L 1 KR 308/18

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 223 KR 1556/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 308/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 1 KR 5/20 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Eine fiktive Genehmigung nach § 13 Abs. 3a S. 6 SGB V eines Antrages auf Kostenübernahme einer Behandlung, die von vornherein nur in einer speziellen Privatklinik erfolgen soll, ist nicht in jedem Fall ausgeschlossen, weil das Begehren offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liegt.
Die Berufung wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch für das Berufungsverfahren zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Im Streit ist die Verpflichtung der Beklagten, die Kosten für eine geschlechtsangleichende Operation in einer Privatklinik zu übernehmen.

Bei dem 1992 geborenen Kläger ist eine Frau-zu-Mann-Transsexualität (F 64.0) diagnostiziert. Er leidet an einem hereditären Angioödem aufgrund C1-Esterase-Inhibitor-(C1-INH)-Mangel, einer sehr seltenen angeborenen Gesundheitsstörung, die auch als Quincke-Ödem bezeichnet wird. Diese führt zu episodisch auftretenden Ödemen im Bereich der Schleimhäute und der Haut, die bei Operationen zu schweren Komplikationen führen können.

Unter Bezugnahme auf diesen Umstand beantragte der Kläger am 8. März 2016 "in einer Einzelfallentscheidung" die Übernahme für die operative Geschlechtsanpassung Frau-zu-Mann. Die Erkrankung an den Quincke-Ödemen benötigte eine besondere Intensivüberwachung, welche in der Klinik SPgewährleistet sei. Außerdem biete das Team die wohl größte Erfahrung von mehr als 720 Eingriffen von Frau zum Mann, ein sehr geringes Komplikationsrisiko im Vergleich zu anderen Kliniken und das bestmögliche funktionelle/ästhetische Ergebnis. Hinzu komme, dass in dieser Klinik die Entfernung der Eierstöcke, der Eileiter und der Gebärmutter sowie die Entfernung der Scheide und der Aufbau des Penoids in nur einer statt zwei Operation erfolgten. Der Kläger fügte zwei Kostenvoranschläge der Klinik, aus denen sich die angedachten Maßnahmen im Einzelnen ergeben, sowie weitere Unterlagen aus dem Verfahren auf Vornamensänderung und auf Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit nach dem Transsexuellengesetz bei. Mit Schreiben vom 19. April 2016 teilte der Kläger der Beklagten mit, die Frist nach § 13 Abs. 3a Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) sei nunmehr abgelaufen. Der Antrag gelte als genehmigt.

Die Beklagte lehnte (daraufhin) mit Bescheid vom 21. April 2016 die Kostenübernahme für eine stationäre Behandlung in der Privatklinik S in P ab. Die geplante Behandlung sei in mehreren Vertragskrankenhäusern in Deutschland möglich, so dass eine Kostenübernahme für eine Privatbehandlung nicht erfolgen dürfe. Ein Anspruch bestünde auch nicht aus § 13 Abs. 3a SGB V, da die Behandlung nicht von einem zugelassenen Leistungserbringer durchgeführt werden solle bzw. nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung gehöre.

Gleichzeitig beauftragte die Beklagte den medizinischen Dienst der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg e.V. (MDK), der in seinem sozialmedizinischen Gutachten vom 25. April 2016 zu dem Ergebnis gelangte, dass die medizinischen Voraussetzungen für die beantragten Leistungen erfüllt seien. Bei manifestem Transsexualismus Frau-zu-Mann seien die sozialmedizinischen Voraussetzungen für eine operative Geschlechtsangleichung der Genitalregion und einer Mastektomie beidseits in einem Vertragskrankenhaus gegeben.

Die Beklagte teilte daraufhin mit Bescheid vom 27. April 2016 mit, die Kosten für die geplante Mastektomie zur vertraglich vereinbarten Vergütung im V Klinikum A zu übernehmen sowie für die beantragte genitalangleichenden operativen Maßnahmen die Kosten zur vertraglich vereinbarten Vergütung in einem Vertragskrankenhaus zu übernehmen. Sie verbleibe aber bei der Ablehnung vom 21. April 2016, keine Kosten für die Klinik S zu übernehmen.

Der Kläger erhob gegen den Ablehnungsbescheid am 18. Mai 2016 Widerspruch, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19. Juli 2016 zurückwies. Zur Begründung führte sie ergänzend aus, die Krankenkassen würden eine bedarfsgerechte Versorgung aller notwendigen Maßnahmen schulden. Notwendig seien die Maßnahmen, die zur Erreichung des Behandlungsziels zur Linderung der Krankheitsbeschwerden unentbehrlich oder unvermeidlich seien. Die Krankenkassen schuldeten lediglich eine bedarfsgerechte und gleichmäßige Versorgung unter Berücksichtigung des jeweiligen Standes der medizinischen Wissenschaft und Technik. Sie hätten die Leistungen zu gewähren, die zur Heilung und Linderung nach den Regeln der ärztlichen Kunst zweckmäßig und ausreichend seien. Die beim Kläger geplanten Operationen könnten in einem zugelassenen Krankenhaus durchgeführt werden. Dass dort möglicherweise mehr als zwei Operationstermine angesetzt würden, hingegen in der Klinik S die Geschlechtsumwandlung in insgesamt zwei Sitzungen durchgeführt werde, sei unerheblich. Auch mögliche Qualitätsunterschiede oder größere Erfolgsversprechen einzelner Operateure könnten eine Leistungspflicht der Krankenkassen außerhalb des gesetzlichen Systems nicht begründen.

Hiergegen hat der Kläger am 19. August 2016 Klage beim Sozialgericht Berlin (SG) erhoben. Aus gesundheitlichen Gründen sind ihm 2018 die Gebärmutter und die Eierstöcke entfernt worden. Er hat daraufhin einen neuen Kostenvoranschlag der Klinik S vom 12. April 2018 eingereicht.

Zur Klagebegründung hat er vorgebracht, dass die Genehmigungsfiktion greife, da er die Leistung der Geschlechtsumwandlung in der Privatklinik für erforderlich habe halten dürfen und diese nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liege. Bei ihm bestünde aufgrund des Quincke-Ödems ein erhöhtes Operationsrisiko, welches die Wahl der Klinik S notwendig gemacht habe. Dort könne die Geschlechtsumwandlung in zwei Operationen durchgeführt werden, während in den zugelassenen Krankenhäusern drei Operationen notwendig seien. Jede weitere Operation sei aufgrund seines Leidens stark gesundheitsgefährdend. In der mündlichen Verhandlung hat er am 24. August 2018 erklärt, er müsse sich bei den Krankenhausaufenthalten jeden Tag eine Spritze für 1.000 Euro setzen, um Ödemen vorzubeugen. Er sei in Berlin in zwei Krankenhäusern vorstellig gewesen. Das E-Krankenhaus habe dabei die Harnröhre vorübergehend an den Arm verlegen wollen, was bei seiner Erkrankung sehr gefährlich wäre. Im H-Klinikum hätten ihn die Operateure nicht überzeugt. Die Komplikationsrate sei dort höher, der Eingriff sei dort noch nicht so oft durchgeführt worden. Außerhalb von Berlin könne er sich nicht operieren lassen, da es zu Komplikationen kommen könne. Diese könnten sich auf den Penoid-Aufbau erstrecken, weshalb ein Spezialist benötigt werde. Ihm sei schon klar gewesen, dass es bei der Kostenübernahme zu Komplikationen kommen könne. Er habe aber gewusst, dass eine Einzelfallentscheidung möglich sei. Davon habe ihm die Klinik S berichtet.

Die Beklagte hat vorgetragen, das Leistungsbegehren liege offensichtlich außerhalb des Leistungskataloges der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Dies werde insbesondere dadurch ersichtlich, dass der Kläger in seinem Leistungsantrag ausdrücklich den Wunsch geäußert habe, die geschlechtsangleichende Maßnahme in der Privatklinik durchführen zu lassen, obwohl zugelassene Vertragskrankenhäuser die streitgegenständlichen Leistungen ebenso erbringen könnten (Bezugnahme auf Bundessozialgericht [BSG] vom 11. Juli 2017 – B 1 KR 16/16 R – Rdnr. 23).

Das SG hat mit Urteil vom 24. August 2018 die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 27. April 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Juli 2016 verurteilt, die Kosten für die geschlechtsangleichende Operation in stationärer Behandlung in der Klinik S zu übernehmen. Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt, der Kläger habe einen Anspruch auf die Übernahme der Kosten der für den Penoid-Aufbau und die Erektionsprothese erforderlichen Operationen in der Klinik S aus § 13 Abs. 3a S. 6 SGB V. Die Beklagte habe den hinreichend bestimmten Antrag nicht innerhalb der nach § 13 Abs. 3a S. 1 SGB V maßgeblichen Frist von drei Wochen entschieden. Der Antrag habe außerdem eine Leistung betroffen, die der Kläger für erforderlich habe halten dürfen und die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liege (Bezugnahme auf BSG, Urteil vom 8. März 2016 – B 1 KR 25/15 R -). Er habe insbesondere die Inanspruchnahme der Privatklinik für erforderlich und nicht als offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs liegend halten dürfen. Ob eine Vorfestlegung auf eine Privatklinik die Annahme der Genehmigungsfiktion ausschließe, habe das BSG offen gelassen. Es lägen keine Anhaltspunkte für einen bewussten Rechtsmissbrauch vor. Der Kläger habe die Inanspruchnahme der Privatklinik aus medizinischen Gründen für erforderlich halten dürfen. In seiner Befragung habe er trotz der emotionalen Tragweite der Sache die Umstände ruhig und detailliert wiedergegeben. Aufgrund seiner seltenen Erkrankung an dem Quincke-Ödem sei er bei Antragstellung davon überzeugt gewesen, dass jede Operation ein erhöhtes Gesundheitsrisiko beinhalte und er deshalb die Operationen nur in der Klinik S durchführen lassen habe wollen, wo nach seinen Recherchen nur zwei anstelle von den in zugelassenen Krankenhäusern vorgesehenen drei Operationen benötigt werden würden. Er sei außerdem der Meinung gewesen, dass eine ortsfremde Operation aufgrund seines Leidens und des damit einhergehenden Komplikationsrisikos auch im Nachgang der Operation nicht in Betracht kommen könne. Er sei deshalb nicht davon ausgegangen, dass die Leistung offensichtlich außerhalb des Leistungskataloges liege, sondern dass er ausnahmsweise im Wege einer "Einzelfallentscheidung" einen Anspruch auf Übernahme der Kosten in der Privatklinik habe.

Gegen diese am 11. September 2018 zugestellte Entscheidung richtet sich die Berufung der Beklagten vom 26. September 2018. Zu deren Begründung führt sie aus, dass nach der Rechtsprechung des BSG die beantragte Leistung nicht die Leistungsgrenzen der GKV überwinden dürfe, die jedem Versicherten klar sein müssten. Abzustellen sei also nicht auf den individuellen Erwartungshorizont des konkreten Antragstellers, sondern vielmehr die berechtigten Erwartungen eines durchschnittlichen Versicherten. Hier habe der Kläger von vornherein nicht auf das Ergehen einer Genehmigung vertrauen dürfen, weil er von vornherein eine Krankenhausbehandlung ausschließlich in einer Privatklinik beantragt habe. Diesem sei auch bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung bekannt gewesen, dass die Klinik Seine Privatklinik und kein zugelassenes Krankenhaus i. S. d. § 108 SGB V sei.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 24. August 2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Auf die von den Beteiligten eingereichten Schriftsätze und die zitierten Unterlagen wird ergänzend Bezug genommen. Der Verwaltungsvorgang der Beklagten lag zur mündlichen Verhandlung vor und war Gegenstand der Erörterung.

Entscheidungsgründe:

Der Berufung bleibt Erfolg versagt. Die Klage ist zulässig und begründet.

Die Klage auf Übernahme der Kosten einer operativen Geschlechtsanpassung in der Klinik S P ist als allgemeine Leistungsklage zulässig. Nach § 54 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann die Verurteilung zu einer Leistung, auf die Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte. Hierfür genügt es, dass ein bindender Verwaltungsakt nach § 77 SGG vorliegt, der Leistungsträger aber gleichwohl nicht leistet. Ist die Genehmigung einer beantragten Leistung kraft Fiktion erfolgt, steht dies der Bewilligung der beantragten Leistung durch einen Leistungsbescheid gleich. Die Genehmigungsfiktion bewirkt ohne Bekanntgabe einen in jeder Hinsicht vollwirksamen Verwaltungsakt i.S.v. § 31 S. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Durch den Eintritt der Fiktion verwandelt sich der hinreichend inhaltlich bestimmte Antrag in den Verfügungssatz des fingierten Verwaltungsakts. Diese hat zur Folge, dass das in seinem Gegenstand durch den Antrag bestimmte Verwaltungsverfahren beendet ist und dem Versicherten unmittelbar ein Anspruch auf Versorgung mit der Leistung zusteht (BSG, Urteil vom 7. November 2017 – B 1 KR 2/17 R – Rdnr. 10 mit Bezugnahme auf Urteil vom 11. Juli 2017- B 1 KR 26/16 R – Rdnr. 8). Die daneben im Wege der objektiven Klagehäufung (§ 56 SGG) erhobene isolierte Anfechtungsklage gegen den ablehnenden Bescheid, mit der die Beklagte eine neue Sachentscheidung getroffen hat, ist ebenfalls zulässig (BSG, Urteil vom 7. November 2017 Rdnr. 12).

Die Klage ist auch begründet.

Kraft fingierter Genehmigung des Antrages entstand für den Kläger gegen die Beklagte ein eigenständig durchsetzbarer Anspruch auf Versorgung mit der beantragten Operation als Naturalleistung. Ausdrücklich regelt das Gesetz, dass, wenn keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes erfolgt, die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt gilt (§ 13 Abs. 3a S. 6 SGB V). Es regelt nach dem klaren Wortlaut des Satz 6 einen Naturalleistungsanspruch. Ohne den nachfolgenden Satz 7 bliebe es allein bei diesem Anspruch. Denn eine Krankenkasse darf anstelle der Sach- oder Dienstleistung Kosten nur erstatten, soweit es das SGB V oder das Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) vorsehen. § 13 Abs. 3a S. 7 SGB V begrenzt den sich aus der Genehmigungsfiktion ergebenden Anspruch schon nach seinem Wortlaut nicht, sondern erweitert die Handlungsoptionen neben der Inanspruchnahme der Leistung in Natur um die Selbstbeschaffung mit Kostenerstattung. Dies vermeidet eine sachwidrige Ungleichbehandlung i.S.v. Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz. Denn nur der Naturalleistungsanspruch kraft Genehmigungsfiktion ermöglicht auch mittelosen Berechtigten, die nicht in der Lage sind, sich die begehrte Leistung selbst zu beschaffen, ihren Anspruch zu realisieren (vgl. BSG, Urteil vom 27. August 2019 – B 1 KR 1/19 R – Rdnr. 13). Hierfür spricht auch der Sanktionscharakter der Norm. Berechtigte sollen nach dem Regelungszweck sehr schnell zur Feststellung ihrer Ansprüche kommen. Dazu erzeugt die Vorschrift bei den Krankenkassen einen erheblichen Zeit- und Handlungsdruck. Schlösse § 13 S. 3a S. 7 SGB V den Naturalleistungsanspruch aus, wäre der mittelose Versicherte zur Durchsetzung seiner Ansprüche im wirtschaftliche Ergebnis weiterhin darauf verwiesen, den Abschluss des Verwaltungsverfahrens durch Bekanntgabe einer Bewilligung abzuwarten. Wäre der Naturalleistungsanspruch ausgeschlossen, kämen gerade die Berechtigten nicht in den Genuss der neugeregelten Sanktionswirkung.

Der Antrag des Klägers betrifft auch eine Leistung, die er bei Antragstellung für erforderlich halten durfte und die zu diesem Zeitpunkt nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV lag. Die Gesetzesregelung ordnet diese Einschränkungen für die Genehmigungsfiktion zwar nicht ausdrücklich an, aber sinngemäß nach dem Regelungszusammenhang und Regelungszweck. Die Begrenzung auf erforderliche Leistungen bewirkt eine Beschränkung auf subjektiv für den Berechtigten erforderliche Leistungen, die nicht offensichtlich außerhalb des Leitungskataloges der GKV liegen. Einerseits soll die Regelung es dem Berechtigten erleichtern, sich die ihm zustehende Leistung zeitnah zu beschaffen. Andererseits soll sie ihm nicht zu Rechtsmissbrauch einladen, indem sie Leistungsgrenzen des GKV–Leistungskatalogs überwindet, die jedem Versicherten klar sein müssen (ständige Rechtsprechung des BSG z.B. Urteil vom 27. August 2019 m. w. N.). Das Gesetz nimmt es bewusst in Kauf, dass der Antragsteller Leistungen als fiktiv genehmigt erhält, auf die ohne die Genehmigungsfiktion kein materiell-rechtlicher Anspruch bestünde. Wäre nur die auf sonstige materiell-rechtliche bestehende Leistungsansprüche gerichteten Anträge fiktionsfähig, wäre die Regelung des § 13 Abs. 3a S. 6 SGB obsolet (BSG, a.a.O. Rdnr. 20 m. w. N.). Als Leistungsgrenze, die jedem Versicherten klar sein müssen, sprechen die Gesetzesmaterialien beispielhaft den Fall an, dass die Krankenkasse auch im Fall der selbstbeschafften Leistung, zum Beispiel bei einer notwendigen Versorgung mit Zahnersatz, nicht den vom Versicherten zu tragenden Eigenanteil zu übernehmen hat (BSG, Urteil vom 08. März 2016 – B 1 KR 25/15 R –, BSGE 121, 40-49, Rdnr. 26 mit Bezugnahme auf Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss) zu dem Entwurf eines PatRVerbG der Bundesregierung, BT-Drucks 17/11710 S 30). Rechtsmissbräuchlich ist es, eine Leistung zu fordern, für die offensichtlich, d. h. ohne weiteres erkennbar, keine Rechtsgrundlage besteht. Für die Fiktionsvorschrift im § 18 SGB IX (in der ab 2018 geltenden Fassung aufgrund des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen [Bundesteilhabegesetz – BTHG]) normiert dessen Abs. 5, dass die Erstattungspflicht nicht besteht nicht, (1.) wenn und soweit kein Anspruch auf Bewilligung der selbstbeschafften Leistungen bestanden hätte und (2.) die Leistungsberechtigten dies wussten oder infolge grober Außerachtlassung der allgemeinen Sorgfalt nicht wussten. Der Gesetzgeber wollte mit dieser Regelung eine Erstattung offensichtlich rechtswidriger Leistungen, die rechtsmissbräuchlich beschafft wurden, ausschließen (BT-Drucksache 18/9522, S. 238; Noftz in: Hauck/Noftz, SGB, 07/19, § 13 SGB V, Rdnr. 58l).

Der Kläger durfte die beantragte Leistung nach dem Gesamtzusammenhang für erforderlich halten. Wenn ein Versicherter eine Leistung außerhalb des Naturalleistungssystems in Anspruch nehmen will, etwa weil die Versorgung mit zugelassenen Leistungserbringern vermeintlich nicht sichergestellt ist, muss er vorher die Krankenkasse aufsuchen, um ihr zu ermöglichen, die angebliche Versorgungslücke zu überprüfen (BSG, Urteil vom 02. September 2014 – B 1 KR 11/13 R –, BSGE 117, 10-21, Rdnr. 18 m. weit. Nachweis). Dies kann etwa bei einem Systemversagen der Fall sein (BSG, a. a. O. Rdnr. 16; Urteil vom 27. März 2007 – B 1 KR 25/06 R –, juris-Rdnr. 14 jeweils für neue Behandlungsmethoden). Der Kläger ist hier so vorgegangen. Er hat die Inanspruchnahme der speziellen Privatklinik bereits im Antrag vom 8. März 2016 mit seiner genetisch bedingten Erkrankung des hereditären Angioödem begründet, mit welchem die Gefahr schwerer Schwellungen, auch lebensgefährlicher, wie Kehlkopfschwellungen, einhergehen können. Seinem Antrag war unter anderem ein Attest seines behandelnden Hausarztes Dr. M vom 21. Dezember 2015 beigefügt, wonach die chirurgische Geschlechtsumwandlung angesichts des den Eingriff verkomplizierendem C1-Esterasemangel in der Klinik S ausdrücklich befürwortet werde, da dort die intensivmedizinische Betreuung gewährleistet sei. Der Kläger äußerte sinngemäß, dass (nur) in dieser Klinik die Entfernungen der bisherigen Geschlechtsteile und der Aufbau eines Penoids in einer Operation erfolgen könnten. Der beigefügte Kostenvoranschlag der Klinik S war zudem speziell "zur Vorlage bei der Krankenkasse Antrag auf Kostenübernahme in Einzelfallentscheidung" gerichtet mit der Bitte zu prüfen, ob eine Kostenübernahme im Rahmen einer Einzelfallentscheidung durch die Krankenkasse möglich sei.

Die begehrte Geschlechtsumwandlungs-OP in einer Privatklinik liegt auch nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV. Die Auffassung, im Wege einer Einzelfallentscheidung ausnahmsweise die Leistungen einer Privatklinik erstattet zu erhalten, konnte nicht nur infolge grober Außerachtlassung der allgemeinen Sorgfalt entstehen.

Der GKV ist die Sachleistung durch nichtvertragsärztlich zugelassene Privatärzte bzw. Privatkrankenanstalten statt Vertragskrankenhäusern nicht gänzlich fremd. In Notfällen kann der Versicherte auch solche medizinischen Leistungserbringer in Anspruch nehmen. "Einzelfallentscheidungen" sind darüber hinaus von den Krankenkassen zu treffen, wenn und soweit die Versorgung mit zugelassenen Leistungserbringern vermeintlich nicht sichergestellt ist (BSG, Urteil vom 2. September 2014 Rdnr. 13). Genau eine solche Situation sollte aus Sicht des Klägers vorliegen, wie dargestellt wurde. Es ist bis heute nach Aktenlage nicht ersichtlich, dass auch in einem Vertragskrankenhaus eine Operation eingespart hätte werden können oder –alternativ- dass das Komplikationsrisiko der weiteren Operation hinnehmbar gewesen wäre.

Für die weiteren Voraussetzungen des Anspruches wird auf die Ausführungen des SG im angegriffenen Urteil verwiesen, § 153 Abs. 2 SGG.

Der entstandene Anspruch aufgrund fingierter Genehmigung ist auch noch nicht erloschen. Auch eine fingierte Genehmigung bleibt wie jeder Verwaltungsakt nach § 39 Abs. 2 SGB X wirksam, solange und soweit sie nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder sich durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt. Erledigung tritt ein, wenn die Bestands- oder Rechtswirkungen einer Genehmigung für den Adressaten erkennbar von vornherein an den Fortbestand einer bestimmten Situation gebunden sind, so wird die Genehmigung gegenstandslos, wenn die betreffende Situation nicht mehr besteht (ständige Rechtsprechung des BSG, z.B. Urteil vom 27. August 2019, Rdnr. 25. m. w. N.). Hier hat sich der Anspruch zwar teilweise erledigt. Aus gesundheitlichen Gründen sind dem Kläger bereits 2018 die Gebärmutter und die Eierstöcke entfernt worden. Damit hat sich die begehrte geschlechtsumwandelnde Operation in der speziellen Privatklinik aber nicht insgesamt erledigt. Nicht erheblich für den bestehenden Leistungsanspruch ist die Frage, ob in der jetzigen Situation, in der gegenüber dem Standardvorgehen keine mit einem Komplikationsrisiko behaftete Operation mehr vermieden werden kann, einem Antrag nunmehr von vornherein der Einwand entgegenstünde, dass das Begehren offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV liegt. Auch die Anfechtungsklage ist somit begründet: Der ablehnende Bescheid vom 27. April 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Juli 2016 ist rechtswidrig. Er verletzt den Kläger in seinem sich aus der fiktiven Genehmigung des Antrages ergebenden Leistungsanspruch.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Revision ist aus grundsätzlichen Gründen zuzulassen, § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG. Höchstrichterliche Rechtsprechung zu einer fiktiven Genehmigung eines Antrages auf Kostenübernahme einer Behandlung von vornherein nur in einem Privatkrankenhaus gibt es soweit ersichtlich bislang nicht.
Rechtskraft
Aus
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