L 3 U 90/17

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 23 U 168/14
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 90/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Eine Rentenabfindung erfolgt nach § 79 SGB VII zwingend für die Dauer von zehn Jahren.

2. Der Unfallversicherungträger hat im Rahmen des von ihm auszuübenden pflichtgemäßen Ermessens bei einer Rentenabfindung nach § 78 SGB VII auch die Interessen seiner Beitragszahler zu wahren.

3. Die Ermessenserwägungen sind daher auch darauf zu erstrecken, ob der Antragsteller eine im Hinblick auf den Abfindungszeitraum von zehn Jahren ausreichende Lebenerwartung hat.

4. Bei der Prognose hinsichtlich der Lebenserwartung ist zu prüfen, ob nach dem konkreten Gesundheitszustand des Antragstellers die ernst zu nehmende Gefahr besteht, dass der Tod vor Ablauf von zehn Jahren eintreten kann.

5. Bei betagten Vericherten können für die Prognose auch die vom Statistischen Bundesamt erhobenen Periodensterbetafeln zur durchschnittlichen Lebenserwartung herangezogen werden.

6. Eine Gewissheit oder hohe Wahrscheinlichkeit des Todes vor Ablauf des Zehnjahreszeitraums ist bei der Prognose nicht zu fordern.
I. Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 16. Mai 2017 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander in beiden Instanzen keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Abfindung einer Rente.

Der 1932 geborene Kläger hatte am 8. Juli 2001 einen Arbeitsunfall mit Unfallfolgen an der rechten Hand (Gebrauchsunfähigkeit nach Morbus Sudeck) erlitten. Die Beklagte bewilligte dem Kläger zunächst Rente als vorläufige Entschädigung nach einer MdE von 40 v. H. (Bescheid vom 30. April 2003) und sodann mit Bescheid vom 26. Mai 2004 Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von 40 v. H. (jährliche Rente = 10.133,15 EUR). Auf Antrag des Klägers fand die Beklagte mit Bescheid vom 12. Juli 2004 diese Rente des Klägers bis zur Hälfte für zehn Jahre ab. In medizinischer Hinsicht hatte die Beklagte zuvor bei dem Internisten Dr. F. ein ärztliches Gutachten eingeholt, aus dem sich eine normale (keine herabgesetzte) Lebenserwartung ergab. Als Risikofaktoren hatte der Sachverständige Übergewicht, leichte Aorteninsuffizienz und Grenzwerthypertonie genannt (Gutachten vom 28. Mai 2004).

Während des Abfindungszeitraums bis Juli 2014 beantragte der Kläger dreimal die Vorauszahlung des nicht abgefundenen Teils seiner Rente, welches die Beklagte ihm jeweils für ein Jahr mit Bescheiden vom 31. Mai 2010, vom 5. August 2011 und vom 14. August 2013 auf der Grundlage des § 96 Abs. 2 Sozilagesetzbuch Siebtes Buch – Gesetzliche Unfallversicherung – SGB VII bewilligte. Als Grund für den Wunsch der Vorauszahlungen gab der Kläger finanzielle Engpässe an im Zusammenhang mit der Abwicklung seines Betriebs, zur Befriedigung von Forderungen des Finanzamtes und bis zur endgültigen Abwicklung des Verkaufs seines Hauses. Bei seinem letzten Antrag auf Vorauszahlung teilte er mit, er benötige ca. 3.000,00 EUR.

Mit Schreiben vom 19. März 2014 beantragte der Kläger eine erneute Abfindung seiner Rente. Er machte geltend, er sei privat finanzielle Verpflichtungen eingegangen, habe sich 10.000,00 EUR geliehen, habe Verpflichtungen aus einer Öllieferung und gegenüber einem Hausgutachter, die er aus der Abfindungssumme befriedigen wolle.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 15. April 2014 eine erneute Rentenabfindung ab. Zur Begründung führte sie aus, dass unter Berücksichtigung des Geburtsjahrgangs (1932) des Klägers und seines bisher erreichten Lebensalters nach der aktuellen Generationensterbetafel die Gewährung einer Abfindung nach pflichtgemäßem Ermessen nicht möglich sei. Hierbei habe die Beklagte das "wohlverstandene" Interesse des Klägers mit den Interessen der Allgemeinheit abgewogen. Schutzwürdige Interessen der Allgemeinheit seien insbesondere dann betroffen, wenn die Gefahr bestehe, dass der Antragsteller vor Ablauf von 10 Jahren versterbe.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein. Dieser wurde durch seine damalige Bevollmächtigte dahingehend begründet, dass der Kläger sich bei der Beklagten mehrfach erkundigt habe, ob nach Ablauf der ersten Rentenabfindung eine weitere möglich sei, was immer wieder bejaht worden sei. Der Kläger habe seine finanzielle Lebensplanung auch aufgrund dieser Auskünfte vorgenommen. Gesundheitliche Gründe stünden der erneuten Rentenabfindung nicht entgegen, da sein Gesundheitszustand gut sei und keinerlei Anhaltspunkte dafür bestünden, dass sich dies in nächster Zeit ändern werde. Die ausschließliche Berücksichtigung des Lebensalters des Klägers sei im Gesetz nicht vorgesehen.

Die Beklagte holte einen Befundbericht des Hausarztes des Klägers Dr. G. vom 8. September 2014 ein und zog die Behandlungsunterlagen dieses Arztes bei. Dr. G. stellte als Diagnosen fest eine essentielle Hypertonie, Linksherzhypertrophie, cerebrale Mikroangiopathie, Hyperlipidämie, Aortenklappenstenose I mit lnsuffizienz bei Aortensklerose, Diabetes mellitus Typ 2, Sudeck-Atrophie rechte Hand sowie beidseitige Gonarthrose. Darunter befindet sich u. a. ein Arztbrief des Neurologen Dr. H., der die Diagnosen schwere subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie und lakunärer Thalamusinfarkt rechts stellte. Der Hausarzt beurteilte die Lebenserwartung des Klägers als normal, nicht herabgesetzt.

Zu diesen Unterlagen (Befundberichte und Langzeit-EKG vom 4. Juli 2014) holte die Beklagte eine beratungsärztliche Stellungnahme von Dr. J. vom 3. Oktober 2014 ein. Der Beratungsarzt führte aus, dass aus den vorliegenden Befunden hervorgehe, dass bei dem Kläger schwere Veränderungen im Bereich des Herz-/Kreislaufsystems und des Gehirns vorlägen. Zudem bestehe ein Diabetes mellitus, welcher per se als Ursache für Gefäßveränderungen in verschiedenen Körperregionen in Betracht komme. Nach seiner Auffassung sei die Lebenserwartung des Klägers "signifikant" herabgesetzt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 7. November 2014 wies die Beklagte daraufhin den Widerspruch des Klägers zurück. Aufgrund der Krankheitsrisiken des Klägers könne noch nicht einmal mit Gewissheit von einer normalen Lebenserwartung, die bei 7,16 Jahren, also weniger als 10 Jahre, liege, ausgegangen werden. Eine Rentenabfindung sei daher mit einem so erheblichen Risiko auf Seiten der Beklagten verbunden, dass diese nach pflichtgemäßem Ermessen nicht gewährt werden könne.

Telefonisch teilte der Kläger (Gesprächsnotiz vom 21. November 2014) der Beklagten daraufhin mit, nach Rücksprache mit seiner Rechtsanwältin werde er keine Klage gegen die Ablehnung der Abfindung erheben. Er bitte aber um Prüfung, ob eine (weitere) Rentenvorauszahlung möglich sei. Mit Bescheid vom 21. November 2014 bewilligte die Beklagte eine erneute Vorauszahlung eines Teils der Rente für die Dauer von 24 Kalendermonaten in Höhe von insgesamt 11.040,00 EUR.

Am 25. November 2014 hat der Kläger Klage beim Sozialgericht Frankfurt (Sozialgericht) gegen die Ablehnung der weiteren Rentenabfindung erhoben. Er trägt vor, die Beklagte sei ihrer Amtsermittlungspflicht zur Bewertung der Lebenserwartung des Klägers nicht korrekt nachgekommen und habe ermessensfehlerhaft gehandelt. Die Lebenserwartung des Klägers sei nicht herabgesetzt, sondern sogar weit überdurchschnittlich. Bei den jüngsten Untersuchungen seien nur geringfügige gesundheitliche Einschränkungen festgestellt worden.

Mit Gerichtsbescheid vom 16. Mai 2017 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, über den Abfindungsantrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Die angefochtene Entscheidung der Beklagten sei ermessensfehlerhaft. Die Beklagte könne zwar als zulässigen Ablehnungsgrund eine unzureichende Lebenserwartung des Klägers in ihre Ermessensentscheidung einbeziehen. Wegen des in § 79 SGB VII bestimmten festen Abfindungszeitraums von 10 Jahren beziehe sich die Prüfung der Lebenserwartung aber nicht darauf, ob eine Abweichung von der üblichen Lebenserwartung anzunehmen sei, sondern darauf, ob tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen würden, dass mit dem Tod vor Ablauf des Abfindungszeitraums von 10 Jahren zu rechnen sei. Dies sei dann der Fall, wenn auf Grund medizinischer Daten mit dem Tod in einem weitgehend zuverlässigen überschaubaren Zeitraum (etwa 3 Jahre) gerechnet werden könne. Dr. J. habe keinen Zeitraum genannt, in dem mit hoher Wahrscheinlichkeit mit dem Tod des Klägers zu rechnen sei. Die Beklagte habe auf der Grundlage dieser Stellungnahme die Abfindung nicht ablehnen dürfen.

Gegen den ihr am 16. Mai 2017 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Beklagte am 29. Mai 2017 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt eingelegt. Sie trägt vor, sie habe die Rentenabfindung nach pflichtgemäßem Ermessen zu Recht abgelehnt und dabei das hohe Lebensalter und die individuellen Krankheitsrisiken des Klägers berücksichtigt, die der Annahme einer für den Abfindungszeitraum von 10 Jahren hinreichenden Lebenserwartung entgegenstehen würden. Grundlage seien aktuelle Generationensterbetafeln des Geburtsjahrgangs (Lebenserwartung danach 7,16 Jahren) und die hausärztlich erhobenen Befunde gewesen. Das Sozialgericht habe seiner Entscheidung indes die Grundsätze zu Grunde gelegt, die für die Kapitalabfindung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) für Beschädigte gelte. Diese dürften grundsätzlich bei Antragstellung das 55. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Bei einem derart durch das Bundesentschädigungsgesetz eingeschränkten zulässigen Lebensalter mache es Sinn, im Allgemeinen nur bei hoher Wahrscheinlichkeit des Ablebens binnen drei Jahren eine der Abfindung entgegenstehende Lebenserwartung anzunehmen. Das auszuübende Ermessen in der gesetzlichen Unfallversicherung unterliege anderen Rahmenbedingungen, denn hier gelte kein gesetzliches Höchstalter für die Kapitalabfindung. Höchstrichterlich seien auch fiskalische Ermessensgründe, wie die etwaige Belastung der Allgemeinheit durch die Abfindung, mit den gesetzgeberischen Zielen für vereinbar gehalten worden; dies spreche gegen eine gewollte einseitige Bevorzugung des Versicherten. Im Übrigen sei es auch ärztlicherseits nicht möglich, eine genaue Angabe zur Lebenserwartung des Klägers, etwa in Jahren und/oder Monaten zu machen. Einzig zu berücksichtigen habe die Beklagte, ob die die nach dem allgemeinen Gesundheitszustand des Klägers zu erwartende Restlebenszeit noch dem Abfindungszeitraum von zehn Jahren entspreche. Davon könne schon bei auch nur geringfügig herabgesetzter normalter Lebenserwartung, die beim Kläger 7,16 Jahre betrag, offenkundig nicht mehr ausgegangen werden.

Die Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 16. Mai 2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Der Senat hat die Streitsache gemäß § 153 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nach vorheriger Anhörung der Beteiligten mit Beschluss vom 9. Dezember 2019 der Berichterstatterin übertragen.

Hinsichtlich des Sach- und Streitstandes und dem Vorbringen der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakten (Band I – III) verwiesen, die zum Verfahren beigezogen worden sind.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist erfolgreich. Der erstinstanzliche Gerichtsbescheid war aufzuheben und die (Verpflichtungs-)Klage des Klägers abzuweisen. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 15. April 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. November 2014 ist nach Auffassung des Senats nicht zu beanstanden. Die Beklagte muss über den Abfindungsantrag des Klägers vom 19. März 2014 nicht erneut entscheiden.

Versicherte, die Anspruch auf eine Rente wegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 40 v. H. oder mehr haben, können auf ihren Antrag durch einen Geldbetrag abgefunden werden (§ 78 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch – Gesetzliche Unfallversicherung – SGB VII). Die Abfindung kann dabei (variabel) bis zur Hälfte Rente erfolgen, aber zwingend für die Dauer von zehn Jahren, wie sich aus dem Gesetzeswortlaut des § 79 SGB VII ergibt (vgl. dazu auch Jung in: Schlegel/Voelzke jurisPK-SGB VII, 2. Auflage, Stand: 15. März 2014, § 79 SGB VII Rn. 4; Kranig in: Hauck/Noftz, SGB, § 79 SGB VII Rn. 3). Es handelt sich hier also nicht um eine Kapitalabfindung, sondern um eine teilweise und zeitliche beschränkte Rentenkapitalisierung, also um eine Rentenvorauszahlung für zehn Jahre (Dahm, Abfindung in der gesetzlichen Unfallversicherung und im Sozialen Entschädigungsrecht, WzS 2010 S. 372).

Die Beklagte hat das ihr bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen in § 78 SGB VII eingeräumte Ermessen pflichtgemäß entsprechend dem Zweck der Ermächtigung ausgeübt und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten (vgl. § 39 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch – Allgemeiner Teil – SGB I). Die Ausübung des Ermessens ergibt sich aus den in dem angefochtenen Bescheid genannten Ermessensgesichtspunkten. Die Beklagte hat entgegen der Auffassung des Sozialgerichts auch nicht ermessensfehlerhaft gehandelt.

Als Ermessensfehler kommt nur eine dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechende Ermessensausübung in Betracht. Ein Ermessensfehlgebrauch liegt zum einen vor, wenn die Behörde ein unsachliches Motiv oder einen sachfremden Zweck verfolgt (Ermessensmissbrauch). Zum anderen liegt der Fehlgebrauch als Abwägungsdefizit vor, wenn sie nicht alle Ermessensgesichtspunkte, die nach der Lage des Falls zu berücksichtigen sind, in die Entscheidungsfindung einbezogen hat. Der Fehlgebrauch kann zudem als Abwägungsdisproportionalität vorliegen, wenn die Behörde die abzuwägenden Gesichtspunkte rechtlich fehlerhaft gewichtet hat. Des Weiteren kann ein Fehlgebrauch erfolgt sein, wenn die Behörde ihrer Ermessensbetätigung einen unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt zugrunde gelegt hat (vgl. zu Ermessensfehlern allgemein BSG, Urteil vom 9. November 2010 – B 2 U 10/10 R – juris).

Dem Wortlaut der Vorschriften §§ 78, 79 SGB VII und den Gesetzesmaterialein zu dem Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz vom 7. August 1996 (BT-Drucks. 13/2204 s. 94) lässt sich kein besonderer Ermessenszweck entnehmen. Nachdem die Abfindung gemäß § 78 SGB VII keinen bestimmten Zweck und auch nicht mehr die Gewähr für eine nützliche Verwendung des Geldes (wie noch die Vorgängervorschrift § 608 Ziff. 3 Reichsversicherungsordnung – RVO – a. F.) voraussetzt, haben sich Ermessenerwägungen der Unfallversicherungsträger auch nicht auf diese Gesichtspunkte zu beziehen. Auch wenn im Gegensatz zur Vorgängervorschrift im Abfindungsrecht des SGB VII auf die Festlegung eines Höchstalters bei der Bewilligung der Abfindung verzichtet worden ist, sind Ermessenserwägungen nach diesen Vorschriften aber darauf zu erstrecken, ob der Antragsteller eine im Hinblick auf den Abfindungszeitraum von zehn Jahren ausreichende Lebenserwartung hat. Denn der Unfallversicherungsträger hat im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens auch die Interessen seiner Beitragszahler zu wahren und kann die Abfindung, bei der es sich wie oben ausgeführt eigentlich um eine Rentenvorauszahlung für zehn Jahre handelt, im Falle des vorzeitigen Ablebens nicht zurückfordern. Neben der finanziellen Leistungsfähigkeit des Unfallversicherungsträgers können zudem auch schutzwürdige, vom Unfallversicherungsträger zu wahrende Interessen der Allgemeinheit herangezogen werden, insbesondere ob der Antragsteller ohne den abgefundenen Teil der Rente sofort oder wahrscheinlich in absehbarer Zeit sozialhilfebedürftig wird und damit der Bezug anderer steuerfinanzierter Sozialleistungen droht (vgl. dazu Dahm, Das Abfindungsrecht nach dem SGB VII, in ZfS S. 332 und Dahm, Abfindung in der gesetzlichen Unfallversicherung und im Sozialen Entschädigungsrecht, a. a. O.; BSG, Urteil vom 9. November 2010 a. a. O.; Kranig in: Hauck/Noftz, SGB, 08/18, § 78 SGB VII, Rn. 11). Diese Interessen sind abzuwägen gegenüber dem Interesse des Versicherten, seine wirtschaftlichen Verhältnisse durch eine Verfügungsmacht über einen erheblichen Geldbetrag im Unterschied zu laufenden, ggf. nicht allzu hohen monatlichen Rentenzahlungen zu verbessern.

Die Beklagte hat den angefochtenen Bescheid damit begründet, dass der bei Antrag-stellung fast 82 Jahre alte Kläger eine ausreichende Lebenserwartung im Hinblick auf den Abfindungszeitraum von zehn Jahren nicht hätte. Sie hat dazu auf die von dem Statistischen Bundesamt Deutschland erhobene durchschnittliche Lebenserwartung (Periodensterbetafel) zurückgegriffen und im Widerspruchsverfahren zudem ermittelt, ob konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Tod vor Ablauf des Abfindungszeitraums von 10 Jahren eintritt. Ihre daraufhin getroffene Prognose, die der Senat voll überprüfen kann (Kranig in: Hauck/Noftz, a. a. O., Rn. 11 f.), ist nicht zu beanstanden. Die Stellungnahme des Beratungsarztes Dr. J., der auf Grund der in den beigezogenen Befunden dargelegten schweren Veränderungen im Bereich des Herz-/Kreislaufsystems und des Gehirns des Klägers von einer signifikant herabgesetzten Lebenserwartung ausgeht, ist auch für den Senat überzeugend und nachvollziehbar. Hinsichtlich des Zeitpunktes der Prognose war dabei auf den Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides abzustellen (s. zum maßgebenden Zeitpunkt für Verpflichtungsklagen bei Ermessensentscheidungen Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 12. Auflage 2017, § 54 Rn. 34a).

Entgegen dem Sozialgericht (dort unter Hinweis u. a. auf die Entscheidung des Sozialgerichts Kiel vom 18. September 2002 - S 2 U 123/01 – juris und Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 78 Rn. 7) ist für die Prognose eine Gewissheit oder hohe Wahrscheinlichkeit des Todes vor Ablauf des Zehnjahreszeitraums nicht zu fordern. Diese Anforderungen sahen die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX; 2008 Teil C 51 Seiten 167, 168) für die Prognose bei der Kapitalabfindung im Entschädigungsrecht vor. Dort wird ausgeführt, woran sich das Sozialgericht in dem angefochtenen Gerichtsbescheid orientiert hat, im Allgemeinen sei eine hohe Wahrscheinlichkeit des vorzeitigen Ablebens dann nicht der Fall, wenn mit dem Tod in naher Zeit nicht zu rechnen sei, d.h. wenn das Ableben innerhalb eines Zeitraums von etwa drei Jahren nicht wahrscheinlich sei. Dieser enge Maßstab für die im Rahmen der Ermessensentscheidung zu treffenden Prognose bezüglich der Lebenserwartung erscheint im Entschädigungsrecht angemessen, denn dort sind die Voraussetzungen für die Abfindung andere als in der gesetzlichen Unfallversicherung (vgl. Dahm, Abfindung in der gesetzlichen Unfallversicherung und im Sozialen Entschädigungsrecht, a. a. O.): Für die Abfindung gibt es eine Altersgrenze, grundsätzlich muss der Antrag vor Vollendung des 55. Lebensjahres gestellt werden, § 73 Abs. 1 Nr. 1 BVG, ausnahmsweise bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres (§ 73 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 BVG), der Verwendungszweck muss nützlich sein (§ 73 Abs. 1 Nr. 4. BVG) und es besteht eine Rückzahlungspflicht, sofern eine bestimmungsmäßige Verwendung nicht erfolgt (§ 76 BVG). Im Unfallversicherungsrecht, wo weder Altersgrenze noch Rückzahlungspflicht bestehen, sind diese Anforderungen im Hinblick auf den Zehnjahreszeitraum gerade bei betagten Antragstellern wie dem Kläger zu weitgehend. Zur Wahrung der Interessen der Beitragszahler muss der Unfallversicherungsträger vermeiden, dass es bei entsprechenden konkreten Anhaltspunkten - wie vorliegend - durch die Abfindung zur Gefahr eines höheren Leistungsaufwands als bei laufender Rentenzahlung kommt (Kranig in: Hauck/Noftz, a. a. O., Rn. 11).

Auch unter dem Gesichtspunkt einer Abwägungsdisproportionalität vermag der Senat hier keinen Ermessensfehlgebrauch erkennen.

Der Senat weist im Übrigen darauf hin, dass der Kläger die Möglichkeit hat und hatte und auch in der Vergangenheit genutzt hat, für kürzere Zeiträume (zuletzt für 24 Monate) eine Rentenvorauszahlung nach § 96 Abs. 2 SGB VII von der Beklagten zu erhalten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, die Entscheidung über die Nichtzulassung der Revision auf § 160 Abs. 2 SGG.
Rechtskraft
Aus
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