S 3 SO 616/16 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Duisburg (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
3
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 3 SO 616/16 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 25.05.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.10.2016 dem Grunde nach verurteilt, an den Kläger für die Zeit vom 16.03.2016 bis zum 29.01.2019 Leistungen nach § 23 Abs. 3 S. 6 SGB XII in Höhe der Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB zwölf zu gewähren, abzüglich bereits erbrachter Leistungen. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers trägt die Beklagte.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung von Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII).

Der 19xx geborene Kläger ist albanischer Staatsangehöriger. Am 13.12.2014 reiste er mit seiner bulgarischen Ehefrau von Bulgarien nach Deutschland ein und bezog mit ihr eine Wohnung in D., die er seitdem bewohnt.

Vom 01.02.2015 bis zum 15.09.2015 arbeitete der Kläger in einem Trockenbaubetrieb. In dieser Zeit erlitt er erstmals eine schwere Psychose. Zum 15.09.2015 wurde dem Kläger betriebsbedingt gekündigt.

Der Kläger leidet seitdem insbesondere an einer paranoiden Schizophrenie. Der befand sich wiederholt in stationärer psychiatrischer Behandlung, unter anderem in der Zeit vom 03.07. bis zum 10.09.2015, vom 15.10. bis zum 30.11.2015, vom 01.03.2016 bis zum 29.03.2016, vom 08.05. bis zum 10.06.2016, vom 04.07. bis zum 14.07.2016, vom 24.07. bis zum 18.10.2016, vom 08.12. 2016 bis zum 19.01.2017, vom 24.01. bis zum 10.03.2017, vom 21.04. bis zum 16.05.2017, vom 29.05. bis zum 27.06.2017, vom 27.07. bis zum 09.08.2017 und vom 15.11.bis zum 21.12.2017.

Der Kläger ist nicht in der Lage, seine persönlichen Angelegenheiten angemessen zu besorgen. Im Oktober 2015 bestellte das Amtsgericht D.-H. eine Betreuerin für den Kläger. Die Aufgabenkreise umfassten Aufenthaltsbestimmung, Gesundheitsfürsorge, Postangelegenheiten, Vermögensangelegenheiten, Vertretung gegenüber Behörden, und Sozialversicherungsträgern und Wohnungsangelegenheiten. Mit Beschluss vom 06.12.2018 bestellte das Betreuungsgericht später den Bruder des Klägers, Herrn Selim G. - anstelle der bis dahin bestellten Berufsbetreuerin - zum Betreuer des Klägers.

Im Dezember 20xx wurde ein gemeinsames Kind des Klägers und seiner Ehefrau geboren.

Auf Antrag der Betreuerin erhielt der Kläger für den Zeitraum vom 01.01.2016 bis zum 15.03.2016 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitssuchende - (SGB II) von dem Beigeladenen. Der Beigeladene begründete die Leistungsgewährung damit, dass der Arbeitnehmerstatus des Klägers aufgrund der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit noch ein halbes Jahr fortwirke.

Im März 2016 trennte sich die Ehefrau von dem Kläger. Nach der Trennung hatte der Kläger keinen Kontakt zu der Ehefrau oder dem gemeinsamen Kind.

Am 04.05.2016 beantragte der Kläger Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII bei der Beklagten.

Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 25.05.2016 mit der Begründung ab, dass der Kläger gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII von Leistungen ausgeschlossen sei.

Den gegen diesen Bescheid gerichteten Widerspruch des Klägers vom 21.06.2016 begründete dieser im Wesentlichen damit, dass die Beklagte im Rahmen ihrer Entscheidung gemäß § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII hätte Ermessen ausüben müssen und dieses Ermessen nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts auf Null reduziert wäre.

Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 20.10.2016 zurück. Der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes, auf die der Kläger sich beriefe, würde die Beklagte nicht folgen. Im Übrigen sei diesbezüglich eine gesetzliche Korrektur angekündigt.

Für den Zeitraum vom 23.08.2016 bis zum 31.03.2017 gewährte die Beklagte dem Kläger aufgrund eines Beschlusses des Sozialgericht Duisburg vom 21.10.2016 (S 48 SO xxx/16 ER) vorläufig Leistungen des Regelbedarfes nach dem Dritten Kapitel SGB XII und übernahm vorläufig die Krankenversicherungsbeiträge des Klägers. Mit einem auf die Übernahme von Unterkunftskosten gerichteten Eilverfahren blieb der Kläger vor dem SG Duisburg erfolglos (S 2 SO xxx/16 ER).

Seit März 2016 unterstützt der Bruder und aktuelle Betreuer den Kläger finanziell. Insbesondere übernimmt er darlehensweise Kosten für Lebensmittel, Kleidung, Handy, Apotheke, Strom und die Hälfte der Wohnungsmiete des Klägers. Der Kläger hat neben den Darlehensschulden gegenüber seinem Bruder und Betreuer Mietschulden in Höhe von 3.810,91 Euro sowie offene Krankenkassenbeiträge in Höhe von 8.501,89 Euro.

Am 13.11.2016 hat der Kläger Klage erhoben mit der er sich gegen die Ablehnung der Leistungen wendet. Der Kläger ist der Ansicht ihm stehe für den gesamten streitgegenständlichen Zeitraum ein Anspruch auf existenzsichernde Leistungen nach dem Dritten Kapitel SGB XII zu. Für den Zeitraum bis zum 28.12.2016 ergäbe sich der Anspruch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 03.12.2015 - B 4 AS 44/15 R u.a.) aus § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII (in der am 28.12.2016 geltenden Fassung), für die Zeit ab dem 29.12.2016 aus § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII (in der ab dem 29.12.2016 geltenden Fassung).

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 25.05.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.10.2016 dem Grunde nach zu verurteilen, an den Kläger für die Zeit vom 16.03.2016 bis zum 29.01.2019 Leistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII in Höhe der Leistungen nach dem Dritten Kapitel SGB XII zu gewähren, abzüglich bereits erbrachter Leistungen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte folgt der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, auf die der Kläger seinen Anspruch für die Zeit bis zum 28.12.2016 stützt, nicht. Sie vertritt die Meinung, eine Leistungsgewährung an den Kläger sei gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ausgeschlossen. Ein Anspruch des Klägers ergäbe sich für die Zeit ab dem 29.12.2016 auch nicht nach § 23 Abs. 3 Satz 3 oder Satz 6 SGB XII. Die Vorschrift sei nicht dafür geeignet, eine dauerhafte Leistungsgewährung zu ermöglichen. Für ein solches Vorgehen sei sie nicht gemacht worden. Sie wolle lediglich Überbrückungsleistungen gewähren. Der Gesetzgeber habe ausdrücklich eine 5-Jahresgrenze für den Aufenthalt in Deutschland festgelegt, welche zu einem Anspruch nach den entsprechenden sozialrechtlichen Normen führen könne.

Im April 2017 wurde der Kläger von seiner Ehefrau geschieden. Am 07.07.2018 reiste die geschiedene Ehefrau des Klägers zusammen mit dem gemeinsamen Kind zurück nach Bulgarien aus.

Am 29.01.2019 beantragte der Kläger bei der Beklagten erneut Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII.

Am 29.03.2019 entzog das Ausländeramt der Beklagten dem Kläger das Freizügigkeitsrecht. Gleichzeitig sah es aufgrund des gesundheitlichen Zustandes des Klägers von einer Abschiebungsverfügung ab. Das Gesundheitsamt der Beklagten hatte die Reisefähigkeit des Klägers geprüft und festgestellt, dass der Kläger aufgrund einer paranoiden Psychose mit erheblicher Pflegebedürftigkeit nicht in der Lage sei in sein Heimatland zu fliegen oder es auf dem Landweg zu erreichen. Eine Verbesserung der Erkrankung sei nicht zu erwarten.

Am 03.09.2019 erhielt der Kläger eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG).

Das Gericht hat zum Gesundheitszustand und zur Reisefähigkeit des Klägers Beweis erhoben durch Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens. Auf den Inhalt des Gutachtens vom 04.01.2018 wird Bezug genommen. Bezüglich des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird verwiese auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Akten der beigezogenen Verfahren S 48 SO xxx/16 ER und S 2 SO xxx/16 ER, der beigezogenen Betreuungsakte und den Inhalt der beigezogenen, den Kläger betreffenden Leistungs- und Ausländerakten der Beklagten, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.

Entscheidungsgründe:

I. Gegenstand des Verfahrens im Sinne des § 95 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist der Bescheid der Beklagten vom 25.05.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.10.2016. In zeitlicher Hinsicht ist der Zeitraum zwischen dem 16.03.2016 und dem 29.01.2019 gegenständlich. Die Beklagte hat mit dem angefochtenen Bescheid Leistungen auf Dauer unbefristet abgelehnt, so dass grundsätzlich über den gesamten Zeitraum bis zur mündlichen Verhandlung zu entscheiden wäre. Dieser Zeitraum wurde durch eine erneute Antragstellung der Klägerin bei der Beklagten am 29.01.2019 jedoch unterbrochen. Entsprechend dem Antrag des Klägers ist inhaltlich gegenständlich die Gewährung von Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII.

II. Die Klage ist als Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1, 4 SGG) zulässig. Gemäß § 130 Abs. 1 SGG konnte sie auf eine Gewährung der Leistungen dem Grunde nach gerichtet werden, da der Kläger gemäß § 54 Abs. 4 SGG eine Leistung in Geld begehrt auf die ein Rechtsanspruch besteht.

III. Die Klage ist auch begründet. Der angefochtene Bescheid beschwert den Kläger, da er rechtswidrig ist (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG). Der Kläger hat für den streitgegenständlichen Zeitraum einen Anspruch auf Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel SGB XII.

1. Die Beklagte ist als örtlicher Träger der Sozialhilfe gemäß § 97 Abs. 1 i. V. m. § 1 Ausführungsgesetz zum SGB XII des Landes Nordrhein Westfalen (AG-SGB XII NRW) für die begehrten Leistungen zuständig.

2. Für den Zeitraum zwischen dem 16.03.2016 und dem 28.12.2016 ergibt sich ein Anspruch des Klägers aus § 23 Abs. 1 Satz 1 und 3 (in der am 28.12.2016 geltenden Fassung) i. V. m. §§ 19 Abs. 1, 27 ff. SGB XII. Nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII ist Ausländern, die sich im Inland tatsächlich aufhalten, Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII zu leisten. Gemäß § 19 Abs. 1 SGB XII ist Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel Personen zu leisten, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus ihrem Einkommen und Vermögen, bestreiten können.

a. Die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII sind für den Kläger in dem genannten Zeitraum anzunehmen. Insbesondere war der Kläger in dieser Zeit hilfebedürftig. Entsprechend der Erklärung seines Bruders und Betreuers verfügte der Kläger weder über zu berücksichtigendes Einkommen i. S. d. § 82 SGB XII noch über einzusetzendes Vermögen i. S. d. § 90 Abs. 1 SGB XII. Dies ist im Hinblick auf den schlechten Gesundheitszustand des Klägers, insbesondere auf die regelmäßigen wochenlangen stationären Klinikaufenthalte glaubhaft. Auch die zwischenzeitlich aufgelaufenen Miet- und Beitragsschulden des Klägers sprechen für seine Mittellosigkeit. Glaubhaft ist auch der Vortrag des Klägers, er werde seit Juni 2016 - nach der Einstellung der vorläufigen Leistungen durch die Beklagten - darlehensweise von seinem Bruder und Betreuer unterstützt. Hierzu hat der Kläger nachvollziehbare Unterlagen, z.B. betreffend durch den Betreuer gezahlte Mietzahlungen, Stromrechnungen und Apothekenrechnungen eingereicht (vgl. Bl. 188 ff. der Gerichtsakte).

b. Der Kläger ist in dem Zeitraum zwischen dem 16.03.2016 und dem 28.12.2016 nicht nach § 23 Abs. 2 SGB XII (in der am 28.12.2016 geltenden Fassung) vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Danach erhalten Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylblG) keine Leistungen der Sozialhilfe. Der Kläger war in dieser Zeit nicht leistungsberechtigt nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetz, insbesondere besaß der keine der in Nr. 3 b) und c) genannten Aufenthaltserlaubnisse, keine in Nr. 4 genannte Duldung nach § 60a AufenthG und war in dieser Zeit nicht vollziehbar ausreisepflichtig i. S. d. Nr. 5 (vgl. hierzu jeweils noch unten).

c. Der Kläger ist für den Zeitraum zwischen dem 16.03.2016 und dem 28.12.2016 gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII (in der am 28.12.2016 geltenden Fassung) vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Danach haben Ausländer, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen, oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, sowie ihre Familienangehörigen keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Dem Leistungsausschluss unterfallen sowohl Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt als auch solche ohne materielles Aufenthaltsrecht. Der Kläger verfügte in der Zeit zwischen dem 16.03.2016 und dem 28.12.2016 über kein materielles Aufenthaltsrecht. Bei seiner Einreise nach Deutschland mit seiner bulgarischen Ehefrau im Dezember 2014 hatte der Kläger als Familienangehöriger eines Unionsbürgers, der über ausreichend Krankenversicherungsschutz und ausreichend Existenzmittel verfügte, ein Aufenthaltsrecht gem. § 2 Abs. 1, 2 Nr. 6 i. V. m. §§ 3, 4 Freizügigkeitsgesetz/EU (FeizügG/EU). Dementsprechend erhielt er am 20.01.2015 eine Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 1 FreizügG/EU, die bis zum 19.01.2019 gültig war. Spätestens ab Januar 2016 erfüllte der Kläger die freizügigkeitsrechtlichen Voraussetzungen jedoch nicht mehr und war danach nicht mehr aufenthaltsberechtigt. Nachdem dem Kläger im September 2015 durch den Arbeitgeber gekündigt wurde, bezog der Kläger ab Januar 2016 Leistungen nach dem SGB II. Seitdem verfügte er weder über ausreichend Krankenversicherungsschutz noch über ausreichende Existenzmittel im Sinne des § 4 FreizügG/EU. Die Aufenthaltskarte ist rein deklaratorischer Natur. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes kann allein auf Grundlage einer rechtsgültig ausgestellten Aufenthaltskarte (also unbeschadet dessen, dass ihr Inhaber die freizügigkeitsrechtlichen Voraussetzungen nicht mehr erfüllt) kein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht mit der Argumentation beansprucht werden, dass eine Feststellungswirkung der Aufenthaltskarte so lange gelte, bis die Karte noch gültig und nicht widerrufen ist (vgl. EuGH, Urteil vom 12.03.2014 - verb. Rs. C-456/12 und C-457/12 mit Verweis auf EuGH, Urteil vom 21.07.2011 - C-325/09; Geyer in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 5 FreizügG/EU, Rn. 3).

Der Kläger konnte für den Zeitraum zwischen dem 16.03.2016 und dem 28.12.2016 auch kein Aufenthaltsrecht von seinem (zunächst noch) in Deutschland lebenden Sohn ableiten. Der Betreuer des Klägers hat in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass es nach der Trennung des Klägers und seiner damaligen Ehefrau im März 2016 keinen Kontakt zwischen dem Kläger, seinem Sohn und der getrennt lebenden Ehefrau gegeben habe.

Der Kläger verfügte in dem Zeitraum zwischen dem 16.03.2016 und dem 28.12.2016 auch nicht über ein Aufenthaltsrecht aus humanitären Gründen gemäß § 25 Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Der Kläger erhielt am 03.09.2019 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 (AufenthG) als vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer. In der Zeit zwischen dem 16.03.2016 und dem 28.12.2016 war der Kläger jedoch noch nicht ausreisepflichtig und erfüllte daher noch nicht die materiellen Voraussetzungen dieses Aufenthaltsrechts. Nach § 7 FreizügG/EU sind Unionsbürger und ihre Familienangehörigen ausreisepflichtig, wenn die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass das Reich auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht. Das Freizügigkeitsrecht wurde dem Kläger (erst) am 29.03.2019 entzogen. Der Kläger hatte in der Zeit zwischen dem 16.03.2016 und dem 28.12.2016 auch kein Aufenthaltsrecht gemäß § 25 Abs. 4 AufenthG inne. Danach kann einem nicht vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer für einen vorübergehenden Aufenthalt eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, solange dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern. Unabhängig davon, dass der Kläger sich nicht nur zu einem vorübergehenden Aufenthalt in Deutschland aufhielt, setzt diese Vorschrift einen rechtmäßigen Aufenthalt voraus. Dies hat der Gesetzgeber im Rahmen des Richlienienumsetzungsgesetzes I mit Einfügung der Worte "nicht vollziehbar Ausreisepflichtigen" zum 28.08.2007 klargestellt (vgl. Huber in AufenthG/Göbel-Zimmermann, 2. Aufl. 2016, AufenthG § 25 Rn. 30). Der Kläger hielt sich in dieser Zeit jedoch nicht rechtmäßig im Bundesgebiet auf (s.o.).

d. Dem Kläger steht für die Zeit zwischen dem 16.03.2016 und dem 28.12.2016 jedoch ein Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt als Ermessensleistung nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII zu (vgl. BSG, Urteil vom 03.12.2015 - B 4 AS 44/15 R; a. A. u.a. LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 11.02.2016 - L 3 AS 668/15 B ER). Das Ermessen der Beklagten ist auf Null reduziert. Im Hinblick auf die Dauer des Aufenthaltes des Klägers in Deutschland von mehr als einem Jahr und die gut siebenmonatige Beschäftigung, hatte der Kläger einen bereits verfestigten Aufenthalt (vgl. ebenda).

e. Der Anspruch des Klägers auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII besteht auch schon für die Zeit ab dem 16.03.2016, also zeitlich vor der Antragstellung des Klägers bei der Beklagten am 04.05.2016. Die fehlende Kenntnis der Beklagten von der Hilfebedürftigkeit des Klägers steht dem Anspruch nicht gemäß § 18 Abs. 1 SGB XII entgegen. Die Beklagte muss sich insoweit die Kenntnis des Beigeladenen zurechnen lassen (vgl. BSG Beschluss vom 13.02.2014 - B 8 SO 58/13 B, Urteil vom 03.12.2015 - B 4 AS 44/15 R).

3. Für den Zeitraum zwischen dem 29.12.2016 und dem 29.01.2019 ergibt sich der Anspruch des Klägers aus § 23 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 6 SGB XII (in der ab dem 29.12.2016 geltenden Fassung) i. V. m. §§ 19 Abs. 1, 27 ff. SGB XII.

Der Sachverhalt hat sich in diesem Zeitraum (29.12.2016 und dem 29.01.2019) gegenüber dem vorgenannten Zeitraum (16.03.2016 und dem 28.12.2016) nicht verändert. Der Kläger erfüllte auch in diesen Zeitraum die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII. Insbesondere war der Kläger in dieser Zeit hilfebedürftig (s.o.). Der Kläger war nicht nach § 23 Abs. 2, jedoch nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII (in der ab dem 29.12.2016 geltenden Fassung) grundsätzlich vom Leistungsbezug ausgeschlossen (s.o.). Nach Einführung des § 23 Abs. 3 Satz 7 SGB XII zum 29.12.2016 kann der Kläger einen Anspruch nicht (mehr) auf § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII stützen. Der Kläger hielt sich im streitgegenständlichen Zeitraum auch nicht fünf Jahre ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet auf.

Nach § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII werden, soweit dies im Einzelfall besondere Umstände erfordern, Leistungsberechtigten nach Satz 3 zur Überwindung einer besonderen Härte andere Leistungen im Sinne von Absatz 1 gewährt; ebenso sind Leistungen über einen Zeitraum von einem Monat hinaus zu erbringen, soweit dies im Einzelfall auf Grund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage geboten ist. "Andere Leistungen im Sinne von Absatz 1" sind nach dem Wortlaut des § 23 Abs. 1 SGB XII auch Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt.

a. Im Falle des Klägers liegen auch besondere Umstände vor, die eine Gewährung der Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage erforderlich machen. Diese Umstände ergeben sich daraus, dass zum einen das menschenwürdige Existenzminimum des Klägers nicht gesichert und zum anderen ein Verweis auf zumutbare Selbsthilfemöglichkeiten, insbesondere auf eine Ausreise nicht möglich war. Die Vorschrift des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII ist auch unter Berücksichtigung der restriktiven Ausgestaltung (besondere Härte, monatsübergreifend nur bei besonderen Einzelfallumständen und zeitlich befristete Bedarfslage) in diesem Sinne verfassungsgemäß auszulegen (so auch LSG NRW, Beschluss vom 30.05.2019 - L 20 AY 15/19 B ER). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 1 GG ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Dieses Grundrecht gilt für Deutsche und für sich in Deutschland aufhaltenden Ausländer gleichermaßen. Zur Wahrung des Grundrechts ist ein gesetzlicher Leistungsanspruch einzuräumen. Dabei besitzt der Gesetzgeber sowohl bei der Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse als auch bei der wertenden Einschätzung notwendiger Bedarfe einen Gestaltungsspielraum, hat aber die Leistungen am jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen im Hinblick auf konkrete Bedarfe auszurichten. Maßgebend sind die Verhältnisse in Deutschland, nicht diejenigen im Herkunftsland (vgl. Urteil des BVerfG vom 18.07.2012 - 1 BvL 10/10 und 2/11).

Das menschenwürdige Existenzminimum des Klägers war nicht gesichert (s.o.). Dem Kläger standen keine zumutbaren Selbsthilfemöglichkeiten zur Verfügung. Im Hinblick darauf, dass der Kläger weder über Einkommen, noch Vermögen verfügte, käme insofern lediglich eine Ausreise (in sein Herkunftsland) in Betracht. Nach Überzeugung der Kammer war dem Kläger eine Ausreise aus Deutschland im streitgegenständlichen Zeitraum jedoch nicht ohne Gefährdung für Leib und Leben möglich. Zu diesem Ergebnis kommt die Kammer insbesondere unter Berücksichtigung der Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen in seinem Gutachten vom 04.01.2018. Hier führt der Sachverständige aus, dass dem Kläger eine Ausreise auch bei Fortführung der in Deutschland begonnenen Therapie und Sicherstellung der Medikation aufgrund seines Gesundheitszustandes nicht möglich war. Im Rahmen der seit Anfang 2016 manifestierten, paranoid-halluzinatorischen Psychose sei die Fähigkeit des Klägers, komplexe Handlungen zu initiieren und durchzuführen sowie sein Urteils- und Kritikvermögen erheblich eingeschränkt. Der Kläger sei nicht in der Lade seine persönlichen Angelegenheiten zu besorgen, insbesondere auch im Hinblick auf die Gesundheitsfürsorge. Zudem bestünden krankheitsbedingt erhebliche eigengefährdende und fremdgefährdende Verhaltenstendenzen, die eine intermittierende Akutaufnahme in einer psychiatrischen Fachklinik immer wieder erforderlich machten. Auch das Gesundheitsamt der Beklagten hat nach eigener Prüfung und Untersuchung des Klägers festgestellt, dass der Kläger aufgrund seiner Erkrankung weder in der Lage ist, in sein Heimatland zu fliegen, noch dieses auf dem Landwege zu erreichen und dass eine Verbesserung der Erkrankung nicht zu erwarten ist.

Auf eine Selbsthilfe durch weiter fortlaufende regelmäßige Unterstützung seitens des Bruders und Betreuers ist der Kläger nicht zu verweisen. Der Kläger hat auf diese Leistungen keinen Anspruch. Der Verweis auf freiwillige und damit ungesicherte Unterstützung ist kein hinreichendes Äquivalent zu der verfassungsrechtlich gebotenen gesetzlichen Gewährleistung (vgl. LSG NRW, Beschluss vom 30.05.2019 - L 20 AY 15/19 B ER).

b. Das Erfordernis "zeitlich befristete Bedarfslage" ist in der gebotenen verfassungskonformen Auslegung nicht als "kurzzeitig" zu verstehen (vgl. LSG NRW, Beschluss vom 28.03.2018 - L 7 AS 115/18 B ER; ähnlich LSG NRW, Beschluss vom 30.05.2019 - L 20 AY 15/19 B ER). Vielmehr ist eine zeitliche befristete Bedarfslage bereits dann anzunehmen, wenn Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass der bedarfsbegründende Zustand kein Dauerzustand, sondern voraussichtlich vorübergehend ist. Im Fall des Klägers folgte die zeitliche Befristung daraus, dass dem Kläger nach Entziehung des Freizügigkeitsrechts am 29.03.2019 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen war und am 03.09.2019 auch erteilt wurde (s.o.). Nach Erteilung des Aufenthaltstitels bedarf der Kläger nicht weiter einer Leistungsgewährung nach § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII.

c. Schließlich setzt eine Leistungsgewährung nach § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII auch keinen Ausreisewillen des Hilfebedürftigen voraus (vgl. LSG NRW, Beschluss vom 30.05.2019 - L 20 AY 15/19 B ER; Beschluss vom 28.03.2018 - L 7 AS 115/18 B ER). Zwar knüpft die Vorschrift an die Regelung der Überbrückungsleistungen in § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII an und soll ausdrücklich eine Anspruchsgrundlage darstellen, "die lediglich bei Vorliegen besonderer Umstände eingreift, um im Einzelfall für einen begrenzten Zeitraum unzumutbare Härten zu vermeiden" (BT-Drucks. 18/10211 S. 16). Es lässt sich aber nicht feststellen, dass der Gesetzgeber Ausländer gerade dann leistungslos lassen wollte, wenn die Verweisung (nur) auf Überbrückungsleistungen sich auch für einen längeren Zeitraum als unzumutbare Härte darstellt, mithin die den Leistungsausschluss begründende Rückkehroption sich gerade nicht ohne Weiteres verwirklichen lässt (s.o., vgl. auch LSG NRW, Beschluss vom 28.03.2018 - L 7 AS 115/18 B ER m. w. N.).

IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens.
Rechtskraft
Aus
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