion handele, sei nicht mit Sicherheit zu belegen. Die Reaktion im Test auf hohe Konzentrationen von Formaldehyd sei als toxisch irritativ zu deuten. Es sei nicht zu belegen, dass die Erkrankung unmittelbar am Arbeitsplatz ihren Anfang genommen habe, da der Kläger die Exposition gegenüber Holzstaub und Formaldehyd bis 1961 reaktionslos vertragen habe und es erstmals während des Urlaubs zu einer schweren obstruktiven Ventilationsstörung gekommen sei. Dieser erste Atemnotanfall sei offensichtlich infektbedingt gewesen und habe die bronchiale Reagibilität hin zur Hyperreagibilität verschoben. In der Folgezeit sei es dann zu Reaktionen des broncho-pulmonalen Systems bei Reizung durch Formaldehyd und durch andere Reize (kalte Luft, Nebel usw.) gekommen. Die Exposition mit Formaldehyd habe somit bestehende Symptome einer Erkrankung verstärkt, die Erkrankung selbst aber dabei nicht ausgelöst. Inwieweit durch die wiederholte Irritation mit Formaldehyd die vorbestehende Erkrankung (chronische obstruktive Bronchitis) verstärkt bzw. verschlechtert worden sei, lasse sich nicht beweisen, lediglich vermuten. Genauso wahrscheinlich sei aber auch ein entsprechender Verlauf der chronisch obstruktiven Bronchitis ohne die Einwirkung von Formaldehyd. Insgesamt könne aufgrund der vorliegenden Befunde nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass die vorliegende Bronchitis in Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit zu sehen sei. Die funktionellen Einschränkungen (Hypoxämie, latente pulmonale Hypertonie) seien mit großer Wahrscheinlichkeit auf das gleichzeitig vorliegende Schlafapnoe-Syndrom zurückzuführen. Die chronische obstruktive Bronchitis könne daher nicht als Berufskrankheit nach Listen-Nr. 4302 angesehen werden. Der Sachverständige weist darauf hin, dass er sich bei dieser Feststellung der schädigenden Potenz von Formaldehyd auf das Bronchialsystem bewusst sei. In ihrer Stellungnahme vom 12.11.1993 hat sich Frau Dr. med. B1 ..., Fachärztin für Arbeitsmedizin, Sächsisches Landesinstitut für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, der Einschätzung von Dr. med. L1 ... angeschlossen.
Mit Bescheid vom 11.01.1994 lehnte die Beklagte die Anerkennung der Erkrankung des Klägers als Berufskrankheit nach Nr. 81 der Liste der Berufskrankheiten der DDR bzw. nach Nr. 4302 der Berufskrankheiten-Verordnung in der geltenden Fassung ab. Nachdem der Kläger gegen diesen Bescheid mit Schreiben vom 17.01.1994 Widerspruch eingelegt hatte, wandte sich die Beklagte an Prof. Dr. med. habil. S1 ..., Facharzt für Arbeitsmedizin, G ... In seinen Stellungnahmen vom 06.02.1994 und vom 20.08.1994 weist dieser darauf hin, dass Formaldehyd generell eine Berufskrankheit nach Nr. 4302 hervorrufen könne. Beim Kläger sei das Formaldehyd nicht als alleinige Ursache der obstruktiven Atemwegserkrankung anzusehen, es sei vielmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit eine infektbedingte Bronchitis durch berufliche Einflüsse (Formaldehyd) verschlimmert worden. Der berufliche Anteil am Krankheitsgeschehen sei jedoch gering. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit liege unter 20 %. Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers durch Widerspruchsbescheid vom 23.11.1994 zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 27.12.1994 das Sozialgericht Leipzig (SG) angerufen, das Röntgenbilder und ärztliche Unterlagen bei folgenden Ärzten und Einrichtungen beigezogen hat: Universitätsklinikum L ...g - Klinik und Poliklinik für Hautkrankheiten -, Institut für Wehrmedizinalstatistik und Berichtswesen in Remagen, Städtisches Klinikum " ..." L ..., Städtische Klinik L ... - R ... K ... Klinik -, Zentralklinik Bad B ... GmbH - Klinik für Lungenkrankheiten und Tuberkulose -, Dr. med. H1 ... in L ..., Dr. med. B2 ... in L ..., Kinderrehabilitationseinrichtung Bad F ... (Volkssolbad Bad F ...), Reha-Klinik M ... R ... GmbH in Bad K ... sowie die beim Gesundheitsamt der Stadtverwaltung C ... archivierten ärztlichen Unterlagen. Von den Soleheilbädern Bad S ... und Bad S ... war nichts zu erhalten. Außerdem wurde die Schwerbehindertenakte des Klägers beim Amt für Familie und Soziales Leipzig, die Verwaltungsakte der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte Berlin (Erwerbsunfähigsrente) sowie die Verwaltungsakte der Beklagten beigezogen.
Durch Beweisanordnung vom 23.03.1995 hat das SG Prof. Dr. S2 ..., Facharzt für Innere Medizin, Lungen- und Bronchialheilkunde, Allergologie, Krankenhaus D ..., zum ärztlichen Sachverständigen bestellt. Dieser hat in seinem Gutachten vom 27.08.1996 beim Kläger als Erkrankungen eine chronisch-obstruktive Atemwegserkrankung mit zum Untersuchungszeitpunkt leichtgradiger Obstruktion und Restriktion ohne Gasaustauschstörung und ohne relevante Überblähung (unter intensiver medikamentöser Therapie), eine arterielle Hypertonie sowie ein mittels CPAP-Therapie behandeltes Schlafapnoe-Syndrom diagnostiziert. Eine von ihm durchgeführte umfangreiche Literaturrecherche zur Frage, ob Formaldehyd eine chemisch-irritative obstruktive Atemwegserkrankung oder eine Asthma-bronchiale hervorrufen könne, habe keine Hinweise auf einen gesicherten Zusammenhang ergeben. Es sei lediglich bekannt, dass Formaldehyd Reizungen der Schleimhäute und der oberen Luftwege verursache und zu einer allergischen Sensibilisierung führen könne. Eine allergische Reaktion auf Formaldehyd liege beim Kläger jedoch nicht vor. Unter den verschiedenen Gefahrstoffen, die als gesicherte Verursacher von obstruktiver Bronchitis gälten, werde Formaldehyd in der Literatur nicht genannt. In wissenschaftlichen Untersuchungen, mit denen die Auswirkungen verschiedener Stoffe, u.a. von Formaldehyd beobachtet worden seien, seien auch Fälle von Asthma und verschlechterter Lungenfunktion festgestellt worden. Es könne jedoch nicht gesagt werden, welcher der Schadstoffe hierfür verantwortlich zu machen sei. In einer Zusammenschau der zur Verfügung stehenden Literatur lasse sich ein Zusammenhang von Formaldehyd und dem Auftreten von chronisch obstruktiven Atemwegserkrankungen im Sinne einer unspezifischen, nicht allergischen Ursache nicht ausreichend belegen. Daher sei auch die Atemwegserkrankung des Klägers nicht mit Wahrscheinlichkeit in einen Zusammenhang mit der beruflich bedingten Exposition durch Formaldehyd zu bringen. Zu den Ausführungen von Frau Dr. med. B1 ... meint der Sachverständige, es fehlten in der Literatur Hinweise dafür, dass Formaldehyd in der Lage sei, chronisch obstruktive Erkrankungen der Atemwege zu induzieren.
Mit Urteil vom 7.11.1996 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt:
Nach § 551 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) sind Berufskrankheiten wie Arbeitsunfälle zu entschädigen. Diese Vorschrift gilt in den neuen Bundesländern allerdings erst seit dem 01.01.1992 (§ 1148 RVO, eingeführt mit Wirkung ab dem 01.01.1992, BGBl. I S. 1606). Berufskrankheiten, die vor dem 01.01.1992 eingetreten sind und die nach dem Recht der ehemaligen DDR Berufskrankheiten im Sinne der Sozialversicherung waren, gelten als Berufskrankheiten im Sinne der seit dem 01.01.1992 geltenden RVO (§ 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO). Da die berufliche Schadstoffexposition und das erstmalige Auftreten der Lungenerkrankung des Klägers in die 60-er Jahre fallen, kann eine eventuelle Berufskrankheit nur vor dem 01.01.1992 eingetreten sein. Für die Frage, ob eine Berufskrankheit vorliegt, kommt es somit auf das Recht der DDR an. Gemäß § 221 Arbeitsgesetz (AGB) ist eine Berufskrankheit eine Erkrankung, die durch arbeitsbedingte Einflüsse bei der Ausübung bestimmter beruflicher Tätigkeiten bzw. Arbeitsaufgaben hervorgerufen wird und die in der Liste der Berufskrankheiten genannt ist. In der Liste der Berufskrankheiten in der Fassung vom 14.11.1957 (Anlage zu § 1 der Verordnung über Melde- und Entschädigungspflicht bei Berufskrankheiten vom 14.11.1957, GBl. I S. 1) sind Erkrankungen durch Formaldehyd oder obstruktive Atemwegserkrankungen nicht genannt. In Ausnahmefällen können jedoch Krankheiten, die nicht in der Liste der Berufskrankheiten genannt sind, als Berufskrankheit anerkannt werden, wenn sie durch arbeitsbedingte Einflüsse entstanden sind (vgl. § 2 Abs. 2 Verordnung über die Verhütung, Meldung und Begutachtung von Berufskrankheiten vom 26.02.1981, GBl. I S. 137). Ein solcher Kausalzusammenhang zwischen Erkrankung und berufsbedingten Einflüssen ist nur anzunehmen, wenn die Erkrankung mit Wahrscheinlichkeit durch die berufliche Tätigkeit verursacht worden ist. Eine bloße Möglichkeit reicht zur Annahme dieses Zusammenhangs nicht aus. Die beim Kläger vorliegende chronisch obstruktive Atemwegserkrankung ist nicht in diesem Sinne auf die Berufstätigkeit des Klägers zurückzuführen. Zunächst ist festzustellen, daß der Kläger den Einwirkungen von Formaldehyd ausgesetzt war und Formaldehyd geeignet ist, verschiedene Erkrankungen hervorzurufen. Das Gericht geht weiterhin davon aus, daß beim Kläger 1961 erstmals eine Lungenerkrankung ausgebrochen ist, die bis heute als chronisch-obstruktive Atemwegserkrankung mit leichtgradiger Ventilationsstörung fortbesteht. Diese Erkrankung haben sowohl Prof. Dr. med. S2 ... als auch sämtliche Vorgutachter übereinstimmend diagnostiziert. Diese Lungenerkrankung des Klägers ist jedoch nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit auf den beruflichen Einfluß von Formaldehyd zurückzuführen. Das Gericht schließt sich hier den Ausführungen von Prof. Dr. med. S2 ... an, die schlüssig und überzeugend sind. Das Gericht hat keinen Zweifel daran, daß Prof. Dr. med. S2 ... die wissenschaftliche Literatur gründlich genug studiert hat, um auf Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Formaldehyd und Lungenerkrankungen zu stoßen, falls es einen solchen Zusammenhang geben sollte. In der wissenschaftlichen Literatur gibt es lediglich einige Untersuchungen, bei denen Beeinträchtigungen der Lungenfunktion unter Einfluß von Formaldehyd in Kombination mit mehreren anderen Schadstoffen beobachtet wurden. Da in diesen Untersuchungen keine Aussagen zum Verursachungsbeitrag von Formaldehyd gemacht wurden, sind sie zur Annahme eines ursächlichen Zusammenhangs nicht ausreichend. Die genannten Untersuchungen lassen allenfalls die Vermutung zu, daß zwischen Formaldehyd und chemisch-irritativen Atemwegserkrankungen eventuell ein Zusammenhang bestehen könnte, eine Verursachung ist jedoch nicht wahrscheinlich gemacht worden. Verbleiben nach ausreichender Aufklärung des Sachverhalts erhebliche Bedenken, kann nicht zu Gunsten des Versicherten entschieden werden. Vielmehr gilt im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung der Grundsatz der objektiven Beweis- und Feststellungslast, nach dem die Folgen des nicht Festgestelltseins einer Tatsache (des ursächlichen Zusammenhangs) von demjenigen zu tragen sind, der aus dieser Tatsache ein Recht herleiten will. Dies bedeutet, daß die Nichterweislichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen Formaldehydeinwirkung und der Lungenerkrankung zu Lasten des Klägers geht. Die Aussage von Frau Dr. med. B1 ..., daß Formaldehyd in der Lage sei, chronisch-obstruktive Erkrankungen der Atemwege hervorzurufen, ist nicht genauer belegt oder ausgeführt. Für das Gericht war daher die Ansicht von Prof. Dr. med. S2 ... überzeugender, daß es hierfür keine Hinweise gebe. Obwohl Formaldehyd seit Jahrzehnten in vielfältiger Weise verwandt wird und hinsichtlich seiner Wirkungen schon oft untersucht wurde, liegen bis jetzt noch keine Hinweise für die Verursachung von chronisch obstruktiven Atemwegserkrankungen durch Formaldehyd vor. Dies spricht ebenfalls gegen einen kausalen Zusammenhang. Das Vorliegen einer Berufskrankheit durch chemisch-irritativ wirkendes Formaldehyd kann somit nicht angenommen werden. Eine obstruktive Atemwegserkrankung kann zwar auch durch allergisierende Stoffe verursacht werden. Beim Kläger konnte jedoch keine allergische Sensibilisierung gegen Formaldehyd nachgewiesen werden. Dies hat der von Dr. med. L1 ... durchgeführte Allergietest ergeben. Bei diesem Test zeigte der Kläger eine allergische Reaktion lediglich bei Gräsern, Getreide und Hausstaub. Bei Formaldehyd zeigte sich zunächst keine und erst bei höherer Konzentration eine positive Reaktion. Diese Reaktion ist jedoch nicht als Ausdruck einer Allergie gegen Formaldehyd zu werten, sondern als "toxisch irritativ", d.h. als Reaktion der Haut gegen den Giftstoff Formaldehyd.
Gegen das ihm am 3.2.1997 zugestellte Urteil hat der Kläger am 28.2.1997 Berufung eingelegt, daran festgehalten, daß Formaldehyd sehr wohl generell geeignet sei, eine Atemwegserkrankung hervorzurufen und weitere Sachaufklärung angeregt. Auf Nachfrage von Seiten des Senats hat Prof. S2 ... in seiner Stellungnahme v. 25.1.1999 (LSG-Akten Bl. 73) an seiner Auffassung festgehalten, die beim Kläger bestehenden Reizungen der oberen Luftwege seien nicht auf die Exposition mit Formaldehyd zurückzuführen. Der Kläger hat seinerseits eine Äußerung von Doz. Dr. K1 ... (Diagnostik- und Therapiezentrum für umweltmedizinische Erkrankungen, R ...) vorgelegt, in dem dieser eine Fehlinterpretation der erhobenen Befunde rügt und beanstandet, das Gutachten von Prof. S2 ... berücksichtige nicht den aktuellen Wissensstand (LSG-Akten Bl. 118). Die Beklagte hat ihrerseits eine Stellungnahme ihres Beratungsarztes Prof. S1 ... vorgelegt, wonach der geringe Grad der im Jahre 1993 bestehenden Funktionsstörung eine Bestätigung dafür sei, daß die Exposition in den Jahren 1958 bis 1965 nicht gravierend gewesen sein könne (LSG-Akten Bl. 129).
Im Auftrag des Gerichts hat Frau Dr. rer. nat. S3 ..., Leiterin des Instituts für Holztechnologie in D ... zu der Frage Stellung genommen, welchen Schadstoffen der Klage nach den Unterlagen bei seiner Tätigkeit in der Holzverarbeitung ausgesetzt war. Sie führt in ihrem Gutachten vom 28.6.2001 aus:
Dominierende Emissionsquellen in einem Werk zur Herstellung von Spanplatten sind der Spänetrockner, der möglicherweise durch Emissionen aus dem Holz die Umgebungsluft beeinflusst, bzw. der Bereich der Heißpressen, der maßgeblich die Luftqualität an diesen Arbeitsplätzen bestimmt. Ursache für die Emissionen an der Heißpresse sind im Wesentlichen die Aminoplastharze, die auf einer Polykondensation des Harnstoffs mit Formaldehyd zu Harnstoff-Formaldehydharz (UF-Harz) basieren.
In den 60er/70er Jahren, fast bis 1984, wurden Harnstoff-Formaldehydharze eingesetzt, bei denen das Molverhältnis im starken Maße zu Formaldehyd verschoben war, so dass diese Harze sehr formaldehydreich waren. Das hatte zur Folge, dass im Bereich der Heißpresse die Luft mit Formaldehyd angereichert wurde. Der möglichen Gefährdung durch Formaldehyd am Arbeitsplatz wurde durch stufenweise Senkung des MAK-Wertes auf den noch heute gültigen Wert von 0,5 ppm Rechnung getragen. Gegenwärtig sind Bestrebungen im Gange, den Wert sogar auf 0,3 ppm zu senken. Dieser Wert ist nicht vergleichbar mit dem wohnhygienischen Richtwert von 0,1 ppm, der 1977 vom Bundesgesundheitsamt für Aufenthaltsräume empfohlen wurde. Arbeitsplatzanalysen zu Formaldehyd aus den 60er Jahren sind uns für Wiederitzsch nicht bekannt. Den beigefügten Unterlagen aber ist zu entnehmen, dass täglich im Schichtbetrieb 7,5 t UFHarz mit einem freien Formaldehydgehalt von 0,8 - 1,3 % verbraucht wurde. Ein Teil des Formaldehyds dient unter der Hitzeeinwirkung der Presse zur Vernetzung des Harzes. Eine Abschätzung über tatsächlich an der Presse freigesetzten Formaldehyd ist somit schwer nachvollziehbar, da außerdem die Beschreibung der äußeren Bedingungen (wie viel Schichten pro Tag, Luftwechsel, Absaugung etc.) fehlt. Geht man aber von den Messergebnissen 1975 aus, so werden die MAK-Werte für Formaldehyd an der SPA 75 deutlich überschritten, trotz verbesserter Harze und offensichtlicher Veränderungen an der Presse. Es ist daher sicher unstrittig, dass der Kläger in den Jahren 1957 - 1965 in erheblichem Umfang gegen Formaldehyd exponiert war und eine dauerhafte Überschreitung des MAK-Wertes als sicher anzunehmen ist.
Auf die Frage nach weiteren möglichen Schadstoffen sei zunächst Methanol erwähnt. Technisch gewinnt man den Formaldehyd durch Oxydation bzw. Dehydrierung von Methanol in Gegenwart von geeigneten Katalysatoren. Die dabei entstehende 30 - 40 %ige Formaldehydlösung enthält zur Stabilisierung je nach Verwendungszweck 0,5 - 15 % Methanol. Dieses Methanol wird jedoch bei der Herstellung der UF-Harze während des mehrstufigen Kondensationsprozesses, speziell in der sauren Phase, verethert. Diese Aussage wird durch die Angaben der ATOFINA Deutschland GmbH (ehemaligen LEUNA-Werke AG) unterstützt. Bereits zu diesem Zeitpunkt gab es exakte und empfindliche Methoden, sowohl Methanol als auch Formaldehyd zu bestimmen, so dass hier kein analytisches Problem bei der Erfassung zu sehen ist. Methanol als ausschlaggebende Substanz für die Beschwerden des klägers ist somit auszuschließen.
Der Einsatz von Phenoplastharzen in W ... ist uns nicht bekannt. Nach unserer Kenntnis wurden in der Spanplattenanlage SPA 16 in dem genannten Zeitraum ausschließlich UFHarze verarbeitet.
Bezüglich der Anfrage zu Isocyanaten kann eindeutig gesagt werden, dass in der Holzwerkstoffindustrie erst ab Anfang der 70er Jahre zunehmend Isocyanat als Bindemittel eingesetzt wurde. Hierbei handelt es sich überwiegend um lösemittelfreie, nicht modifizierte Phenylisocyanate auf der Basis von polymeren Diphenylmethan 4,4-Diisocyanat (PMDI). Zunächst wurden die Isocyanate, die von der Bayer AG ab 1965 entwickelt wurden, in Laborversuchen für feuchtebeständige Bauspanplatten getestet. So wurden die ersten bauaufsichtlichen Zulassungen für mit Isocyanat (Desmodur 1520 A) verleimte Holzspanplatten mit Phenolharz verleimten Deckschichten erst 1972/1973 erteilt.
Der Kläger ist damit im fraglichen Zeitraum an der SPA 16 nicht mit Isocyanat in Berührung gekommen.
Eine bisher nicht in den Unterlagen beachtete Substanz ist Salzsäure, d.h., Chlorwasserstoff (nicht Halogenkohlenwasserstoff). Säuren sind in der Liste der Berufskrankheiten der DDR aufgeführt (Gesetzblatt Teil I, Nr. 1, Pkt. 16: Erkrankungen der Zähne durch Säuren) ... Mit einer zum Teil drastischen Überschreitung des MAK-Wertes für HCL ... muss ... gerechnet werden.
Dieses Ergebnis ist von der Beklagten weitgehend akzeptiert worden, Einwände sind von ihr nur hinsichtlich der Exposition mit Salzsäure erhoben worden (Stellungnahme v. 28.11.2001: "Bereits mit Schreiben vom 07.07.1994 zur Exposition wurde festgestellt, daß für den Beschäftigungszeitraum 1957 bis 1965 von einer erheblichen Formaldehydexposition ausgegangen werden muß. Eine Überschreitung des derzeit gültigen MAK-Wertes für Formaldehyd kann als sicher angenommen werden. Diese Belastung wird durch die nunmehr vorliegende gutachterliche Stellungnahme von Frau Dr. S3 ... bestätigt. Expositionen gegenüber Methanol, Phenol-Formaldehydharzen sowie Isocyanaten konnten im Rahmen unserer Befragungen im Jahr 1994 offensichtlich nicht ermittelt werden und werden in der Stellungnahme des IHD ebenfalls verneint. Auch hier ist somit eine Übereinstimmung mit unserer damaligen Arbeitsplatzanalyse gegeben. Im letzten Punkt der Stellungnahme des IHD wird postuliert, daß beim Preßvorgang durch die Zugabe der Härtersubstanz Ammoniumchlorid große Mengen Chlorwasserstoff (bzw. Salzsäure) an die Umgebungsluft abgegeben werden. U.E. ist jedoch eine relevante Freisetzung von Chlorwasserstoff im realen technologischen Prozeß nicht wahrscheinlich. Nach entsprechenden Recherchen ergeben sich auch keine Indizien für diesen Sachverhalt.").
Der vom Gericht zum Sachverständigen bestellte Doz. Dr. K2 ..., früher Leiter der Obergutachterkommission in der Deutschen Demokratischen Republik, hat in der gutachterlichen Äußerung vom 25.05.2002 den Zusammenhang der beim Kläger bestehenden chronisch-obstruktiven Atemwegserkrankung mit der beruflichen Formaldehyd-Exposition bejaht und die dadurch bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit auf 30 v. H. eingeschätzt. Er hat ferner die Frage der Anwendbarkeit des Sonderentscheids nach dem Recht der DDR erläutert (Stellungnahme v. 25.11.2002, LSG-Akten Bl. 525 ff.). Diese ist von der Beklagten ausdrücklich als "nachvollziehbar" bezeichnet worden (Schr. v. 10.1.2003, LSG-Akten Bl. 541). Die mit Beschluss v. 08.02.1999 beigeladene Techniker Krankenkasse sieht die Voraussetzungen für die Anerkennung als Berufskrankheit für erfüllt an (Schr. v. 09.04.2003, LSG-Akten Bl. 552).
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 07.11.1996 mit dem Bescheid vom 11.01.1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.11.1994 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die chronisch obstruktive Atemwegserkrankung des Klägers als Berufskrankheit anzuerkennen und zu entschädigen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie ist der Ansicht, dass beim Kläger keine Berufskrankheit vorliegt. Sie verweist darauf, dass nach den Angaben des Hauptverbandes zur BK 4302 für den Zeitraum von 1978- 2001 4 anerkannte Fälle infolge von Formaldehydeinwirkung der Holzaufbereiter ausgewiesen werden. Diese Angaben seien aber nicht Maßstab im Vergleich zu den von der Obergutachterkommision nach Sonderentscheid entschiedenen Berufskrankheiten der oberen und tieferen Atemwege und Lungen durch chemisch-irritative Stoffe. Hierzu werde auf die Sonderschrift 4, Berufskrankheiten im Gebiet der neuen Bundesländer 1945-1990, Schriftreihe der Bundesanstalt für Arbeitsmedizin, Auflage 1994, Seite 76-79 verwiesen. Es fehle bei vorliegendem Sachverhalt an einer signifikanten Anerkennungsquote unter Berücksichtigung der vom Kläger ausgeübten schädigenden Tätigkeit. Außerdem bezweifelt sie, dass beim Kläger bereits im maßgebenden Zeitraum eine erhebliche Funktionsbeeinträchtigung der Lunge bestand.
Dem Senat liegen neben den Prozessakten beider Rechtszüge die Verwaltungsakten vor.
Entscheidungsgründe:
Die fristgemäß eingelegte und auch sonst zulässige Berufung ist begründet. Zu Unrecht hat das SG die Klage abgewiesen, denn dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch zu.
Wie bereits das SG zutreffend ausgeführt hat, sind nach § 551 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) Berufskrankheiten wie Arbeitsunfälle zu entschädigen. Dabei gelten Berufskrankheiten, die vor dem 01.01.1992 eingetreten sind und die nach dem Recht der DDR Berufskrankheiten im Sinne der Sozialversicherung waren, als Berufskrankheiten im Sinne der seit dem 01.01.1992 geltenden RVO (§ 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO). Da der Kläger die als Ursache seines Leidens in Betracht kommende Exposition gegenüber Formaldehyd bereits 1965 aufgegeben hat und die Erkrankung - "Asthma bronchiale" - bereits zu diesem Zeitpunkt bestand, kann nur das vor dem 01.01.1992 im Beitrittsgebiet geltende Recht anzuwenden sein.
Dass der Kläger an einer obstruktiven Atemwegserkrankung leidet, steht anhand der medizinischen Unterlagen fest und wird auch von denen, welche eine Berufskrankheit verneinen, nicht bestritten. Fraglich ist die Rechtsgrundlage einer möglichen Anerkennung. In seinem Gutachten ist Doz. Dr. K2 ... zu dem Ergebnis gelangt, dass sich die beim Kläger als Folge beruflicher Formaldehydexposition bis 1965 dokumentierte Atemwegserkrankung unter die Nr. 81 der Liste der Berufskrankheiten (BKVO/DDR) einordnen lässt. Nun ist jedoch diese Liste erst im Mai 1981 in Kraft getreten, während sich die Erkrankung nach den Ausführungen im Gutachten bereits bis in das Jahr 1961 zurückverfolgen lässt und seit 1965 bis zur Gegenwart in chronifizierter Form weiterbesteht. Damit stellt sich die Frage nach der exakten Rechtsgrundlage, die für eine Anerkennung der Erkrankung als Berufskrankheit in Betracht kommen könnte. Denn zum Zeitpunkt der Entstehung und Chronifizierung der Erkrankung galt die Verordnung über Melde- und Entschädigungspflicht bei Berufskrankheiten vom 14. November 1957. Die entsprechende Liste der Berufskrankheiten (Anlage zu § 1) führt zwar unter der Nr. 10 "Erkrankungen durch Methanol" bzw. unter Nr. 11 "Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe" auf, Formaldehyd wird jedoch nicht genannt. Es ist aber im Anschluss an das Gutachten des Instituts für Holztechnologie und die Stellungnahme der Beklagten dazu eine Exposition durch Methanol ausgeschlossen und eine Exposition gegen Chlorwasserstoffsäure zumindest zweifelhaft. Auch findet sich darüber hinaus in dieser Verordnung keine dem § 2 Abs. 2 VO 1981 ("Krankheiten, die nicht in der Liste der Berufskrankheiten genannt sind, können im Ausnahmefall als Berufkrankheit anerkannt werden, wenn sie durch arbeitsbedingten Einflüsse entstanden sind") entsprechende Vorschrift. Es handelt sich jedoch bei jenen Erkrankungen um solche Berufskrankheiten, deren Anerkennung im Sonderentscheidverfahren vorgeschlagen sind (Konetzke in: Konetzke / Rebohle / Heuchert, Berufskrankheiten, Berlin 3. Aufl. 1988 S. 25). Aufgrund seiner Tätigkeit insbesondere auch in der Obergutachtenkommission hat sich der Senat an Dr. K2 ... gewandt, davon ausgehend, dass diesem auch die besonderen Umstände des Verfahrens im Be- rufskrankheitenrecht der DDR und die Prinzipien der Anerkennungspraxis vertraut sind. Der Senat hat deshalb Doz. Dr. K ... gebeten, zu den sich daraus ergebenden Fragen ergänzend Stellung zu nehmen. In seiner gutachterlichen Stellungnahme vom 12.11.2002 hat Doz. Dr. K2 ... die den Sonderentscheid betreffende Rechtslage erläutert. Danach galten für die Anerkennung von Berufskrankheiten eine Reihe von Voraussetzungen, nämlich: eine nachgewiesene Überschreitung der arbeitshygienischen Grenzwerte für den angeschuldigten Schadstoff; Dauer und Intensität der Exposition ausreichend zur Induktion des Krankheitsbildes; gesicherte Diagnose; erwiesene oder wahrscheinliche Kausalität zwischen Schadfaktor und erwartbarer Krankheit; Ausschluss außerberuflicher Ursachen oder zumindest kein Überwiegen derselben.
Das Anerkennungs- und Entschädigungsverfahrens folgte den etwas unterschiedlichen gesetzlichen Gegebenheiten, wie sie sich im Laufe mehrerer Jahrzehnte in beiden deutschen Teilstaaten entwickelt hatten, zeigte aber im Prinzip keine wesentlichen Abweichungen. Das Berufskrankheitsrecht kannte expressis verbis keine Unterscheidung zwischen dem "Versicherungsprinzip" und dem "Antragsprinzip", sondern war im Grunde in beiden Richtungen auslegbar. In aller Regel galt aber das Versicherungsprinzip. Es mussten also zum Zeitpunkt der Erkrankung - ggf. auch rückblickend - nachweislich ausreichende Kenntnisse zur Kausalität vorhanden sein, und dies natürlich sowohl für Listen-BK s als auch solche, die im Sonderentscheidverfahren (BKSE) zu behandeln waren. Die Informationen, welche den ursächlichen Zusammenhang zwischen angeschuldigtem Schadfaktor und versicherungspflichtiger Arbeitstätigkeit mit Wahrscheinlichkeit nahelegen sollten, waren Forschungsberichten, aktuellen Einzelpublikationen, Standardwerken der Fachliteratur und eigene Erfahrungen zu entnehmen und entsprechend dem jeweiligen Schwierigkeitsgrad der Fragestellung vom Gutachter durch die Fundstellen zu belegen.
Das Sonderentscheidprinzip wurde - wie Doz. Dr. K2 ... darlegt - mit Errichtung der Obergutachtenkommission Berufskrankheiten (OGBK) im Jahre 1956 etabliert. Gesetzliche Grundlage war die 8. Durchführungsbestimmung über die weitere Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter - Arbeitssanitätsinspektion - vom 09.06.1956 (GBI. 1, S. 546), in Verbindung mit Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Gesundheitswesen der DDR vom 25.08.1956, Nr. 9, S. 10, ergänzt durch nicht veröffentlichte Arbeitsanweisungen des Ministeriums für Gesundheitswesen der DDR. Die Voraussetzungen für die Anerkennungsempfehlung der OGBK im Sonderentscheidverfahren waren annähernd die gleichen wie in der BRD bei Anwendung von § 551, Abs. 2 (RVO) - jetzt § 9, Abs. 2, SGB VII -, das heißt, es mussten nach Überzeugung der Mitglieder der OGBK ausreichende neue wissenschaftliche Kenntnisse vorhanden sein, welche den zur Diskussion stehenden ursächlichen Zusammenhang zwischen versicherter Tätigkeit und Erkrankung wahrscheinlich erscheinen ließen. Konkurrierende äußere oder innere Krankheitsursachen durften nicht überwiegen. Die BK-bedingten Krankheitsfolgen sollten einen gewissen Erheblichkeitscharakter haben, d. h. eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von wenigstens 20 bedingen, um Bagatellfälle auszuschließen, für welche ohnehin keine langfristigen Leistungen vorgesehen waren. Die schriftlich begründeten Vorschläge der Obergutachtenkommission Berufskrankheiten zur Anerkennung von Berufskrankheiten im Sonderentscheidverfahren (BKSE) gemäß § 2 BKVO waren vom Bundesvorstand des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), Abt. Sozialversicherung, zu bestätigen und damit rechtskräftig. Bei Einsprüchen im BK- Verfahren waren Bezirksbeschwerdekommissionen für Sozialversicherung des FDGB letzte Instanz (GBI 1, Nr. 8 [1978], S. 111). (Konetzke et al., Gesetzliche Grundlagen zur Meldung, Begutachtung und Entschädigung bei Berufskrankheiten, S. 28-29).
Nach Kenntnis und Erfahrung von Doz. Dr. K2 ... wären bereits 1965 die Voraussetzungen für die Anerkennung der Atemwegserkrankung des Klägers im Sonderentscheidverfahren vorhanden gewesen, da es bereits zu diesem Zeitpunkt nachweislich eine begrenzte Zahl von Veröffentlichungen in der speziellen Fachliteratur gegeben habe, in welchen die irritativen Eigenschaften des Formaldehyd auf die oberen und tiefen Atemwege beschrieben worden sind. Diese Arbeiten waren den Mitgliedern der OGBK bekannt. Doz. Dr. K2 ... nennt als Beispiele aus den 50er und 60er Jahren die Arbeiten von Holstein, E., Grundriß der Arbeitsmedizin, 3. Auflage, S. 222 J. A. Barth- Verlag, Leipzig 1958 ("Neben starken Reizwirkungen auf die Schleimhäute mit Bronchitis und asthmatischen Zuständen sind auch Brechreiz, Kopfschmerzen, Schwindel und erhöhte Reizbarkeit sowie Schlafstörungen durch Formaldehyd möglich." Diese Beschreibungen werden auch in der 4. Auflage (1964) sowie der 5. Auflage 1969 des oben zitierten Standardwerks wiederholt, ferner Koelsch, F. Handbuch der Berufskrankheiten. 2. Auflage 1959, S. 320 und 403 ("Formaldehyd verursacht starke Reizung der Schleimhäute von Augen und Luftwegen sowie asthmatische Zustände.") sowie Dinischiotu, G. T., Reizgase und Lungenschäden. In: Lunge und Beruf, J. A. Barth- Verlag, Leipzig 1961 (Hrsg.: E. Holstein), S. 214-224 ( "Formaldehyd wirkt irritativ-spastisch auf die Atemwege ... Bereits nach 4- bis 8-jähriger Exposition werden Bronchospasmus, chronische Bronchitis und Emphysem (wie auch bei weiteren Reizgasen) beobachtet ... Formaldehyd sollte - neben Chlor - auch bezüglich interstitieller Lungenveränderungen (Lungenfibrose) nach Langzeiteinwirkung weiter beforscht werden.")
Die Anwendung des Anerkennungsmodus von Berufskrankheiten nach der Rechtslage, die zur Zeit der Antragstellung gültig gewesen ist - also als "Antragsprinzip" -, war möglich, blieb aber auf Ausnahmen beschränkt, da die Problematik dieses Vorgehens der OGBK und den Entscheidungsgremien durchaus bewusst war. Insbesondere wurde mit wachsendem zeitlichen Abstand zwischen Meldung des BK-Verdachts und Erstfeststellung der zu beurteilenden Erkrankung der Ermessensspielraum immer größer, und zwar in dem Maße, wie die Informationslage zu den medizinischen und arbeitstechnischen Daten sich verschlechterte. Gleichwohl gab es einige Fälle, bei denen man auch nach Jahren oder Jahrzehnten rückblickend Verbindliches zur Kausalitätsfrage aussagen konnte. Das betraf z. B. berufsbedingte Infektionskrankheiten wie die Tuberkulose oder aber Staublungenkrankheiten, die allerdings beide in der BK-Liste einen Platz hatten.
Im hier zu beurteilenden Fall sowie bei ähnlich gelagerten Fragestellungen wäre nach den Darlegungen von Doz. Dr. K2 ... für die OGBK entscheidend gewesen, ob Anfang der 60er Jahre bereits nachweislich Kenntnisse über die irritative Wirkung des Formaldehyd auf das Atmungsorgan vorgelegen hatten. Dies ist eindeutig zu bejahen. Somit wären sowohl 1965 als auch 1989 die Voraussetzungen für die Anerkennung als Berufskrankheit als BK-Sonderentscheid oder später BK Nr. 81 (BKVO/DDR) erfüllt gewesen.
Die Darstellung von Doz. Dr. K2 ... ist überzeugend, auch die Beklagte hat sie ausdrücklich als "nachvollziehbar" bezeichnet (Stellungnahme v. 10.01.2003). Der Senat selbst ist in seiner bisherigen Rechtsprechung ebenfalls von der Anwendbarkei des Sonderentscheids auch unter der Geltung des Bundesrechts ausgegangen (ebenso LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 28.11.2001 - L 6 U 46/97).
Auf eine ergänzende Anfrage von Doz. Dr. K2 ... an den Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften, ob und in welchem Umfang Anerkennungen nach dem Recht der Deutschen Demokratischen Republik noch nach 1990 erfolgt seien, hat dieser die Auskunft gegeben, eine Auswertung der Berufskrankheiten-Dokumentation zu der BK-Nr. 4302 für den Zeitraum von 1978-2001 habe 4 anerkannte Fälle der BK-Nr. 4302 von Holzaufbereitern durch die Einwirkung von Formaldehyd ergeben. Aus einer Aufstellung ergäben sich auch die anerkannten Fälle von chronisch obstruktiven Atemwegserkrankungen durch Formaldehyd durch andere Tätigkeitsbereiche bzw. Berufe. In dem Zeitraum seien insgesamt 101 Fälle anerkannt worden.
Der Einwand der Beklagten, es fehle bei vorliegendem Sachverhalt an einer signifikanten Anerkennungsquote unter Berücksichtigung der vom Kläger ausgeübten schädigenden Tätigkeit, vermag nicht zu überzeugen. Insbesondere bleibt der Hinweis auf die Sonderschrift 4, Berufskrankheiten, S. 76 bis 79 unverständlich. Denn dort heißt es ausdrücklich, die Erkrankungen nach BK-Nr. 81 seien insbesondere u.a. bei der Be- und Verarbeitung von Holz entstanden, häufige Ursache von berufsbedingten Atemwegs- und Lungenerkrankungen seien u.a. Aldehyde gewesen (S. 77). Wenn die Beklagte einräumt, es würden immerhin 4 anerkannte Fälle infolge von Formaldehydeinwirkung der Holzaufbereiter ausgewiesen, dann ist damit zugleich die prinzipielle Anerkennungsfähigkeit erwiesen. Denn ersichtlich lässt sich eine Anerkennung nicht von einer vorausgehenden Anerkennungsquote bestimmten Umfangs anhängig machen, da es auf diese Weise nie zu einer ersten Anerkennung kommen könnte.
Der Sache nach folgt Senat den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Doz. Dr. K2 ... im Gutachten vom 25.5.2002. Es hat auch die Beklagte keine prinzipiellen Einwände dagegen erhoben. Beim Kläger besteht eine chronisch obstruktive Atemwegserkrankung als Berufskrankheit.
Prof. S2 ... Gutachten erschöpft sich im hier wesentlichen Bereich auf die Aussage, die Zusammenschau der von ihm eingesehenen Literatur lasse einen Zusammenhang von Formaldehyd und chronisch-obstruktiver Atemwegserkrankung nicht ausreichend belegen (GA S. 31, 46, SG-Akte Bl. 169, 184). Den Ausführungen aber lässt sich nicht entnehmen, dass er einen Zusammenhang aus genau bezeichneten medizinischen Gründen für ausgeschlossen hält. Immerhin aber findet sich bei ihm die Angabe:
Es ist bekannt, wenn auch nicht sehr häufig, dass eine obstruktive Atemwegserkrankung sich plötzlich nach einer akuten Symptomatik manifestiert und danach Beschwerden bleiben. Wenn eine, auch außerberufliche Erstmanifestation aufgetreten ist, so können dann durch Schadstoffe, denen der Betreffende während seiner beruflichen Tätigkeit ausgesetzt ist, Beschwerden und Symptome sowie Funktionsstörungen hervorgerufen oder verschlimmert werden, auch wenn vor diesem ersten Ereignis die gleichen Schadstoffkonzentrationen ohne Beschwerden toleriert wurden.
Diese Äußerungen deuten darauf hin, dass selbst nach Auffassung von Prof. S2 ... der Anfall an der Ostsee nicht die eigentliche Ursache des Krankheitsgeschehens war.
Dem gegenüber erläutert Doz. K2 ... in Kenntnis der einschlägigen Literatur (Gutachten S. 7, LSG-Akte Bl. 464):
Zahlreiche chemische Stoffe, die inhalativ aufgenommen werden, sind Reizgase oder reizgasähnlich wirkende Aerosole. In höherer Konzentration können sie, abhängig von der Atemtrakttoxizität, unter kurzer Einwirkungsdauer zur akuten Reizgasvergiftung bis hin zum toxischen Lungenödem (synonym: toxische Alveolitis oder Pneumonitis) führen, unterhalb der Intoxikationsschwelle bei langfristiger Einwirkung zur obstruktiven chronischen Bronchitis und zu anderen chronischen Krankheiten des Atmungsorgans. Typische Vertreter dieser Stoffgruppe mit sowohl akuter wie chronischer Wirksamkeit sind Halogene, Abbauprodukte von Fluorcarbonen, Stickstoffoxide, Ammoniak, Aldehyde: Formaldehyd u. a., Phosgen, Dimethylsulfat, Cadmiumoxid, Ozon, Isocyanate, Vanadiumpentoxid.
Doz. Dr. K2 ... stellt also klar eine prinzipiell bestehenden Beziehung zwischen Einwirkung (auch) von Formalehyd und obstruktiver Atemwegserkrankung (obstruktiver chronischer Bronchitis) her. Er weist ferner darauf hin, dass bei Stoffen mit sehr ausgeprägter Schadwirkung, z. B. Isocyanate und Formaldehyd, in diesem Konzentrationsbereich unter Umständen wenige Wochen bis Monate als Expositionszeit für eine Krankheitsentwicklung genügen. Im Grundsatz ist davon auszugehen, dass sich die obstruktive Lungenkrankheit noch unter der beruflichen Exposition und nicht erst nach deren Beendigung manifestiert. Irritative Erkrankungszustände beruhen nicht auf einer stoffspezifisch veränderten Reaktionsweise wie allergische Krankheiten (s. BK Nr. 82), sondern sind ätiologisch und pathogenetisch unspezifisch.
Für die Begutachtung bei Verdacht auf eine BK 81 sind die arbeitshygienischen Informationen zur Art, Konzentration und Dauer der beruflichen Schadstoffeinatmung ausschlaggebend, da sie die wichtigste Argumentationsstütze sind (Gutachten S. 9, LSG- Akten Bl. 466).
Was die spezielle Situation des Klägers betrifft, so ist festzustellen, dass der Kläger als Versuchsingenieur von 1957 bis 1961 im L ... H ...werk an einer Pilotanlage zur Herstellung von Spanplatten - hier speziell im Bereich der Heißpresse - und anschließend in der Forschungsstelle B ... mit vergleichbaren Aufgaben bis 1965 gearbeitet hat. Dabei bestand eine ständige grenzwertüberschreitende Exposition gegen Formaldehyddämpfe bis zum 4.6-fachen des MAK-Wertes. Nach Einschätzung von Doz. Dr. K2 ... ist die Exposition - zumindest im ersten Abschnitt der geschilderten Tätigkeit - wahrscheinlich noch bedeutend höher gewesen (S. 10, Bl. 467). Für ihn ergibt sich als Resümee, dass der Kläger für den Zeitraum von 9 Jahren in erheblichem und damit arbeitsmedizinisch relevanten Ausmaß der schichtbegleitenden Einwirkung von Formaldehyd ausgesetzt gewesen ist (ebd.).
Nach den Ausführungen von Doz. Dr. K2 ... gehört Formaldehyd hinsichtlich seiner pathotropen Eigenschaften als Schadstoff bei Arbeitsprozessen und auch der Umwelt zu den ausführlich untersuchten Substanzen. Dabei sind seine Wirkungen bei akuter und subakuter Exposition auf das Hautorgan und die Schleimhäute im Hals-Kopf-Bereich vordergründig gewesen, während Auswirkungen bei Langzeitexpositionen bisher weniger Aufmerksamkeit gefunden haben. Ausnahme ist die Frage der Kanzerogenität von Formaldehyd, zu welcher eine beachtliche Zahl von Publikationen vorliegen.
Bezüglich der irritativen Formaldehydwirkung auf das Atmungsorgan herrscht nach Doz. Dr. K2 ... unter Sachkennern Übereinstimmung bezüglich der starken Reizwirkung auf die oberen Atemwege einschließlich der inneren Nase, weil wegen der leichten Löslichkeit der Substanz der größte Teil des mit dem Luftstrom eingeatmeten Aerosols dort mit der Schleimhaut in Kontakt kommt und auch resorbiert wird. Formaldehydwirkungen auf die tiefen Atemwege und Lunge in Gestalt objektiver Atemwegserkrankungen werden - wie Doz. Dr. K2 ... darlegt - in den Standardwerken der internationalen Literatur zwar nicht einheitlich beurteilt, jedoch in aktuelleren Darstellungen zunehmend akzeptiert. Zwar fehlen im Schrifttum überzeugende epidemiologische Arbeitsergebnisse mit statistisch gesicherter Überrepräsentation von chronischen Atemwegserkrankungen bei Langzeitexposition durch Formaldehyd weitgehend. Demgegenüber besteht aber eine größere Literatur, die sich mit der Bedeutung des Formaldehyd als Allergen für das Atmungsorgan befasst. Die diesbezüglichen Erfahrungen lassen sich beim gegenwärtigen Kenntnisstand nach Doz. Dr. K2 ... dahingehend zusammenfassen, dass Formaldehyd als schwaches Allergen einzustufen ist, welches selten zu Erkrankungen der oberen Atemwege (allergische Rhinitis) oder des bronchopulmonalen Systems (Asthma bronchiale, obstruktive Atemwegserkrankung) führt. Größere Erfahrungen über Formaldehyd-induzierte Erkrankungen des Atmungsorgans gab es in der DDR, wie Doz. Dr. K2 ... erläutert. Allein in der Zeit von 1982 bis 1990 wurden entsprechend den gesetzlichen Vorgaben 74 chronische obstruktive Atemwegserkrankungen als entschädigungspflichtige Berufskrankheiten anerkannt, davon 65 unter der Nr. 81 der Liste der Berufskrankheiten und 9 im Sonderentscheidverfahren. Unter diesen waren 2 Fälle durch Formaldehyd-Holzstäube entstanden. Die durchschnittlichen Expositionszeiten sind überwiegend langjährig gewesen, betrugen aber immerhin bei 13 % der Erkrankungen weniger als 10 Jahre. Bezüglich der Körperschäden (= MdE) lagen überwiegend leichte bis mittlere Grade vor.
Bei den Sonderentscheiden waren jeweils mehrere Noxen mit irritativer Wirkung vorhanden ( Sonderschrift Nr. 4, 1994 der Bundesanstalt für Arbeitsmedizin).
Außer Frage steht, dass Personen mit einer Überempfindlichkeit des Bronchialsystems (bronchiale Hyperreagibilität) auf Schadfaktoren physikalischer oder chemischer Herkunft, mit denen sie beruflich oder außerberuflich in Kontakt kommen, stärker, intensiver und anhaltender reagieren als Menschen mit normaler Reaktionsweise des Atmungsorgans. Diese veränderte Reaktionsbereitschaft bahnt somit den Weg für akute, subchronische und chronische Atemwegserkrankungen. Da dieser Vorgang im Gegensatz zur allergischen Reaktion völlig unspezifisch abläuft, ist es im Prinzip gleichgültig, ob es sich bei dem in Frage stehenden Schadfaktor z. B. um Kälte, Reizgase wie Stickstoffdioxid oder - wie im vorliegenden Fall - um Formaldehyd oder andere handelt.
Nach der den Senat überzeugenden Einschätzung von Doz. Dr. K2 ... reicht das gewonnene Wissen über Langzeitwirkungen von Formaldehyd auf das Atmungsorgan durchaus dazu aus, um im Falle des Klägers eine tragfähige Aussage zur Kausalität formulieren zu können. Das bei diesem vorliegende Krankheitsbild ist unter der Diagnose chronisch obstruktive Bronchitis mit asthmatischer Komponente klar definiert und unstrittig. Diese nachweislich 1961 erstmals und in den folgenden Jahren von mehreren untersuchenden Ärzten übereinstimmend bestätigte bronchopulmonale Erkrankung ist prinzipiell kompatibel mit der Einwirkung irritativer Schadstoffe für das Atmungsorgan. Bei Berücksichtigung der ebenfalls nachgewiesenen permanenten und erheblichen Überschreitung des zulässigen Grenzwertes für Formaldehyd im Tätigkeitsbereich des Klägers einerseits erscheint auch die relativ kurze Expositionsdauer von 4 1/2 Jahren bis zur Feststellung der Erkrankung ausreichend für die Manifestation der chronischen obstruktiven Bronchitis.
Die zu beurteilende Erkrankung manifestierte sich erstmals im August 1961 während eines Urlaubsaufenthaltes mit Beteiligung der oberen Atemwege (Rhinitis), wurde sofort behandlungsbedürftig und ging rasch in das chronische Stadium über. Zwar lässt sich nach 40 Jahren nicht mehr feststellen, ob damals als initiales Ereignis eine Infektion oder ein allergisches Geschehen vorlag. Offensichtlich ist es aber in der Folge dieses Vorganges zu einer Empfindlichkeitssteigerung des Bronchialsystems (bronchiale Hyperreaktivität) gekommen, die dann 1992 bestätigt wurde. Insbesondere in Hinblick auf das Fehlen anderer Ursachen für eine chronische Atemwegserkrankung ist jedenfalls die Schlussfolgerung gerechtfertigt, dass die fortgesetzte Formaldehydexposition dafür verantwortlich war, dass die Erkrankung nicht ausheilte und sich als chronisches Stadium auch nach Expositionsabkehr fortsetzte. Es kommt aber auch der jahrelangen, mit mehrfacher MAK-Wert-Überschreitung einhergehenden Formaldehydexposition zumindest die Bedeutung der richtunggebenden Verschlimmerung der vorbestehenden bronchopulmonalen Erkrankung zu, zumal konkurrierende Ursachen, z. B. Rauchen, nicht vorliegen und die Hyperreagibilität des Bronchialsystems erwiesen ist. Im übrigen schließt der Umstand, dass die Erkrankung sich - wie Prof. S2 ... es ausdrückt - sich während eines Urlaubs an der Ostsee erstmals "manifestiert" hat, nicht aus, dass der eigentliche Krankheitsbeginn im Sinne einer Organschädigung bereits weit eher eingesetzt hat, bis zu diesem Zeitpunkt aber klinisch stumm geblieben ist, die Erkrankung (als organische Veränderung) zu jenem Zeitpunkt also nicht erst "entstanden" sondern sichtbar ("manifest") geworden ist.
Für eine Berufskrankheit nach Nr. 81 (BKVO/DDR) sprechen deshalb zusammenfassend die erwiesene irritative Wirksamkeit von Formaldehyd, die mehrjährige, schichtbegleitend erhebliche Überschreitung der Grenzwerte am Arbeitsplatz, die erwartbare Diagnose chronisch-obstruktive Bronchitis sowie das Fehlen konkurrierender Ursachen für die Erkrankung. Außer Frage steht überdies, dass die chronische Atemwegserkrankung des Klägers nach deren Manifestation durch fortgesetzte Formaldehydexposition weiter unterhalten und richtungsgebend verschlimmert worden ist, was übrigens auch die Vorgutachter mehrheitlich so gesehen haben.
Die als Folge beruflicher Formaldehydexposition - beim Kläger bis 1965 dokumentiert - entstandene Atemwegserkrankung lässt sich entsprechend dem Ergebnis der spezialisierten Diagnostik unter die Nr. 81 der Liste der Berufskrankheiten (BKVO/DDR) bzw. die Prinzipien des Sonderentscheids einordnen. Es handelt sich hier stets um die gleiche Erkrankung, die nach Aktenlage bis 1961 zurückzuverfolgen ist und sich bei wechselndem Ausmaß der Atemwegsobstruktion bis 1965 unter Expositionseinfluss und danach selbständig als chronifizierte Form weiterentwickelte und fortbestand. Es sind keine berufsunabhängigen Faktoren ( z. B. Rauchgewohnheiten, gehäufte Infektanfälligkeit oder Zweitkrankheiten der Lunge) erkennbar, welche Einfluss auf den Verlauf der vorliegenden Atemwegserkrankung hätten nehmen können.
Die Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Doz. Dr. K2 ... mit 30 v. H. ("Die Minderung der Erwerbsfähigkeit durch die Erkrankung des Atmungsorgans wird unter Berücksichtigung der geringgradigen bis mäßigen Funktionseinbußen incl. des latenten pulmonalen Hochdrucks - in L ... 1994 festgestellt - auf 30 % geschätzt. Ursächlich hierfür ist allein die besprochene Schadstoffeinwirkung. Der exzessive arterielle Bluthochdruck des Klägers, welcher ein wesentlicher Grund für seine Invalidisierung gewesen ist, stellt ein eigenständiges Krankheitsbild ohne Beziehung zur vorliegenden bronchopulmonalen Erkrankung dar") ist nicht zu beanstanden; sie entspricht den gängigen Maßstäben (s. z.B. Schönberger/ Mehrtens/ Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Aufl. 1998 S. 989: Ventilation und Atemmechanik leicht eingeschränkt: 20-30 v. H., mäßiggradig eingeschränkt: 30-50 v. H.).
Der FEV1-Wert (forciertes Exspirationsvolumen, das in der ersten Sekunde ausgeatmete Volumen als Maß für den Atemwiderstand, der bei einer obstruktiven Ventilationsstörung erhöht ist) lag bereits beim Spirotest am 6.10.1981 bei 57 % (Bekl.-Akte Bl. 124, 1990: 51 v. H. der Norm, Bekl.-Akte Bl. 55), so dass davon ausgegangen werden kann, dass die Erkrankung in demselben Ausmaß bereits damals bestand. In den medizinischen Unterlagen finden sich wiederholt ähnliche Werte. Die Erkrankung des Klägers hatte offenbar schon unter der Geltung des Rechts der DDR ein stabiles Stadium erreicht. So wurde 1982 eingeschätzt, dass mit einer Änderung der beim Kläger bestehenden Erkrankung nicht zu rechnen sei (Untersuchungsbefund Dr. H2 ... v. 18.11.1982, Beklagten-Akte Bl. 97). Eine Prüfung der Lungenfunktion am 15.10.1991 mit Belastung ergab eine mittelgradige Obstruktion mit mittelgradig erhöhtem Atemwiderstand (Beklagten-Akte Bl. 109, ebenso nach der Prüfung am 18.06.1992, Beklagten-Akte Bl. 114). Auch dies weist auf die Richtigkeit der Einschätzung mit 30 v. H. hin. Zugleich ergibt sich daraus auch, dass die durch die Krankheit hervorgerufene Funktionsbeeinträchtigung bereits bei Anwendung des Rechts der DDR die Bagatellgrenze - von Doz. Dr. K2 ... als Anerkennungsvoraussetzung genannt - überschritten hatte.
Die Zuordnung des arteriellen Bluthochdrucks zur körpereigenen Entstehung durch Doz. Dr. K2 ... entspricht auch der Beurteilung von Prof. S2 ... (Stellungnahme v. 20.01.1999 S. 11, LSG-Akten Bl. 83). Wenn dieser allerdings von Funktionsausfällen "milderen" Grades spricht und sich dabei auf das Gutachten von Prof. L2 ... v. 02.06.1994 beruft , dann ist ihm offenbar ein Lesefehler unterlaufen, denn dort (S. 8, SG- Akte Bl. 15) ist von Funktionsausfällen "mittleren" Grades die Rede. Symptome eines cor pulmonale, auf die sich Doz. Dr. K2 ... zur Stützung seiner Einschätzung bezieht, finden sich schon im Bericht vom 18.04.1990, wo von Belastungshochdruck im kleinen Kreislauf die Rede ist (Bekl.-Akte Bl. 55).
Eine Absenkung der Höhe der berufsbedingten MdE in Hinblick auf ein möglicherweise bereits zuvor berufsunabhängig entstandenes Atemwegsleiden ist nicht vorzunehmen. Denn der erstmalige Atemnotanfall an der Ostsee im Jahre 1961 bedingt als solcher noch keinen erheblichen Körperschaden. Dieser ist erst - verursacht durch die fortgesetzte Formaldehydexposition - im Laufe der Folgezeit entstanden und führte dann dazu, dass der Kläger im Jahre 1965 - bedingt durch die inzwischen eingetretene starke Ausprägung der Erkrankung - endgültig auf einen Arbeitsplatz ohne Formaldehydexposition wechselte.
Das Verwaltungsverfahren hat noch im Dezember 1991 begonnen (Bekl.-Akte Bl. 2), so dass gem. § 1156 Abs. 1 RVO der Rentenbeginn mit dem 1.12.1991 festzusetzen ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG; die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 SGG) liegen nicht vor.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte die Lungenerkrankung des Klägers als Berufskrankheit anzuerkennen und zu entschädigen hat.
Der am ...1937 geborene Kläger absolvierte von 1951 bis 1953 eine Facharbeiterausbildung zum Sägewerker und arbeitete im Anschluss daran als Geselle im VEB S ..., K ... Vom 01.10.1954 bis zum 31.07.1957 studierte er an der Ingenieurschule für Holztechnologie, D ..., und erreichte den Abschluss als Ingenieur der Fachrichtung Rohholzbearbeitung-Holzwerkstoffe. Er arbeitete sodann als Fertigungstechnologe im VEB H ...werke, L ... (01.09.1957 bis 31.01.1962), wobei er täglich ca. 6 bis 7 Stunden seiner Arbeitszeit an einer Spanplattenanlage vom Typ SPA 16 (Lieferant: Firma B ..., K ...) verbrachte, an der pro Schicht ca. 7,5 Tonnen Harnstoff-Formaldehydleim mit einem Gehalt an freiem Formaldehyd von 0,8 - 1,3 % verarbeitet wurde. Der Formaldehydgehalt in der Atemluft hat die damals zulässigen Grenzwerte deutlich überschritten. Nachdem beim Kläger 1961 ein Asthma-bronchiale ausgebrochen war, wurde er als wissenschaftlich-technischer Berater in der "Forschungs- und Entwicklungsstelle für Spanplatten" in L ..., B ..., eingesetzt. Hier hatte er nicht täglich, jedoch öfters für mehrere Wochen hintereinander an den Spanplattenanlagen in formaldehydbelasteter Luft zu arbeiten. Ab 1963 wurde Spanplattenleim mit einer geringeren Formaldehydkonzentration (0,6 - 0,9 %) verwendet. Ab Dezember 1965 hatte der Kläger keinen beruflichen Kontakt mehr mit Formaldehyd.
Mit Schreiben vom 23.12.1991 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Anerkennung seines Asthma-bronchiale als Berufskrankheit. Diese zog Dr. med. L1 ..., Facharzt für Innere Medizin, Pulmulogie/Allergologie, als Sachverständigen heran, der beim Kläger aufgrund einer Schlaf-Labor-Untersuchung ein augeprägtes schweres Apnoe-Syndrom feststellte, ferner einen arteriellen Hypertonus und eine chronisch obstruktive Bronchitis mit Lungenemphysem. Die jetzige Lungenfunktionsprüfung habe jedoch keine schwere bronchio-pulmonale Symptomatik ergeben. Ob es sich bei der obstruktiven Ventilationsstörung um eine allergische Reaktion handele, sei nicht mit Sicherheit zu belegen. Die Reaktion im Test auf hohe Konzentrationen von Formaldehyd sei als toxisch irritativ zu deuten. Es sei nicht zu belegen, dass die Erkrankung unmittelbar am Arbeitsplatz ihren Anfang genommen habe, da der Kläger die Exposition gegenüber Holzstaub und Formaldehyd bis 1961 reaktionslos vertragen habe und es erstmals während des Urlaubs zu einer schweren obstruktiven Ventilationsstörung gekommen sei. Dieser erste Atemnotanfall sei offensichtlich infektbedingt gewesen und habe die bronchiale Reagibilität hin zur Hyperreagibilität verschoben. In der Folgezeit sei es dann zu Reaktionen des broncho-pulmonalen Systems bei Reizung durch Formaldehyd und durch andere Reize (kalte Luft, Nebel usw.) gekommen. Die Exposition mit Formaldehyd habe somit bestehende Symptome einer Erkrankung verstärkt, die Erkrankung selbst aber dabei nicht ausgelöst. Inwieweit durch die wiederholte Irritation mit Formaldehyd die vorbestehende Erkrankung (chronische obstruktive Bronchitis) verstärkt bzw. verschlechtert worden sei, lasse sich nicht beweisen, lediglich vermuten. Genauso wahrscheinlich sei aber auch ein entsprechender Verlauf der chronisch obstruktiven Bronchitis ohne die Einwirkung von Formaldehyd. Insgesamt könne aufgrund der vorliegenden Befunde nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass die vorliegende Bronchitis in Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit zu sehen sei. Die funktionellen Einschränkungen (Hypoxämie, latente pulmonale Hypertonie) seien mit großer Wahrscheinlichkeit auf das gleichzeitig vorliegende Schlafapnoe-Syndrom zurückzuführen. Die chronische obstruktive Bronchitis könne daher nicht als Berufskrankheit nach Listen-Nr. 4302 angesehen werden. Der Sachverständige weist darauf hin, dass er sich bei dieser Feststellung der schädigenden Potenz von Formaldehyd auf das Bronchialsystem bewusst sei. In ihrer Stellungnahme vom 12.11.1993 hat sich Frau Dr. med. B1 ..., Fachärztin für Arbeitsmedizin, Sächsisches Landesinstitut für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, der Einschätzung von Dr. med. L1 ... angeschlossen.
Mit Bescheid vom 11.01.1994 lehnte die Beklagte die Anerkennung der Erkrankung des Klägers als Berufskrankheit nach Nr. 81 der Liste der Berufskrankheiten der DDR bzw. nach Nr. 4302 der Berufskrankheiten-Verordnung in der geltenden Fassung ab. Nachdem der Kläger gegen diesen Bescheid mit Schreiben vom 17.01.1994 Widerspruch eingelegt hatte, wandte sich die Beklagte an Prof. Dr. med. habil. S1 ..., Facharzt für Arbeitsmedizin, G ... In seinen Stellungnahmen vom 06.02.1994 und vom 20.08.1994 weist dieser darauf hin, dass Formaldehyd generell eine Berufskrankheit nach Nr. 4302 hervorrufen könne. Beim Kläger sei das Formaldehyd nicht als alleinige Ursache der obstruktiven Atemwegserkrankung anzusehen, es sei vielmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit eine infektbedingte Bronchitis durch berufliche Einflüsse (Formaldehyd) verschlimmert worden. Der berufliche Anteil am Krankheitsgeschehen sei jedoch gering. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit liege unter 20 %. Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers durch Widerspruchsbescheid vom 23.11.1994 zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 27.12.1994 das Sozialgericht Leipzig (SG) angerufen, das Röntgenbilder und ärztliche Unterlagen bei folgenden Ärzten und Einrichtungen beigezogen hat: Universitätsklinikum L ...g - Klinik und Poliklinik für Hautkrankheiten -, Institut für Wehrmedizinalstatistik und Berichtswesen in Remagen, Städtisches Klinikum " ..." L ..., Städtische Klinik L ... - R ... K ... Klinik -, Zentralklinik Bad B ... GmbH - Klinik für Lungenkrankheiten und Tuberkulose -, Dr. med. H1 ... in L ..., Dr. med. B2 ... in L ..., Kinderrehabilitationseinrichtung Bad F ... (Volkssolbad Bad F ...), Reha-Klinik M ... R ... GmbH in Bad K ... sowie die beim Gesundheitsamt der Stadtverwaltung C ... archivierten ärztlichen Unterlagen. Von den Soleheilbädern Bad S ... und Bad S ... war nichts zu erhalten. Außerdem wurde die Schwerbehindertenakte des Klägers beim Amt für Familie und Soziales Leipzig, die Verwaltungsakte der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte Berlin (Erwerbsunfähigsrente) sowie die Verwaltungsakte der Beklagten beigezogen.
Durch Beweisanordnung vom 23.03.1995 hat das SG Prof. Dr. S2 ..., Facharzt für Innere Medizin, Lungen- und Bronchialheilkunde, Allergologie, Krankenhaus D ..., zum ärztlichen Sachverständigen bestellt. Dieser hat in seinem Gutachten vom 27.08.1996 beim Kläger als Erkrankungen eine chronisch-obstruktive Atemwegserkrankung mit zum Untersuchungszeitpunkt leichtgradiger Obstruktion und Restriktion ohne Gasaustauschstörung und ohne relevante Überblähung (unter intensiver medikamentöser Therapie), eine arterielle Hypertonie sowie ein mittels CPAP-Therapie behandeltes Schlafapnoe-Syndrom diagnostiziert. Eine von ihm durchgeführte umfangreiche Literaturrecherche zur Frage, ob Formaldehyd eine chemisch-irritative obstruktive Atemwegserkrankung oder eine Asthma-bronchiale hervorrufen könne, habe keine Hinweise auf einen gesicherten Zusammenhang ergeben. Es sei lediglich bekannt, dass Formaldehyd Reizungen der Schleimhäute und der oberen Luftwege verursache und zu einer allergischen Sensibilisierung führen könne. Eine allergische Reaktion auf Formaldehyd liege beim Kläger jedoch nicht vor. Unter den verschiedenen Gefahrstoffen, die als gesicherte Verursacher von obstruktiver Bronchitis gälten, werde Formaldehyd in der Literatur nicht genannt. In wissenschaftlichen Untersuchungen, mit denen die Auswirkungen verschiedener Stoffe, u.a. von Formaldehyd beobachtet worden seien, seien auch Fälle von Asthma und verschlechterter Lungenfunktion festgestellt worden. Es könne jedoch nicht gesagt werden, welcher der Schadstoffe hierfür verantwortlich zu machen sei. In einer Zusammenschau der zur Verfügung stehenden Literatur lasse sich ein Zusammenhang von Formaldehyd und dem Auftreten von chronisch obstruktiven Atemwegserkrankungen im Sinne einer unspezifischen, nicht allergischen Ursache nicht ausreichend belegen. Daher sei auch die Atemwegserkrankung des Klägers nicht mit Wahrscheinlichkeit in einen Zusammenhang mit der beruflich bedingten Exposition durch Formaldehyd zu bringen. Zu den Ausführungen von Frau Dr. med. B1 ... meint der Sachverständige, es fehlten in der Literatur Hinweise dafür, dass Formaldehyd in der Lage sei, chronisch obstruktive Erkrankungen der Atemwege zu induzieren.
Mit Urteil vom 7.11.1996 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt:
Nach § 551 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) sind Berufskrankheiten wie Arbeitsunfälle zu entschädigen. Diese Vorschrift gilt in den neuen Bundesländern allerdings erst seit dem 01.01.1992 (§ 1148 RVO, eingeführt mit Wirkung ab dem 01.01.1992, BGBl. I S. 1606). Berufskrankheiten, die vor dem 01.01.1992 eingetreten sind und die nach dem Recht der ehemaligen DDR Berufskrankheiten im Sinne der Sozialversicherung waren, gelten als Berufskrankheiten im Sinne der seit dem 01.01.1992 geltenden RVO (§ 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO). Da die berufliche Schadstoffexposition und das erstmalige Auftreten der Lungenerkrankung des Klägers in die 60-er Jahre fallen, kann eine eventuelle Berufskrankheit nur vor dem 01.01.1992 eingetreten sein. Für die Frage, ob eine Berufskrankheit vorliegt, kommt es somit auf das Recht der DDR an. Gemäß § 221 Arbeitsgesetz (AGB) ist eine Berufskrankheit eine Erkrankung, die durch arbeitsbedingte Einflüsse bei der Ausübung bestimmter beruflicher Tätigkeiten bzw. Arbeitsaufgaben hervorgerufen wird und die in der Liste der Berufskrankheiten genannt ist. In der Liste der Berufskrankheiten in der Fassung vom 14.11.1957 (Anlage zu § 1 der Verordnung über Melde- und Entschädigungspflicht bei Berufskrankheiten vom 14.11.1957, GBl. I S. 1) sind Erkrankungen durch Formaldehyd oder obstruktive Atemwegserkrankungen nicht genannt. In Ausnahmefällen können jedoch Krankheiten, die nicht in der Liste der Berufskrankheiten genannt sind, als Berufskrankheit anerkannt werden, wenn sie durch arbeitsbedingte Einflüsse entstanden sind (vgl. § 2 Abs. 2 Verordnung über die Verhütung, Meldung und Begutachtung von Berufskrankheiten vom 26.02.1981, GBl. I S. 137). Ein solcher Kausalzusammenhang zwischen Erkrankung und berufsbedingten Einflüssen ist nur anzunehmen, wenn die Erkrankung mit Wahrscheinlichkeit durch die berufliche Tätigkeit verursacht worden ist. Eine bloße Möglichkeit reicht zur Annahme dieses Zusammenhangs nicht aus. Die beim Kläger vorliegende chronisch obstruktive Atemwegserkrankung ist nicht in diesem Sinne auf die Berufstätigkeit des Klägers zurückzuführen. Zunächst ist festzustellen, daß der Kläger den Einwirkungen von Formaldehyd ausgesetzt war und Formaldehyd geeignet ist, verschiedene Erkrankungen hervorzurufen. Das Gericht geht weiterhin davon aus, daß beim Kläger 1961 erstmals eine Lungenerkrankung ausgebrochen ist, die bis heute als chronisch-obstruktive Atemwegserkrankung mit leichtgradiger Ventilationsstörung fortbesteht. Diese Erkrankung haben sowohl Prof. Dr. med. S2 ... als auch sämtliche Vorgutachter übereinstimmend diagnostiziert. Diese Lungenerkrankung des Klägers ist jedoch nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit auf den beruflichen Einfluß von Formaldehyd zurückzuführen. Das Gericht schließt sich hier den Ausführungen von Prof. Dr. med. S2 ... an, die schlüssig und überzeugend sind. Das Gericht hat keinen Zweifel daran, daß Prof. Dr. med. S2 ... die wissenschaftliche Literatur gründlich genug studiert hat, um auf Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Formaldehyd und Lungenerkrankungen zu stoßen, falls es einen solchen Zusammenhang geben sollte. In der wissenschaftlichen Literatur gibt es lediglich einige Untersuchungen, bei denen Beeinträchtigungen der Lungenfunktion unter Einfluß von Formaldehyd in Kombination mit mehreren anderen Schadstoffen beobachtet wurden. Da in diesen Untersuchungen keine Aussagen zum Verursachungsbeitrag von Formaldehyd gemacht wurden, sind sie zur Annahme eines ursächlichen Zusammenhangs nicht ausreichend. Die genannten Untersuchungen lassen allenfalls die Vermutung zu, daß zwischen Formaldehyd und chemisch-irritativen Atemwegserkrankungen eventuell ein Zusammenhang bestehen könnte, eine Verursachung ist jedoch nicht wahrscheinlich gemacht worden. Verbleiben nach ausreichender Aufklärung des Sachverhalts erhebliche Bedenken, kann nicht zu Gunsten des Versicherten entschieden werden. Vielmehr gilt im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung der Grundsatz der objektiven Beweis- und Feststellungslast, nach dem die Folgen des nicht Festgestelltseins einer Tatsache (des ursächlichen Zusammenhangs) von demjenigen zu tragen sind, der aus dieser Tatsache ein Recht herleiten will. Dies bedeutet, daß die Nichterweislichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen Formaldehydeinwirkung und der Lungenerkrankung zu Lasten des Klägers geht. Die Aussage von Frau Dr. med. B1 ..., daß Formaldehyd in der Lage sei, chronisch-obstruktive Erkrankungen der Atemwege hervorzurufen, ist nicht genauer belegt oder ausgeführt. Für das Gericht war daher die Ansicht von Prof. Dr. med. S2 ... überzeugender, daß es hierfür keine Hinweise gebe. Obwohl Formaldehyd seit Jahrzehnten in vielfältiger Weise verwandt wird und hinsichtlich seiner Wirkungen schon oft untersucht wurde, liegen bis jetzt noch keine Hinweise für die Verursachung von chronisch obstruktiven Atemwegserkrankungen durch Formaldehyd vor. Dies spricht ebenfalls gegen einen kausalen Zusammenhang. Das Vorliegen einer Berufskrankheit durch chemisch-irritativ wirkendes Formaldehyd kann somit nicht angenommen werden. Eine obstruktive Atemwegserkrankung kann zwar auch durch allergisierende Stoffe verursacht werden. Beim Kläger konnte jedoch keine allergische Sensibilisierung gegen Formaldehyd nachgewiesen werden. Dies hat der von Dr. med. L1 ... durchgeführte Allergietest ergeben. Bei diesem Test zeigte der Kläger eine allergische Reaktion lediglich bei Gräsern, Getreide und Hausstaub. Bei Formaldehyd zeigte sich zunächst keine und erst bei höherer Konzentration eine positive Reaktion. Diese Reaktion ist jedoch nicht als Ausdruck einer Allergie gegen Formaldehyd zu werten, sondern als "toxisch irritativ", d.h. als Reaktion der Haut gegen den Giftstoff Formaldehyd.
Gegen das ihm am 3.2.1997 zugestellte Urteil hat der Kläger am 28.2.1997 Berufung eingelegt, daran festgehalten, daß Formaldehyd sehr wohl generell geeignet sei, eine Atemwegserkrankung hervorzurufen und weitere Sachaufklärung angeregt. Auf Nachfrage von Seiten des Senats hat Prof. S2 ... in seiner Stellungnahme v. 25.1.1999 (LSG-Akten Bl. 73) an seiner Auffassung festgehalten, die beim Kläger bestehenden Reizungen der oberen Luftwege seien nicht auf die Exposition mit Formaldehyd zurückzuführen. Der Kläger hat seinerseits eine Äußerung von Doz. Dr. K1 ... (Diagnostik- und Therapiezentrum für umweltmedizinische Erkrankungen, R ...) vorgelegt, in dem dieser eine Fehlinterpretation der erhobenen Befunde rügt und beanstandet, das Gutachten von Prof. S2 ... berücksichtige nicht den aktuellen Wissensstand (LSG-Akten Bl. 118). Die Beklagte hat ihrerseits eine Stellungnahme ihres Beratungsarztes Prof. S1 ... vorgelegt, wonach der geringe Grad der im Jahre 1993 bestehenden Funktionsstörung eine Bestätigung dafür sei, daß die Exposition in den Jahren 1958 bis 1965 nicht gravierend gewesen sein könne (LSG-Akten Bl. 129).
Im Auftrag des Gerichts hat Frau Dr. rer. nat. S3 ..., Leiterin des Instituts für Holztechnologie in D ... zu der Frage Stellung genommen, welchen Schadstoffen der Klage nach den Unterlagen bei seiner Tätigkeit in der Holzverarbeitung ausgesetzt war. Sie führt in ihrem Gutachten vom 28.6.2001 aus:
Dominierende Emissionsquellen in einem Werk zur Herstellung von Spanplatten sind der Spänetrockner, der möglicherweise durch Emissionen aus dem Holz die Umgebungsluft beeinflusst, bzw. der Bereich der Heißpressen, der maßgeblich die Luftqualität an diesen Arbeitsplätzen bestimmt. Ursache für die Emissionen an der Heißpresse sind im Wesentlichen die Aminoplastharze, die auf einer Polykondensation des Harnstoffs mit Formaldehyd zu Harnstoff-Formaldehydharz (UF-Harz) basieren.
In den 60er/70er Jahren, fast bis 1984, wurden Harnstoff-Formaldehydharze eingesetzt, bei denen das Molverhältnis im starken Maße zu Formaldehyd verschoben war, so dass diese Harze sehr formaldehydreich waren. Das hatte zur Folge, dass im Bereich der Heißpresse die Luft mit Formaldehyd angereichert wurde. Der möglichen Gefährdung durch Formaldehyd am Arbeitsplatz wurde durch stufenweise Senkung des MAK-Wertes auf den noch heute gültigen Wert von 0,5 ppm Rechnung getragen. Gegenwärtig sind Bestrebungen im Gange, den Wert sogar auf 0,3 ppm zu senken. Dieser Wert ist nicht vergleichbar mit dem wohnhygienischen Richtwert von 0,1 ppm, der 1977 vom Bundesgesundheitsamt für Aufenthaltsräume empfohlen wurde. Arbeitsplatzanalysen zu Formaldehyd aus den 60er Jahren sind uns für Wiederitzsch nicht bekannt. Den beigefügten Unterlagen aber ist zu entnehmen, dass täglich im Schichtbetrieb 7,5 t UFHarz mit einem freien Formaldehydgehalt von 0,8 - 1,3 % verbraucht wurde. Ein Teil des Formaldehyds dient unter der Hitzeeinwirkung der Presse zur Vernetzung des Harzes. Eine Abschätzung über tatsächlich an der Presse freigesetzten Formaldehyd ist somit schwer nachvollziehbar, da außerdem die Beschreibung der äußeren Bedingungen (wie viel Schichten pro Tag, Luftwechsel, Absaugung etc.) fehlt. Geht man aber von den Messergebnissen 1975 aus, so werden die MAK-Werte für Formaldehyd an der SPA 75 deutlich überschritten, trotz verbesserter Harze und offensichtlicher Veränderungen an der Presse. Es ist daher sicher unstrittig, dass der Kläger in den Jahren 1957 - 1965 in erheblichem Umfang gegen Formaldehyd exponiert war und eine dauerhafte Überschreitung des MAK-Wertes als sicher anzunehmen ist.
Auf die Frage nach weiteren möglichen Schadstoffen sei zunächst Methanol erwähnt. Technisch gewinnt man den Formaldehyd durch Oxydation bzw. Dehydrierung von Methanol in Gegenwart von geeigneten Katalysatoren. Die dabei entstehende 30 - 40 %ige Formaldehydlösung enthält zur Stabilisierung je nach Verwendungszweck 0,5 - 15 % Methanol. Dieses Methanol wird jedoch bei der Herstellung der UF-Harze während des mehrstufigen Kondensationsprozesses, speziell in der sauren Phase, verethert. Diese Aussage wird durch die Angaben der ATOFINA Deutschland GmbH (ehemaligen LEUNA-Werke AG) unterstützt. Bereits zu diesem Zeitpunkt gab es exakte und empfindliche Methoden, sowohl Methanol als auch Formaldehyd zu bestimmen, so dass hier kein analytisches Problem bei der Erfassung zu sehen ist. Methanol als ausschlaggebende Substanz für die Beschwerden des klägers ist somit auszuschließen.
Der Einsatz von Phenoplastharzen in W ... ist uns nicht bekannt. Nach unserer Kenntnis wurden in der Spanplattenanlage SPA 16 in dem genannten Zeitraum ausschließlich UFHarze verarbeitet.
Bezüglich der Anfrage zu Isocyanaten kann eindeutig gesagt werden, dass in der Holzwerkstoffindustrie erst ab Anfang der 70er Jahre zunehmend Isocyanat als Bindemittel eingesetzt wurde. Hierbei handelt es sich überwiegend um lösemittelfreie, nicht modifizierte Phenylisocyanate auf der Basis von polymeren Diphenylmethan 4,4-Diisocyanat (PMDI). Zunächst wurden die Isocyanate, die von der Bayer AG ab 1965 entwickelt wurden, in Laborversuchen für feuchtebeständige Bauspanplatten getestet. So wurden die ersten bauaufsichtlichen Zulassungen für mit Isocyanat (Desmodur 1520 A) verleimte Holzspanplatten mit Phenolharz verleimten Deckschichten erst 1972/1973 erteilt.
Der Kläger ist damit im fraglichen Zeitraum an der SPA 16 nicht mit Isocyanat in Berührung gekommen.
Eine bisher nicht in den Unterlagen beachtete Substanz ist Salzsäure, d.h., Chlorwasserstoff (nicht Halogenkohlenwasserstoff). Säuren sind in der Liste der Berufskrankheiten der DDR aufgeführt (Gesetzblatt Teil I, Nr. 1, Pkt. 16: Erkrankungen der Zähne durch Säuren) ... Mit einer zum Teil drastischen Überschreitung des MAK-Wertes für HCL ... muss ... gerechnet werden.
Dieses Ergebnis ist von der Beklagten weitgehend akzeptiert worden, Einwände sind von ihr nur hinsichtlich der Exposition mit Salzsäure erhoben worden (Stellungnahme v. 28.11.2001: "Bereits mit Schreiben vom 07.07.1994 zur Exposition wurde festgestellt, daß für den Beschäftigungszeitraum 1957 bis 1965 von einer erheblichen Formaldehydexposition ausgegangen werden muß. Eine Überschreitung des derzeit gültigen MAK-Wertes für Formaldehyd kann als sicher angenommen werden. Diese Belastung wird durch die nunmehr vorliegende gutachterliche Stellungnahme von Frau Dr. S3 ... bestätigt. Expositionen gegenüber Methanol, Phenol-Formaldehydharzen sowie Isocyanaten konnten im Rahmen unserer Befragungen im Jahr 1994 offensichtlich nicht ermittelt werden und werden in der Stellungnahme des IHD ebenfalls verneint. Auch hier ist somit eine Übereinstimmung mit unserer damaligen Arbeitsplatzanalyse gegeben. Im letzten Punkt der Stellungnahme des IHD wird postuliert, daß beim Preßvorgang durch die Zugabe der Härtersubstanz Ammoniumchlorid große Mengen Chlorwasserstoff (bzw. Salzsäure) an die Umgebungsluft abgegeben werden. U.E. ist jedoch eine relevante Freisetzung von Chlorwasserstoff im realen technologischen Prozeß nicht wahrscheinlich. Nach entsprechenden Recherchen ergeben sich auch keine Indizien für diesen Sachverhalt.").
Der vom Gericht zum Sachverständigen bestellte Doz. Dr. K2 ..., früher Leiter der Obergutachterkommission in der Deutschen Demokratischen Republik, hat in der gutachterlichen Äußerung vom 25.05.2002 den Zusammenhang der beim Kläger bestehenden chronisch-obstruktiven Atemwegserkrankung mit der beruflichen Formaldehyd-Exposition bejaht und die dadurch bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit auf 30 v. H. eingeschätzt. Er hat ferner die Frage der Anwendbarkeit des Sonderentscheids nach dem Recht der DDR erläutert (Stellungnahme v. 25.11.2002, LSG-Akten Bl. 525 ff.). Diese ist von der Beklagten ausdrücklich als "nachvollziehbar" bezeichnet worden (Schr. v. 10.1.2003, LSG-Akten Bl. 541). Die mit Beschluss v. 08.02.1999 beigeladene Techniker Krankenkasse sieht die Voraussetzungen für die Anerkennung als Berufskrankheit für erfüllt an (Schr. v. 09.04.2003, LSG-Akten Bl. 552).
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 07.11.1996 mit dem Bescheid vom 11.01.1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.11.1994 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die chronisch obstruktive Atemwegserkrankung des Klägers als Berufskrankheit anzuerkennen und zu entschädigen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie ist der Ansicht, dass beim Kläger keine Berufskrankheit vorliegt. Sie verweist darauf, dass nach den Angaben des Hauptverbandes zur BK 4302 für den Zeitraum von 1978- 2001 4 anerkannte Fälle infolge von Formaldehydeinwirkung der Holzaufbereiter ausgewiesen werden. Diese Angaben seien aber nicht Maßstab im Vergleich zu den von der Obergutachterkommision nach Sonderentscheid entschiedenen Berufskrankheiten der oberen und tieferen Atemwege und Lungen durch chemisch-irritative Stoffe. Hierzu werde auf die Sonderschrift 4, Berufskrankheiten im Gebiet der neuen Bundesländer 1945-1990, Schriftreihe der Bundesanstalt für Arbeitsmedizin, Auflage 1994, Seite 76-79 verwiesen. Es fehle bei vorliegendem Sachverhalt an einer signifikanten Anerkennungsquote unter Berücksichtigung der vom Kläger ausgeübten schädigenden Tätigkeit. Außerdem bezweifelt sie, dass beim Kläger bereits im maßgebenden Zeitraum eine erhebliche Funktionsbeeinträchtigung der Lunge bestand.
Dem Senat liegen neben den Prozessakten beider Rechtszüge die Verwaltungsakten vor.
Entscheidungsgründe:
Die fristgemäß eingelegte und auch sonst zulässige Berufung ist begründet. Zu Unrecht hat das SG die Klage abgewiesen, denn dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch zu.
Wie bereits das SG zutreffend ausgeführt hat, sind nach § 551 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) Berufskrankheiten wie Arbeitsunfälle zu entschädigen. Dabei gelten Berufskrankheiten, die vor dem 01.01.1992 eingetreten sind und die nach dem Recht der DDR Berufskrankheiten im Sinne der Sozialversicherung waren, als Berufskrankheiten im Sinne der seit dem 01.01.1992 geltenden RVO (§ 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO). Da der Kläger die als Ursache seines Leidens in Betracht kommende Exposition gegenüber Formaldehyd bereits 1965 aufgegeben hat und die Erkrankung - "Asthma bronchiale" - bereits zu diesem Zeitpunkt bestand, kann nur das vor dem 01.01.1992 im Beitrittsgebiet geltende Recht anzuwenden sein.
Dass der Kläger an einer obstruktiven Atemwegserkrankung leidet, steht anhand der medizinischen Unterlagen fest und wird auch von denen, welche eine Berufskrankheit verneinen, nicht bestritten. Fraglich ist die Rechtsgrundlage einer möglichen Anerkennung. In seinem Gutachten ist Doz. Dr. K2 ... zu dem Ergebnis gelangt, dass sich die beim Kläger als Folge beruflicher Formaldehydexposition bis 1965 dokumentierte Atemwegserkrankung unter die Nr. 81 der Liste der Berufskrankheiten (BKVO/DDR) einordnen lässt. Nun ist jedoch diese Liste erst im Mai 1981 in Kraft getreten, während sich die Erkrankung nach den Ausführungen im Gutachten bereits bis in das Jahr 1961 zurückverfolgen lässt und seit 1965 bis zur Gegenwart in chronifizierter Form weiterbesteht. Damit stellt sich die Frage nach der exakten Rechtsgrundlage, die für eine Anerkennung der Erkrankung als Berufskrankheit in Betracht kommen könnte. Denn zum Zeitpunkt der Entstehung und Chronifizierung der Erkrankung galt die Verordnung über Melde- und Entschädigungspflicht bei Berufskrankheiten vom 14. November 1957. Die entsprechende Liste der Berufskrankheiten (Anlage zu § 1) führt zwar unter der Nr. 10 "Erkrankungen durch Methanol" bzw. unter Nr. 11 "Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe" auf, Formaldehyd wird jedoch nicht genannt. Es ist aber im Anschluss an das Gutachten des Instituts für Holztechnologie und die Stellungnahme der Beklagten dazu eine Exposition durch Methanol ausgeschlossen und eine Exposition gegen Chlorwasserstoffsäure zumindest zweifelhaft. Auch findet sich darüber hinaus in dieser Verordnung keine dem § 2 Abs. 2 VO 1981 ("Krankheiten, die nicht in der Liste der Berufskrankheiten genannt sind, können im Ausnahmefall als Berufkrankheit anerkannt werden, wenn sie durch arbeitsbedingten Einflüsse entstanden sind") entsprechende Vorschrift. Es handelt sich jedoch bei jenen Erkrankungen um solche Berufskrankheiten, deren Anerkennung im Sonderentscheidverfahren vorgeschlagen sind (Konetzke in: Konetzke / Rebohle / Heuchert, Berufskrankheiten, Berlin 3. Aufl. 1988 S. 25). Aufgrund seiner Tätigkeit insbesondere auch in der Obergutachtenkommission hat sich der Senat an Dr. K2 ... gewandt, davon ausgehend, dass diesem auch die besonderen Umstände des Verfahrens im Be- rufskrankheitenrecht der DDR und die Prinzipien der Anerkennungspraxis vertraut sind. Der Senat hat deshalb Doz. Dr. K ... gebeten, zu den sich daraus ergebenden Fragen ergänzend Stellung zu nehmen. In seiner gutachterlichen Stellungnahme vom 12.11.2002 hat Doz. Dr. K2 ... die den Sonderentscheid betreffende Rechtslage erläutert. Danach galten für die Anerkennung von Berufskrankheiten eine Reihe von Voraussetzungen, nämlich: eine nachgewiesene Überschreitung der arbeitshygienischen Grenzwerte für den angeschuldigten Schadstoff; Dauer und Intensität der Exposition ausreichend zur Induktion des Krankheitsbildes; gesicherte Diagnose; erwiesene oder wahrscheinliche Kausalität zwischen Schadfaktor und erwartbarer Krankheit; Ausschluss außerberuflicher Ursachen oder zumindest kein Überwiegen derselben.
Das Anerkennungs- und Entschädigungsverfahrens folgte den etwas unterschiedlichen gesetzlichen Gegebenheiten, wie sie sich im Laufe mehrerer Jahrzehnte in beiden deutschen Teilstaaten entwickelt hatten, zeigte aber im Prinzip keine wesentlichen Abweichungen. Das Berufskrankheitsrecht kannte expressis verbis keine Unterscheidung zwischen dem "Versicherungsprinzip" und dem "Antragsprinzip", sondern war im Grunde in beiden Richtungen auslegbar. In aller Regel galt aber das Versicherungsprinzip. Es mussten also zum Zeitpunkt der Erkrankung - ggf. auch rückblickend - nachweislich ausreichende Kenntnisse zur Kausalität vorhanden sein, und dies natürlich sowohl für Listen-BK s als auch solche, die im Sonderentscheidverfahren (BKSE) zu behandeln waren. Die Informationen, welche den ursächlichen Zusammenhang zwischen angeschuldigtem Schadfaktor und versicherungspflichtiger Arbeitstätigkeit mit Wahrscheinlichkeit nahelegen sollten, waren Forschungsberichten, aktuellen Einzelpublikationen, Standardwerken der Fachliteratur und eigene Erfahrungen zu entnehmen und entsprechend dem jeweiligen Schwierigkeitsgrad der Fragestellung vom Gutachter durch die Fundstellen zu belegen.
Das Sonderentscheidprinzip wurde - wie Doz. Dr. K2 ... darlegt - mit Errichtung der Obergutachtenkommission Berufskrankheiten (OGBK) im Jahre 1956 etabliert. Gesetzliche Grundlage war die 8. Durchführungsbestimmung über die weitere Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter - Arbeitssanitätsinspektion - vom 09.06.1956 (GBI. 1, S. 546), in Verbindung mit Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Gesundheitswesen der DDR vom 25.08.1956, Nr. 9, S. 10, ergänzt durch nicht veröffentlichte Arbeitsanweisungen des Ministeriums für Gesundheitswesen der DDR. Die Voraussetzungen für die Anerkennungsempfehlung der OGBK im Sonderentscheidverfahren waren annähernd die gleichen wie in der BRD bei Anwendung von § 551, Abs. 2 (RVO) - jetzt § 9, Abs. 2, SGB VII -, das heißt, es mussten nach Überzeugung der Mitglieder der OGBK ausreichende neue wissenschaftliche Kenntnisse vorhanden sein, welche den zur Diskussion stehenden ursächlichen Zusammenhang zwischen versicherter Tätigkeit und Erkrankung wahrscheinlich erscheinen ließen. Konkurrierende äußere oder innere Krankheitsursachen durften nicht überwiegen. Die BK-bedingten Krankheitsfolgen sollten einen gewissen Erheblichkeitscharakter haben, d. h. eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von wenigstens 20 bedingen, um Bagatellfälle auszuschließen, für welche ohnehin keine langfristigen Leistungen vorgesehen waren. Die schriftlich begründeten Vorschläge der Obergutachtenkommission Berufskrankheiten zur Anerkennung von Berufskrankheiten im Sonderentscheidverfahren (BKSE) gemäß § 2 BKVO waren vom Bundesvorstand des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), Abt. Sozialversicherung, zu bestätigen und damit rechtskräftig. Bei Einsprüchen im BK- Verfahren waren Bezirksbeschwerdekommissionen für Sozialversicherung des FDGB letzte Instanz (GBI 1, Nr. 8 [1978], S. 111). (Konetzke et al., Gesetzliche Grundlagen zur Meldung, Begutachtung und Entschädigung bei Berufskrankheiten, S. 28-29).
Nach Kenntnis und Erfahrung von Doz. Dr. K2 ... wären bereits 1965 die Voraussetzungen für die Anerkennung der Atemwegserkrankung des Klägers im Sonderentscheidverfahren vorhanden gewesen, da es bereits zu diesem Zeitpunkt nachweislich eine begrenzte Zahl von Veröffentlichungen in der speziellen Fachliteratur gegeben habe, in welchen die irritativen Eigenschaften des Formaldehyd auf die oberen und tiefen Atemwege beschrieben worden sind. Diese Arbeiten waren den Mitgliedern der OGBK bekannt. Doz. Dr. K2 ... nennt als Beispiele aus den 50er und 60er Jahren die Arbeiten von Holstein, E., Grundriß der Arbeitsmedizin, 3. Auflage, S. 222 J. A. Barth- Verlag, Leipzig 1958 ("Neben starken Reizwirkungen auf die Schleimhäute mit Bronchitis und asthmatischen Zuständen sind auch Brechreiz, Kopfschmerzen, Schwindel und erhöhte Reizbarkeit sowie Schlafstörungen durch Formaldehyd möglich." Diese Beschreibungen werden auch in der 4. Auflage (1964) sowie der 5. Auflage 1969 des oben zitierten Standardwerks wiederholt, ferner Koelsch, F. Handbuch der Berufskrankheiten. 2. Auflage 1959, S. 320 und 403 ("Formaldehyd verursacht starke Reizung der Schleimhäute von Augen und Luftwegen sowie asthmatische Zustände.") sowie Dinischiotu, G. T., Reizgase und Lungenschäden. In: Lunge und Beruf, J. A. Barth- Verlag, Leipzig 1961 (Hrsg.: E. Holstein), S. 214-224 ( "Formaldehyd wirkt irritativ-spastisch auf die Atemwege ... Bereits nach 4- bis 8-jähriger Exposition werden Bronchospasmus, chronische Bronchitis und Emphysem (wie auch bei weiteren Reizgasen) beobachtet ... Formaldehyd sollte - neben Chlor - auch bezüglich interstitieller Lungenveränderungen (Lungenfibrose) nach Langzeiteinwirkung weiter beforscht werden.")
Die Anwendung des Anerkennungsmodus von Berufskrankheiten nach der Rechtslage, die zur Zeit der Antragstellung gültig gewesen ist - also als "Antragsprinzip" -, war möglich, blieb aber auf Ausnahmen beschränkt, da die Problematik dieses Vorgehens der OGBK und den Entscheidungsgremien durchaus bewusst war. Insbesondere wurde mit wachsendem zeitlichen Abstand zwischen Meldung des BK-Verdachts und Erstfeststellung der zu beurteilenden Erkrankung der Ermessensspielraum immer größer, und zwar in dem Maße, wie die Informationslage zu den medizinischen und arbeitstechnischen Daten sich verschlechterte. Gleichwohl gab es einige Fälle, bei denen man auch nach Jahren oder Jahrzehnten rückblickend Verbindliches zur Kausalitätsfrage aussagen konnte. Das betraf z. B. berufsbedingte Infektionskrankheiten wie die Tuberkulose oder aber Staublungenkrankheiten, die allerdings beide in der BK-Liste einen Platz hatten.
Im hier zu beurteilenden Fall sowie bei ähnlich gelagerten Fragestellungen wäre nach den Darlegungen von Doz. Dr. K2 ... für die OGBK entscheidend gewesen, ob Anfang der 60er Jahre bereits nachweislich Kenntnisse über die irritative Wirkung des Formaldehyd auf das Atmungsorgan vorgelegen hatten. Dies ist eindeutig zu bejahen. Somit wären sowohl 1965 als auch 1989 die Voraussetzungen für die Anerkennung als Berufskrankheit als BK-Sonderentscheid oder später BK Nr. 81 (BKVO/DDR) erfüllt gewesen.
Die Darstellung von Doz. Dr. K2 ... ist überzeugend, auch die Beklagte hat sie ausdrücklich als "nachvollziehbar" bezeichnet (Stellungnahme v. 10.01.2003). Der Senat selbst ist in seiner bisherigen Rechtsprechung ebenfalls von der Anwendbarkei des Sonderentscheids auch unter der Geltung des Bundesrechts ausgegangen (ebenso LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 28.11.2001 - L 6 U 46/97).
Auf eine ergänzende Anfrage von Doz. Dr. K2 ... an den Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften, ob und in welchem Umfang Anerkennungen nach dem Recht der Deutschen Demokratischen Republik noch nach 1990 erfolgt seien, hat dieser die Auskunft gegeben, eine Auswertung der Berufskrankheiten-Dokumentation zu der BK-Nr. 4302 für den Zeitraum von 1978-2001 habe 4 anerkannte Fälle der BK-Nr. 4302 von Holzaufbereitern durch die Einwirkung von Formaldehyd ergeben. Aus einer Aufstellung ergäben sich auch die anerkannten Fälle von chronisch obstruktiven Atemwegserkrankungen durch Formaldehyd durch andere Tätigkeitsbereiche bzw. Berufe. In dem Zeitraum seien insgesamt 101 Fälle anerkannt worden.
Der Einwand der Beklagten, es fehle bei vorliegendem Sachverhalt an einer signifikanten Anerkennungsquote unter Berücksichtigung der vom Kläger ausgeübten schädigenden Tätigkeit, vermag nicht zu überzeugen. Insbesondere bleibt der Hinweis auf die Sonderschrift 4, Berufskrankheiten, S. 76 bis 79 unverständlich. Denn dort heißt es ausdrücklich, die Erkrankungen nach BK-Nr. 81 seien insbesondere u.a. bei der Be- und Verarbeitung von Holz entstanden, häufige Ursache von berufsbedingten Atemwegs- und Lungenerkrankungen seien u.a. Aldehyde gewesen (S. 77). Wenn die Beklagte einräumt, es würden immerhin 4 anerkannte Fälle infolge von Formaldehydeinwirkung der Holzaufbereiter ausgewiesen, dann ist damit zugleich die prinzipielle Anerkennungsfähigkeit erwiesen. Denn ersichtlich lässt sich eine Anerkennung nicht von einer vorausgehenden Anerkennungsquote bestimmten Umfangs anhängig machen, da es auf diese Weise nie zu einer ersten Anerkennung kommen könnte.
Der Sache nach folgt Senat den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Doz. Dr. K2 ... im Gutachten vom 25.5.2002. Es hat auch die Beklagte keine prinzipiellen Einwände dagegen erhoben. Beim Kläger besteht eine chronisch obstruktive Atemwegserkrankung als Berufskrankheit.
Prof. S2 ... Gutachten erschöpft sich im hier wesentlichen Bereich auf die Aussage, die Zusammenschau der von ihm eingesehenen Literatur lasse einen Zusammenhang von Formaldehyd und chronisch-obstruktiver Atemwegserkrankung nicht ausreichend belegen (GA S. 31, 46, SG-Akte Bl. 169, 184). Den Ausführungen aber lässt sich nicht entnehmen, dass er einen Zusammenhang aus genau bezeichneten medizinischen Gründen für ausgeschlossen hält. Immerhin aber findet sich bei ihm die Angabe:
Es ist bekannt, wenn auch nicht sehr häufig, dass eine obstruktive Atemwegserkrankung sich plötzlich nach einer akuten Symptomatik manifestiert und danach Beschwerden bleiben. Wenn eine, auch außerberufliche Erstmanifestation aufgetreten ist, so können dann durch Schadstoffe, denen der Betreffende während seiner beruflichen Tätigkeit ausgesetzt ist, Beschwerden und Symptome sowie Funktionsstörungen hervorgerufen oder verschlimmert werden, auch wenn vor diesem ersten Ereignis die gleichen Schadstoffkonzentrationen ohne Beschwerden toleriert wurden.
Diese Äußerungen deuten darauf hin, dass selbst nach Auffassung von Prof. S2 ... der Anfall an der Ostsee nicht die eigentliche Ursache des Krankheitsgeschehens war.
Dem gegenüber erläutert Doz. K2 ... in Kenntnis der einschlägigen Literatur (Gutachten S. 7, LSG-Akte Bl. 464):
Zahlreiche chemische Stoffe, die inhalativ aufgenommen werden, sind Reizgase oder reizgasähnlich wirkende Aerosole. In höherer Konzentration können sie, abhängig von der Atemtrakttoxizität, unter kurzer Einwirkungsdauer zur akuten Reizgasvergiftung bis hin zum toxischen Lungenödem (synonym: toxische Alveolitis oder Pneumonitis) führen, unterhalb der Intoxikationsschwelle bei langfristiger Einwirkung zur obstruktiven chronischen Bronchitis und zu anderen chronischen Krankheiten des Atmungsorgans. Typische Vertreter dieser Stoffgruppe mit sowohl akuter wie chronischer Wirksamkeit sind Halogene, Abbauprodukte von Fluorcarbonen, Stickstoffoxide, Ammoniak, Aldehyde: Formaldehyd u. a., Phosgen, Dimethylsulfat, Cadmiumoxid, Ozon, Isocyanate, Vanadiumpentoxid.
Doz. Dr. K2 ... stellt also klar eine prinzipiell bestehenden Beziehung zwischen Einwirkung (auch) von Formalehyd und obstruktiver Atemwegserkrankung (obstruktiver chronischer Bronchitis) her. Er weist ferner darauf hin, dass bei Stoffen mit sehr ausgeprägter Schadwirkung, z. B. Isocyanate und Formaldehyd, in diesem Konzentrationsbereich unter Umständen wenige Wochen bis Monate als Expositionszeit für eine Krankheitsentwicklung genügen. Im Grundsatz ist davon auszugehen, dass sich die obstruktive Lungenkrankheit noch unter der beruflichen Exposition und nicht erst nach deren Beendigung manifestiert. Irritative Erkrankungszustände beruhen nicht auf einer stoffspezifisch veränderten Reaktionsweise wie allergische Krankheiten (s. BK Nr. 82), sondern sind ätiologisch und pathogenetisch unspezifisch.
Für die Begutachtung bei Verdacht auf eine BK 81 sind die arbeitshygienischen Informationen zur Art, Konzentration und Dauer der beruflichen Schadstoffeinatmung ausschlaggebend, da sie die wichtigste Argumentationsstütze sind (Gutachten S. 9, LSG- Akten Bl. 466).
Was die spezielle Situation des Klägers betrifft, so ist festzustellen, dass der Kläger als Versuchsingenieur von 1957 bis 1961 im L ... H ...werk an einer Pilotanlage zur Herstellung von Spanplatten - hier speziell im Bereich der Heißpresse - und anschließend in der Forschungsstelle B ... mit vergleichbaren Aufgaben bis 1965 gearbeitet hat. Dabei bestand eine ständige grenzwertüberschreitende Exposition gegen Formaldehyddämpfe bis zum 4.6-fachen des MAK-Wertes. Nach Einschätzung von Doz. Dr. K2 ... ist die Exposition - zumindest im ersten Abschnitt der geschilderten Tätigkeit - wahrscheinlich noch bedeutend höher gewesen (S. 10, Bl. 467). Für ihn ergibt sich als Resümee, dass der Kläger für den Zeitraum von 9 Jahren in erheblichem und damit arbeitsmedizinisch relevanten Ausmaß der schichtbegleitenden Einwirkung von Formaldehyd ausgesetzt gewesen ist (ebd.).
Nach den Ausführungen von Doz. Dr. K2 ... gehört Formaldehyd hinsichtlich seiner pathotropen Eigenschaften als Schadstoff bei Arbeitsprozessen und auch der Umwelt zu den ausführlich untersuchten Substanzen. Dabei sind seine Wirkungen bei akuter und subakuter Exposition auf das Hautorgan und die Schleimhäute im Hals-Kopf-Bereich vordergründig gewesen, während Auswirkungen bei Langzeitexpositionen bisher weniger Aufmerksamkeit gefunden haben. Ausnahme ist die Frage der Kanzerogenität von Formaldehyd, zu welcher eine beachtliche Zahl von Publikationen vorliegen.
Bezüglich der irritativen Formaldehydwirkung auf das Atmungsorgan herrscht nach Doz. Dr. K2 ... unter Sachkennern Übereinstimmung bezüglich der starken Reizwirkung auf die oberen Atemwege einschließlich der inneren Nase, weil wegen der leichten Löslichkeit der Substanz der größte Teil des mit dem Luftstrom eingeatmeten Aerosols dort mit der Schleimhaut in Kontakt kommt und auch resorbiert wird. Formaldehydwirkungen auf die tiefen Atemwege und Lunge in Gestalt objektiver Atemwegserkrankungen werden - wie Doz. Dr. K2 ... darlegt - in den Standardwerken der internationalen Literatur zwar nicht einheitlich beurteilt, jedoch in aktuelleren Darstellungen zunehmend akzeptiert. Zwar fehlen im Schrifttum überzeugende epidemiologische Arbeitsergebnisse mit statistisch gesicherter Überrepräsentation von chronischen Atemwegserkrankungen bei Langzeitexposition durch Formaldehyd weitgehend. Demgegenüber besteht aber eine größere Literatur, die sich mit der Bedeutung des Formaldehyd als Allergen für das Atmungsorgan befasst. Die diesbezüglichen Erfahrungen lassen sich beim gegenwärtigen Kenntnisstand nach Doz. Dr. K2 ... dahingehend zusammenfassen, dass Formaldehyd als schwaches Allergen einzustufen ist, welches selten zu Erkrankungen der oberen Atemwege (allergische Rhinitis) oder des bronchopulmonalen Systems (Asthma bronchiale, obstruktive Atemwegserkrankung) führt. Größere Erfahrungen über Formaldehyd-induzierte Erkrankungen des Atmungsorgans gab es in der DDR, wie Doz. Dr. K2 ... erläutert. Allein in der Zeit von 1982 bis 1990 wurden entsprechend den gesetzlichen Vorgaben 74 chronische obstruktive Atemwegserkrankungen als entschädigungspflichtige Berufskrankheiten anerkannt, davon 65 unter der Nr. 81 der Liste der Berufskrankheiten und 9 im Sonderentscheidverfahren. Unter diesen waren 2 Fälle durch Formaldehyd-Holzstäube entstanden. Die durchschnittlichen Expositionszeiten sind überwiegend langjährig gewesen, betrugen aber immerhin bei 13 % der Erkrankungen weniger als 10 Jahre. Bezüglich der Körperschäden (= MdE) lagen überwiegend leichte bis mittlere Grade vor.
Bei den Sonderentscheiden waren jeweils mehrere Noxen mit irritativer Wirkung vorhanden ( Sonderschrift Nr. 4, 1994 der Bundesanstalt für Arbeitsmedizin).
Außer Frage steht, dass Personen mit einer Überempfindlichkeit des Bronchialsystems (bronchiale Hyperreagibilität) auf Schadfaktoren physikalischer oder chemischer Herkunft, mit denen sie beruflich oder außerberuflich in Kontakt kommen, stärker, intensiver und anhaltender reagieren als Menschen mit normaler Reaktionsweise des Atmungsorgans. Diese veränderte Reaktionsbereitschaft bahnt somit den Weg für akute, subchronische und chronische Atemwegserkrankungen. Da dieser Vorgang im Gegensatz zur allergischen Reaktion völlig unspezifisch abläuft, ist es im Prinzip gleichgültig, ob es sich bei dem in Frage stehenden Schadfaktor z. B. um Kälte, Reizgase wie Stickstoffdioxid oder - wie im vorliegenden Fall - um Formaldehyd oder andere handelt.
Nach der den Senat überzeugenden Einschätzung von Doz. Dr. K2 ... reicht das gewonnene Wissen über Langzeitwirkungen von Formaldehyd auf das Atmungsorgan durchaus dazu aus, um im Falle des Klägers eine tragfähige Aussage zur Kausalität formulieren zu können. Das bei diesem vorliegende Krankheitsbild ist unter der Diagnose chronisch obstruktive Bronchitis mit asthmatischer Komponente klar definiert und unstrittig. Diese nachweislich 1961 erstmals und in den folgenden Jahren von mehreren untersuchenden Ärzten übereinstimmend bestätigte bronchopulmonale Erkrankung ist prinzipiell kompatibel mit der Einwirkung irritativer Schadstoffe für das Atmungsorgan. Bei Berücksichtigung der ebenfalls nachgewiesenen permanenten und erheblichen Überschreitung des zulässigen Grenzwertes für Formaldehyd im Tätigkeitsbereich des Klägers einerseits erscheint auch die relativ kurze Expositionsdauer von 4 1/2 Jahren bis zur Feststellung der Erkrankung ausreichend für die Manifestation der chronischen obstruktiven Bronchitis.
Die zu beurteilende Erkrankung manifestierte sich erstmals im August 1961 während eines Urlaubsaufenthaltes mit Beteiligung der oberen Atemwege (Rhinitis), wurde sofort behandlungsbedürftig und ging rasch in das chronische Stadium über. Zwar lässt sich nach 40 Jahren nicht mehr feststellen, ob damals als initiales Ereignis eine Infektion oder ein allergisches Geschehen vorlag. Offensichtlich ist es aber in der Folge dieses Vorganges zu einer Empfindlichkeitssteigerung des Bronchialsystems (bronchiale Hyperreaktivität) gekommen, die dann 1992 bestätigt wurde. Insbesondere in Hinblick auf das Fehlen anderer Ursachen für eine chronische Atemwegserkrankung ist jedenfalls die Schlussfolgerung gerechtfertigt, dass die fortgesetzte Formaldehydexposition dafür verantwortlich war, dass die Erkrankung nicht ausheilte und sich als chronisches Stadium auch nach Expositionsabkehr fortsetzte. Es kommt aber auch der jahrelangen, mit mehrfacher MAK-Wert-Überschreitung einhergehenden Formaldehydexposition zumindest die Bedeutung der richtunggebenden Verschlimmerung der vorbestehenden bronchopulmonalen Erkrankung zu, zumal konkurrierende Ursachen, z. B. Rauchen, nicht vorliegen und die Hyperreagibilität des Bronchialsystems erwiesen ist. Im übrigen schließt der Umstand, dass die Erkrankung sich - wie Prof. S2 ... es ausdrückt - sich während eines Urlaubs an der Ostsee erstmals "manifestiert" hat, nicht aus, dass der eigentliche Krankheitsbeginn im Sinne einer Organschädigung bereits weit eher eingesetzt hat, bis zu diesem Zeitpunkt aber klinisch stumm geblieben ist, die Erkrankung (als organische Veränderung) zu jenem Zeitpunkt also nicht erst "entstanden" sondern sichtbar ("manifest") geworden ist.
Für eine Berufskrankheit nach Nr. 81 (BKVO/DDR) sprechen deshalb zusammenfassend die erwiesene irritative Wirksamkeit von Formaldehyd, die mehrjährige, schichtbegleitend erhebliche Überschreitung der Grenzwerte am Arbeitsplatz, die erwartbare Diagnose chronisch-obstruktive Bronchitis sowie das Fehlen konkurrierender Ursachen für die Erkrankung. Außer Frage steht überdies, dass die chronische Atemwegserkrankung des Klägers nach deren Manifestation durch fortgesetzte Formaldehydexposition weiter unterhalten und richtungsgebend verschlimmert worden ist, was übrigens auch die Vorgutachter mehrheitlich so gesehen haben.
Die als Folge beruflicher Formaldehydexposition - beim Kläger bis 1965 dokumentiert - entstandene Atemwegserkrankung lässt sich entsprechend dem Ergebnis der spezialisierten Diagnostik unter die Nr. 81 der Liste der Berufskrankheiten (BKVO/DDR) bzw. die Prinzipien des Sonderentscheids einordnen. Es handelt sich hier stets um die gleiche Erkrankung, die nach Aktenlage bis 1961 zurückzuverfolgen ist und sich bei wechselndem Ausmaß der Atemwegsobstruktion bis 1965 unter Expositionseinfluss und danach selbständig als chronifizierte Form weiterentwickelte und fortbestand. Es sind keine berufsunabhängigen Faktoren ( z. B. Rauchgewohnheiten, gehäufte Infektanfälligkeit oder Zweitkrankheiten der Lunge) erkennbar, welche Einfluss auf den Verlauf der vorliegenden Atemwegserkrankung hätten nehmen können.
Die Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Doz. Dr. K2 ... mit 30 v. H. ("Die Minderung der Erwerbsfähigkeit durch die Erkrankung des Atmungsorgans wird unter Berücksichtigung der geringgradigen bis mäßigen Funktionseinbußen incl. des latenten pulmonalen Hochdrucks - in L ... 1994 festgestellt - auf 30 % geschätzt. Ursächlich hierfür ist allein die besprochene Schadstoffeinwirkung. Der exzessive arterielle Bluthochdruck des Klägers, welcher ein wesentlicher Grund für seine Invalidisierung gewesen ist, stellt ein eigenständiges Krankheitsbild ohne Beziehung zur vorliegenden bronchopulmonalen Erkrankung dar") ist nicht zu beanstanden; sie entspricht den gängigen Maßstäben (s. z.B. Schönberger/ Mehrtens/ Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Aufl. 1998 S. 989: Ventilation und Atemmechanik leicht eingeschränkt: 20-30 v. H., mäßiggradig eingeschränkt: 30-50 v. H.).
Der FEV1-Wert (forciertes Exspirationsvolumen, das in der ersten Sekunde ausgeatmete Volumen als Maß für den Atemwiderstand, der bei einer obstruktiven Ventilationsstörung erhöht ist) lag bereits beim Spirotest am 6.10.1981 bei 57 % (Bekl.-Akte Bl. 124, 1990: 51 v. H. der Norm, Bekl.-Akte Bl. 55), so dass davon ausgegangen werden kann, dass die Erkrankung in demselben Ausmaß bereits damals bestand. In den medizinischen Unterlagen finden sich wiederholt ähnliche Werte. Die Erkrankung des Klägers hatte offenbar schon unter der Geltung des Rechts der DDR ein stabiles Stadium erreicht. So wurde 1982 eingeschätzt, dass mit einer Änderung der beim Kläger bestehenden Erkrankung nicht zu rechnen sei (Untersuchungsbefund Dr. H2 ... v. 18.11.1982, Beklagten-Akte Bl. 97). Eine Prüfung der Lungenfunktion am 15.10.1991 mit Belastung ergab eine mittelgradige Obstruktion mit mittelgradig erhöhtem Atemwiderstand (Beklagten-Akte Bl. 109, ebenso nach der Prüfung am 18.06.1992, Beklagten-Akte Bl. 114). Auch dies weist auf die Richtigkeit der Einschätzung mit 30 v. H. hin. Zugleich ergibt sich daraus auch, dass die durch die Krankheit hervorgerufene Funktionsbeeinträchtigung bereits bei Anwendung des Rechts der DDR die Bagatellgrenze - von Doz. Dr. K2 ... als Anerkennungsvoraussetzung genannt - überschritten hatte.
Die Zuordnung des arteriellen Bluthochdrucks zur körpereigenen Entstehung durch Doz. Dr. K2 ... entspricht auch der Beurteilung von Prof. S2 ... (Stellungnahme v. 20.01.1999 S. 11, LSG-Akten Bl. 83). Wenn dieser allerdings von Funktionsausfällen "milderen" Grades spricht und sich dabei auf das Gutachten von Prof. L2 ... v. 02.06.1994 beruft , dann ist ihm offenbar ein Lesefehler unterlaufen, denn dort (S. 8, SG- Akte Bl. 15) ist von Funktionsausfällen "mittleren" Grades die Rede. Symptome eines cor pulmonale, auf die sich Doz. Dr. K2 ... zur Stützung seiner Einschätzung bezieht, finden sich schon im Bericht vom 18.04.1990, wo von Belastungshochdruck im kleinen Kreislauf die Rede ist (Bekl.-Akte Bl. 55).
Eine Absenkung der Höhe der berufsbedingten MdE in Hinblick auf ein möglicherweise bereits zuvor berufsunabhängig entstandenes Atemwegsleiden ist nicht vorzunehmen. Denn der erstmalige Atemnotanfall an der Ostsee im Jahre 1961 bedingt als solcher noch keinen erheblichen Körperschaden. Dieser ist erst - verursacht durch die fortgesetzte Formaldehydexposition - im Laufe der Folgezeit entstanden und führte dann dazu, dass der Kläger im Jahre 1965 - bedingt durch die inzwischen eingetretene starke Ausprägung der Erkrankung - endgültig auf einen Arbeitsplatz ohne Formaldehydexposition wechselte.
Das Verwaltungsverfahren hat noch im Dezember 1991 begonnen (Bekl.-Akte Bl. 2), so dass gem. § 1156 Abs. 1 RVO der Rentenbeginn mit dem 1.12.1991 festzusetzen ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG; die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 SGG) liegen nicht vor.
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