L 16 R 670/19

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 30 R 3366/18
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 16 R 670/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 13 R 65/20 B
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 28. August 2018 wird zurückgewiesen. Der Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Beklagte als Träger der Versorgungslast an die Klägerin als Träger der Rentenversicherung Aufwendungen aufgrund von Rentenzahlungen zu erstatten hat, die durch Entscheidung des Familiengerichts begründet worden sind.

Im Rahmen eines Ehescheidungsverfahrens übertrug das Amtsgericht (AG) S zu Gunsten der V S (Versicherte) im Wege des Versorgungsausgleichs aus der bei dem Beklagten bestehenden unverfallbaren Anwartschaft ihres Ehemannes R L W rechtskräftig Rentenanwartschaften iHv 1.393,15 DM bezogen auf den 31. August 1999. Die Versicherte bezieht hieraus seit 1. Januar 2001 Rentenleistungen der Klägerin.

Mit Schreiben vom 4. Januar 2017 machte die Klägerin beim Beklagten die Erstattung von Aufwendungen für die Versicherte aus den übertragenen Anwartschaften für die Zeit vom 1. Januar 2004 bis 31. Dezember 2015 in einer Gesamthöhe von 120.736,07 EUR geltend; wegen der Einzelheiten wird auf die Anforderung Bezug genommen. Dieser lehnte die Zahlung für die Zeit vom 1. Januar 2004 bis 31. Dezember 2012 (89.016,34 EUR) ab und berief sich auf Verjährung.

Das Sozialgericht (SG) Berlin hat in der Folge der – auf § 225 Abs. 1 Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) gestützten Klage stattgegeben und den Beklagten zur Zahlung von 89.016,34 EUR verurteilt (Urteil vom 28. August 2019). Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klage sei begründet. Der Zahlungsanspruch der Klägerin folge aus § 225 Abs. 1 SGB VI und sei nach § 2 Abs. 4 der Versorgungsausgleichs-Erstattungsverordnung (VAErstV) vom 9. Oktober 2001 (BGBl I 2628) auch nicht verjährt. Nach § 2 Abs. 4 VAErstV verjähre der Erstattungsanspruch des Trägers der Rentenversicherung in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in der er fällig geworden sei. Fälligkeit trete nach § 2 Abs. 3 VAErstV aber erst sechs Monate nach Eingang der Erstattungsforderung beim zuständigen Träger der Versorgungslast ein, hier also im Jahr 2017. Dass die Klägerin entgegen der Soll-Vorschrift in § 2 Abs. 1 VAErstV den Anspruch erst nach der dort geregelten Frist geltend gemacht habe, sei unschädlich. Es liege entgegen der Auffassung des Beklagten insoweit angesichts des klaren Gesetzeswortlauts auch keine planwidrige Regelungslücke vor, die durch analoge Anwendung von § 113 Abs. 1 Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) zu schließen wäre. Die Voraussetzungen einer Verwirkung lägen ebenfalls nicht vor.

Mit der Berufung wendet sich der Beklagte gegen dieses Urteil. Er trägt vor: Entgegen der Auffassung des SG sei von einer planwidrigen Regelungslücke auszugehen, weil der Verordnungsgeber ausweislich der Begründung (vgl BR-Drucks 646/01 S 8) in § 2 Abs. 4 VAErstV die Verjährungsregelung in § 113 SGB X in der bis 31. Dezember 2000 geltenden Fassung (aF) habe nachbilden wollen. Es widerspräche im Übrigen den Regelungen zur Verfahrensbeschleunigung in § 2 VAErstV, wenn der erstattungsberechtigte Träger den Verjährungsbeginn durch eine spätere Geltendmachung praktisch unbegrenzt hinausschieben könne. § 2 Abs. 4 VAErstV sei schließlich durch die Ermächtigungsgrundlage in § 226 SGB VI nicht gedeckt, weil dadurch ein eigenständiges Verjährungsregime eingeführt worden sei. Für die Lückenfüllung sei § 111 Satz 1 SGB X analog heranzuziehen, der auf den Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs abstelle.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 28. August 2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, aber nicht begründet. Das SG hat den Beklagten zu Recht zur Zahlung von 89.016,34 EUR an die Klägerin verurteilt.

Die allgemeine Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG ist zulässig. Das Verfahren betrifft eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit, die nach den Vorschriften des SGG zu beurteilen ist (§ 51 Abs. 1 SGG); denn streitig ist der rentenrechtliche Vollzug der familiengerichtlichen Entscheidung über den Versorgungsausgleich (vgl hierzu entsprechend: BSG, Urteil vom 20. September 1988, BSGE 64, 75, 76 = SozR 5795 § 4 Nr 6; BSG, Urteil vom 14. März 2006 – B 4 RA 8/05 R = SozR 4-2600 § 225 Nr 2 – Rn 12). Der mit der Klage geltend gemachte Anspruch ist ein "Rechtsanspruch", über den kein Verwaltungsakt ergehen muss.

Die Leistungsklage ist auch begründet. Die Klägerin kann ihren (öffentlich-rechtlichen) Erstattungsanspruch auf Zahlung eines Aufwendungsersatzes, der ihr nach § 225 Abs. 1 SGB VI zusteht, durchsetzen, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen der genannten Vorschrift – worüber die Beteiligten auch nicht streiten – erfüllt sind und der Beklagte die Einrede der Verjährung nicht wirksam erheben kann. Die Forderungen der Klägerin sind auch nicht verwirkt.

§ 225 Abs. 1 Satz 1 SGB VI trifft folgende Regelung: Die Aufwendungen des Trägers der Rentenversicherung aufgrund von Rentenanwartschaften, die durch Entscheidung des Familiengerichts begründet worden sind, werden von dem zuständigen Träger der Versorgungslast erstattet. Die Klägerin hat aufgrund rechtskräftig begründeter Rentenanwartschaften Rentenleistungen im streitbefangenen Zeitraum an die – ausgleichsberechtigte - Versicherte, deren geschiedener Ehemann entsprechende Versorgungsanwartschaften bei dem Beklagten erworben hatte, erbracht. Die entsprechenden Aufwendungen, die die Klägerin für den in Rede stehenden Zeitraum fehlerfrei beziffert hat, sind vom Beklagten zu erstatten. Die erhobene Verjährungseinrede greift insoweit nicht durch. Denn der von der Klägerin geltend gemachte Aufwendungsersatzanspruch ist nicht verjährt.

Für Erstattungsfälle des § 225 SGB VI hat erstmals die VAErstV vom 9. Oktober 2001 (BGBl I 2628) eine ausdrückliche Verjährungsregelung geschaffen. Nach § 2 Abs. 4 Satz 1 VAErstV verjährt der Erstattungsanspruch des Trägers der Rentenversicherung in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in der er fällig geworden ist. Diese Verordnung findet gemäß § 3 VAErstV erstmals auf die Erstattung der im Jahr 2001 entstehenden Aufwendungen Anwendung. Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 VAErstV fallen in ihren sachlichen Geltungsbereich nur Erstattungsansprüche aus – wie hier - § 225 Abs. 1 Satz 1 SGB VI (und § 290 Satz 1 SGB VI). Da der Anspruch der Klägerin erst mit Eingang der Erstattungsforderung bei dem Beklagten im Januar 2017 fällig geworden ist (vgl § 2 Abs. 3 VAErstV) ist, kann somit Verjährung auch für die Forderung den Zeitraum vom 1. Januar 2004 bis 31. Dezember 2012 betreffend erst mit Ablauf des Jahres 2021 eintreten.

Die Regelungen in § 2 VAErstV sind durch die Ermächtigungsgrundlage in § 226 SGB VI gedeckt. Sie dienen der "Durchführung" der Erstattung von Aufwendungen durch den Träger der Versorgungslast und erfassen damit auch die hier anzuwendenden Regelungen (vgl auch BSG aaO Rn 18 ff). Sie regeln entgegen der Auffassung des Beklagten kein eigenständiges, von der regelmäßigen vierjährigen Verjährung von Ansprüchen aus dem Sozialgesetzbuch abweichendes "Verjährungsregime", das möglicherweise ein formelles Parlamentsgesetz erfordert hätte, sondern lehnen sich an dieses – worauf der Beklagte unter Bezugnahme auf die Verordnungsbegründung (BT-Drucks 646/01) auch zutreffend hinweist – gerade an. Auch § 113 SGB X in der seit 1. Januar 2001 geltenden Fassung, auf den die Begründung des Verordnungsgebers nur Bezug nehmen konnte, legt die vom Beklagten vorgenommene Auslegung indes nicht nahe. Denn dort wird im Unterschied zu der bis 31. Dezember 2000 geltenden Regelung des § 113 SGB X aF für den Beginn der Ver-jährungsfrist gerade nicht (mehr) an die Entstehung des Anspruchs angeknüpft.

Es besteht insoweit auch kein Raum für eine – wie der Beklagte anregt - analoge Anwendung von § 111 Satz 1 SGB X schon deshalb, weil eine planwidrige Regelungslücke nicht vorliegt. Die Voraussetzungen für eine Rechtsfortbildung im Wege der Analogie sind mangels Vorliegens einer Gesetzeslücke nicht erfüllt. Erfasst der Tatbestand einer für eine bestimmte Rechts- und Interessenlage getroffenen Norm eine Fallgestaltung nicht unmittelbar und fehlt es auch sonst an einer besonderen Regelung, so ist - in den Grenzen des Gesetzesvorbehalts (§ 31 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil-) - durch Auslegung des Gesetzes zu ermitteln, ob eine Gesetzeslü-cke vorliegt, die durch die entsprechende Anwendung einer für vergleichbare Rechts- und Interessenlagen getroffenen Norm zu schließen ist, oder ob es - unter Umständen aufgrund eines Umkehrschlusses - bei der Anwendung der Grundregel sein Be-wenden hat (vgl BVerfG, Kammerbeschluss vom 28. September 1998 - 2 BvR 2232/94 = NStZ 1999, 24 f). Stets darf richterliche Rechtsfortbildung im Wege der Analogie nur dann einsetzen, wenn das Gericht aufgrund einer Betrachtung des einfachen Gesetzesrechts eine Gesetzeslücke feststellt. Hat das Gesetz indes – wie vorliegend aus dem Wortlaut des § 2 VAErstV erhellt - eine "eindeutige Entscheidung" getroffen, darf der Richter diese nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und durch eine judikative Lösung ersetzen (BVerfG, Kammerbeschluss vom 9. März 1995 - 2 BvR 1437/93 = NStZ 1995, 399 ff). Auch das bloße "Schweigen des Gesetzes" rechtfertigt noch nicht die Annahme einer echten Gesetzeslücke; vielmehr muss aus den Gesamtumständen ersichtlich sein, dass das "Schweigen" vom Konzept des Gesetzes nicht getragen wird (vgl BSG, Urteil vom 6. August 1986 = BSGE 60, 176, 178, mwN = SozR 2600 § 57 Nr 3), dass also nach dem Gesetzeskonzept eine Regelung von Sachverhalten der in Frage stehenden Art notwendig gewesen wäre.

Eine solche "planwidrige" Gesetzeslücke ist hinsichtlich der Verjährung der Erstattungsansprüche aus § 225 Abs. 1 Satz 1 SGB VI nicht festzustellen. Vielmehr hat der insoweit ermächtigte Verordnungsgeber für die vorliegende Fallgestaltung eine klare und einer darüber hinausgehenden richterlichen Rechtsfortbildung nicht zugängliche Verjährungsregelung getroffen, die auch nicht deshalb unanwendbar ist, weil die Klägerin ihren Aufwendungsersatzanspruch vorliegend nicht innerhalb der Soll-Frist des § 2 Abs. 1 VAErstV angefordert hat. Die Erstattungsanforderung datiert zwar (erst) vom 4. Januar 2017. Sanktionsregelungen bei einer insoweit nicht fristgerecht ergangenen Erstattungsanforderung hat der Verordnungsgeber aber gerade nicht geregelt. Sie waren ausweislich der Begründung des Verordnungsgebers (vgl BR-Drucks 646/01 S 9) auch nur für eine verzögerte Zahlung des fälligen Erstattungsanspruches (zB im Wege von Verzugszinsen) erwogen worden. Augenscheinlich ist der Verordnungsgeber daher davon ausgegangen, dass die Träger der Rentenversicherung die Frist zur Anbringung der Erstattungsforderung im Regelfall einhalten werden (vgl zum Ganzen auch Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17. Februar 2015 – L 4 R 819/12 NZB – juris; eine planwidrige Regelungslücke ebenfalls verneinend LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 8. Dezember 2015 – L 12 R 53/13 -).

Der Anspruch der Klägerin ist aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung, auf die der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug nimmt (vgl § 153 Abs. 2 SGG) auch nicht verwirkt. Es fehlt bereits an einem Verwirkungsverhalten der Klägerin. Das bloße (zeitnahe) Unterlassen des Betreibens des Erstattungsverfahrens ist hierfür von vornherein nicht geeignet, auch wenn der Klägerin die abweichende Rechtsauffassung des Beklagten – wie aus dem Schreiben des Beklagten vom 6. Oktober 2009 zu entnehmen ist - bekannt war. Eine Zusicherung der Klägerin, keine Erstattungsanforderungen nach Ablauf des in § 2 Abs. 1 VAErstV normierten Zeitraums vorzunehmen bzw hierauf zu verzichten, ist nicht ersichtlich, zumal die Klägerin, wie der Beklagte zutreffend einräumt, eine Klärung der Rechtslage in einem anderen Verfahren anstrebte. Selbst wenn es die Klägerin rechtswidrig unterlassen hätte, die Erstattungsanforderungen entsprechend § 2 Abs. 1 VAErstV zeitnah geltend zu machen, ergäbe sich keine andere Beurteilung.

Denn in Ansehung der in der einschlägigen Rechtsprechung des BSG aufgestellten strengen Maßstäbe ist davon auszugehen, dass beide Beteiligte als Träger öffentlicher Verwaltung an das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (vgl Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz)gebunden sind. Deshalb kann sich der Schuldner in der Regel nicht auf den Fortbestand eines ggf rechtswidrigen Zustandes berufen, sondern muss ebenso wie der Gläubiger darauf achten, dass öffentliche Mittel rechtmäßig und sachgerecht verwendet werden. Ein Vertrauen auf die Beibehaltung einer als rechtswidrig erkannten Verwaltungspraxis verdient im Verhältnis zwischen Behörden regelmäßig keinen Vertrauensschutz (vgl BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 – B 13 R 67/09 R = SozR 4-4200 § 24 Nr 5 – Rn 38 mwN).

Schließlich liegt auch kein Fall der unzulässigen Rechtsausübung hinsichtlich des vom Beklagten letztlich auch geltend gemachten Vorwurfs eines treuwidrigen Verhaltens der Klägerin in Form des "venire contra factum proprium" vor. Denn ein Verhalten, das zu eigenem früherem Verhalten in Widerspruch steht (vgl BSGE 65, 272, 277 = SozR 4100 § 78 Nr 8 S 36 mwN, welches wiederum einen Vertrauenstatbestand geschaffen hat, aufgrund dessen der Beklagte berechtigterweise davon ausgehen durfte, die Klägerin würde nach Ablauf der Frist in § 2 Abs. 1 VAErstV geregelten Frist keine Erstattungsanforderungen für zurückliegende Kalenderjahre mehr verlautbaren, ist der Klägerin nicht zur Last zu legen. Auch in dieser Hinsicht fehlt es - über das "bloße Nichtstun" hinaus - an der Schaffung eines Vertrauenstatbestandes.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 SGG, da die Beteiligten nicht zu den in § 183 SGG genannten Personen gehören. Dem Beklagten waren gemäß §§ 154 Abs. 2, 162 Verwaltungsgerichtsordnung iVm § 197a Abs. 1 Halbs 3 SGG die Kosten des ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels aufzuerlegen. Der Beklagte ist als Land von der Zahlung der Gerichtskosten gemäß § 2 Abs. 1 Gerichtskostengesetz befreit.

Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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