L 18 AL 66/18

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
18
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 62 AL 2966/15
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AL 66/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 11. April 2018 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 29. Juli 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. August 2015 verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 3. August 2015 bis 31. Januar 2017 weitere Berufsausbildungsbeihilfe in Höhe von monatlich 70,- EUR zu gewähren. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im gesam-ten Verfahren. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung höherer Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) für die Zeit vom 3. August 2015 bis 31. Januar 2017.

Die 1980 geborene Klägerin absolvierte ab 1. August 2015 eine dreijährige Berufs-ausbildung zur Tourismuskauffrau in einem Reisebüro (Ausbildungsvergütung bis 31. Juli 2016 mtl 567,- EUR, danach mtl 678,- EUR). Im Streitzeitraum bewohnte sie, ohne im Haushalt der Eltern bzw eines Elternteils zu leben, eine Eigentumswohnung, für die im Rahmen der Wohnungseigentümergemeinschaft ein mtl Hausgeld für Bewirtschaftungskosten und Instandhaltungsrücklage iHv 219,- EUR zu entrichten war. Ferner tilgte die Klägerin ein privat erhaltenes zinsloses Darlehen mit Zahlungen iHv mtl 70,- EUR. Am 3. Juni 2015 beantragte sie BAB, die ihr die Beklagte für die Zeit vom 3. August 2015 bis 31. Januar 2017 iHv mtl 90,- EUR bewilligte (Bescheid vom 29. Juli 2015); als Unterkunftsbedarf setzte die Beklagte mtl 149,- EUR an. Den Widerspruch der Klägerin, mit dem diese eine vollständige Berücksichtigung des Hausgelds und der Tilgungszahlungen begehrte, wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 5. August 2015). Ein weiterer Unterkunftsbedarf bei einer Unterbringung außerhalb des elterlichen Haushalts sei nicht zu berücksichtigen.

Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die auf Zahlung von BAB in dem in Rede stehen-den Zeitraum iHv mtl insgesamt 160,- EUR gerichtete Klage abgewiesen, weil für die Kosten der Eigentumswohnung kein zusätzlicher Bedarf nach § 61 Abs. 1 Satz Sozi-algesetzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III) zu berücksichtigen sei (Urteil vom 11. April 2018).

Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie rügt eine verfassungs-rechtlich nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung zwischen Mietern und Woh-nungseigentümern.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 11. April 2018 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 29. Juli 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. August 2015 zu verurteilen, ihr für die Zeit vom 3. August 2015 bis 31. Januar 2017 weitere Berufsausbildungsbeihilfe in Höhe von monatlich 70,- EUR zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den die Klägerin betreffenden Verwaltungsvorgänge (BAB) der Beklagten ver-wiesen, die Gegenstand der Entscheidung waren.

Die Beteiligten haben sich mit einer schriftlichen Entscheidung durch den Berichter-statter gemäß §§ 124 Abs. 2, 155 Abs. 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einver-standen erklärt.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 29. Juli 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Au-gust 2015 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Der Klägerin steht im Streitzeitraum – wie von ihr beantragt – zzgl der von der Beklagten festge-setzten BAB iHv mtl 90,- EUR weitere BAB iHv mtl 70,- EUR zu.

Die Klägerin erfüllte im Streitzeitraum die allgemeinen Voraussetzungen für die Ge-währung von BAB nach § 56 SGB III (in der hier anwendbaren, seit 1. April 2012 gel-tenden Fassung des Gesetzes zur Förderung der Eingliederungschancen am Ar-beitsmarkt vom 20. Dezember 2011 - BGBl I 2854 -). Die berufliche Ausbildung war förderungsfähig iS des § 57 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 SGB II. Die Klägerin gehört als Deutsche auch zum förderungsfähigen Personenkreis (§ 59 Abs. 1 SGB III iVm § 8 Abs. 1 Nr 1 Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG)). Schließlich erfüllte die Klägerin die sonstigen persönlichen Voraussetzungen des § 60 SGB III; sie war über 18 Jahre alt und wohnte außerhalb des Haushalts ihrer Eltern (§ 60 Abs. 1 Satz 1 Nr 1 iVm Abs. 2 Nr 1 SGB III).

Die Beklagte hat den Bedarf für den Lebensunterhalt in dem in Rede stehenden Zeit-raum mit 565,- EUR mtl zu niedrig festgesetzt; dieser beläuft sich für die Zeit vom 3. August 2015 bis 31. Juli 2016 auf mtl 635,- EUR und für die Zeit vom 1. August 2016 bis 31. Januar 2017 (vgl die Erhöhung der Bedarfssätze durch das Gesetz vom 23. De-zember 2014 (BGBl I 2475)) auf mtl 660,- EUR. Der Betrag errechnet sich aus dem Bedarf nach § 61 Abs. 1 Satz 1 SGB III aF iVm § 13 Abs. 1 Nr. 1 BAföG (= mtl 348,- EUR; ab 1. August 2016 mtl 372,- EUR) zzgl des Unterbringungsbedarfs gemäß § 61 Abs. 1 Satz 2 SGB III iHv mtl 149,- EUR bzw – ab 1. August 2016 – mtl 166,- EUR (= mtl insge-samt 497,- EUR bzw – ab 1. August 2016 - mtl 538,- EUR) und eines Zusatzbedarfs nach § 61 Abs. 1 Satz 3 SGB III iHv mtl 70,- EUR für die Zeit vom 3. August 2015 bis 31. Juli 2016 bzw iHv mtl 53,- EUR für die Zeit ab 1. August 2016 (mtl Hausgeld = 219,- EUR; vgl Berichtigung durch die Klägerin im Widerspruchsschreiben vom 2. August 2015). Hinzu kommen die Pauschale für Arbeitskleidung iSv § 64 Abs. 1 SGB III iHv 12,- EUR mtl bzw – ab 1. August 2016 – iHv 13,- EUR mtl und Fahrkosten iHv mtl 56,- EUR.

Entgegen der Auffassung der Beklagten umfasst § 61 Abs. 1 Satz 3 SGB III in den hier anwendbaren, seit 1. April 2012 bis 31. Juli 2016 bzw vom 1. August 2016 bis 31. Juli 2019 geltenden Fassungen nicht nur "Mietkosten", sondern auch "Nebenkos-ten". Zwar hieß es im Gesetzesentwurf der Bundesregierung zu einer Änderung des BAföG (BT-Drucks 14/4731, S 33), dass durch die in dem seinerzeit eingefügten § 13 Abs. 3 BAföG gewählte Formulierung "Mietkosten für Unterkunft und Nebenkosten", die sich identisch auch in § 65 Abs. 1 Satz 3 SGB III in der bis 31. März 2012 geltende Fassung fand, mit einer ausdrücklichen Beschränkung auf "Miet"- und Nebenkosten die bisherige Rechtsprechung bestätigt werden soll, die Aufwendungen für Eigentumswohnungen nicht anerkannte. Diese gesetzgeberische Intention hat indes im Wortlaut des Gesetzes keinen hinreichenden Ausdruck gefunden. Eine entsprechende Differenzierung hat der Gesetzgeber mWv 1. August 2019 auch durch den pauschalen Verweis auf § 13 Abs. 2 Nr. 2 BAföG nunmehr gänzlich aufgegeben.

Zu den Aufgaben der Rechtsprechung gehört die Rechtsfortbildung. Dies belässt dem Gesetzgeber die Möglichkeit, in unerwünschte Rechtsentwicklungen korrigie-rend einzugreifen und so im Wechselspiel von Rechtsprechung und Rechtsetzung demokratische Verantwortung wahrzunehmen (vgl BVerfGE 132, 99 (127 Rn 74)). Richterliche Rechtsfortbildung darf hingegen nicht dazu führen, dass die Gerichte ihre eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetz-gebers setzen (vgl BVerfGE 82, 6 (12 f.); 128, 193 (210); 132, 99 (127 Rn. 75)). Die Gerichte dürfen sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen, sondern müssen die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren. Eine Interpretation, die sich über den klar erkennbaren Willen des Ge-setzgebers hinwegsetzt, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legi-timierten Gesetzgebers ein (vgl BVerfGE 118, 212 (243); 128, 193 (210); 132, 99 (127 f. Rn 75); 134, 204 (238 Rn 115)).

Gesetzesmaterialien sind mit Vorsicht, nur unterstützend und insgesamt nur insofern heranzuziehen, als sie auf einen objektiven Gesetzesinhalt schließen lassen und im Gesetzeswortlaut einen Niederschlag gefunden haben (stRspr, vgl zB BVerfGE 62, 1, 45 mwN; BVerfGE 119, 96, 179 – Rn 219 mwN; vgl auch BVerfG, Beschluss vom 26. November 2018 - 1 BvR 318/17, 1 BvR 1474/17, 1 BvR 2207/17 – juris – Rn 48). Der Entstehungsgeschichte kommt zwar zur Erfassung des objektiven Willens des Gesetzgebers erhebliches Gewicht zu (vgl BVerfGE 54, 277, 285 ff). Es genügt aber nicht, dass sich die Voraussetzungen oder Rechtsfolgen allein der Gesetzesbegrün-dung entnehmen lassen. Der sogenannte Wille des Gesetzgebers oder der am Ge-setzgebungsverfahren Beteiligten kann bei der Interpretation nur insoweit berücksichtigt werden, als er auch im Text Niederschlag gefunden hat (vgl BVerfGE 62, 1, 45). Die Beachtung des klar erkennbaren Willens des Gesetzgebers ist Ausdruck des Grundsatzes der Gewaltenteilung (Art 20 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz (GG)).Die Gesetzesmaterialien dürfen indes nicht dazu verleiten, bei einem nicht klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers die subjektiven Vorstellungen der gesetzgebenden Instanzen dem objektiven Gesetzesinhalt gleichzusetzen (vgl BVerfG aaO). Erkenntnisse zum Willen des Gesetzgebers können sich nicht gegenüber widerstreitenden gewichtigen Befunden durchsetzen, die aus der Anwendung der anderen Auslegungskriterien gewonnen werden (stRspr des BVerfG und aller obersten Gerichtshöfe des Bundes, vgl zB BVerfGE 62, 1, 45; BVerfGE 119, 96, 179; BSG SozR 4-2500 § 62 Nr 8 Rn 20 f; BSG SozR 4-2500 § 175 Nr 2 - Rn 25; BVerfG, Beschluss vom 11. November 2004 - 1 BvR 2150/04 – juris; BVerfG, Beschluss vom 6. Juni 2018 - 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – juris – Rn 73 ff mwN; BFHE 164, 516 mwN; BGHZ 197, 21 - Rn 36 f und BGHZ 210, 77 - Rn 69, jeweils mwN; BVerwGE 146, 89 – Rn 16 mwN).

Ausgehend hiervon ist nicht klar erkennbar, dass § 61 Abs. 1 Satz 3 SGB III in den hier anwendbaren Fassungen ausschließlich Aufwendungen für eine Mietwohnung erfasst, sondern bedarf der Interpretation des Rechtsanwenders. Es sind aus Wort-laut und Systematik der Vorschrift keine zwingenden Gründe dafür ersichtlich, dass mit den dort bezeichneten "Nebenkosten" nur Mietnebenkosten erfasst wären (die im Übrigen schon von den "Mietkosten" umfasst sind und daher keiner besonderen Er-wähnung bedurft hätten). Die früher gleichlautende Regelung in § 13 Abs. 3 BAföG ist mWv 28. Oktober 2010 weggefallen und durch eine pauschale Regelung für Be-darfe "für die Unterkunft" bei nicht bei den Eltern wohnenden Auszubildenden iHv (zunächst) mtl 224,- EUR in § 13 Abs. 2 Nr. 2 BAföG ersetzt worden. Die seit 1. August 2019 geltende Neufassung von § 61 SGB III nimmt auf diese Vorschrift ohne weitere Differenzierung Bezug. Die Unterscheidung zwischen Kosten einer Mietwohnung und denen einer Eigentumswohnung und die insoweit zur früheren Rechtslage im BAföG ergangene Rechtsprechung findet damit im BAföG bereits seit 28. Oktober 2010 – und nunmehr durch die Verweisung auf das BAföG seit 1. August 2019 – auch im SGB III keine Stütze mehr. Die Änderung des SGB III ist daher insoweit auch als Klarstellung für abgelaufene Leistungszeiträume zu verstehen. Bei dem offenen Wortlaut des § 61 Abs. 1 Satz 3 SGB II in den hier anwendbaren Fassungen spre-chen daher jedenfalls für den hier streitigen Zeitraum Gründe der Gleichbehandlung (vgl Art 3 GG) dafür, dass auch Nebenkosten einer Eigentumswohnung, die mit de-ren Nutzung unmittelbar verbunden sind, als bedarfserhöhend anzusehen sind, so-weit sie nicht – wie etwa Tilgungszahlungen - dem Vermögensaufbau dienen (vgl schon gleichlautend SG Mainz, Urteil vom 9. April 2013 – S 4 AL 194/11 – juris). Ent-sprechend sind auch im Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) für Wohneigentum alle notwendigen Ausgaben, die bei der Berechnung der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung abzusetzen sind, zu den Unterkunftskos-ten zu zählen (vgl BSG, Urteil vom 15. April 2008 – B 14/7b AS 34/06 R = SozR 4-4200 § 12 Nr 10 – Rn 38), nicht indes grundsätzlich Tilgungsraten zur Finanzierung selbst genutzten Wohneigentums (vgl BSG, Urteil vom 4. Juni 2014 – B 14 AS 42/13 R = SozR 4-4200 § 22 Nr 78 – Rn 17 mwN aus der Rspr). Aufgrund der Bedarfsbe-zogenheit der hier in Rede stehenden BAB kann insoweit nichts Anderes gelten. Denn auch die BAB soll nicht der Vermögensbildung dienen. Berücksichtigungsfähig sind aber auch Zahlungen für die Instandsetzung oder Instandhaltung, soweit sie nicht zu einer Verbesserung des Standards der Immobilie führen. Da die Klägerin der Eigentümergemeinschaft gegenüber zur Zahlung des Hausgelds, mit dem Lasten und Kosten iSv § 16 Abs. 2 Wohnungseigentumsgesetz auf die Wohnungseigentü-mer umgelegt werden, verpflichtet ist, zählt dieses zu den "Nebenkosten" der Eigen-tumswohnung. Dass die Klägerin durch die Zuerkennung der weiteren Pauschale – wie die Beklagte meint – "doppelt" privilegiert würde, ist damit nicht erkennbar.

Auf den dargestellten Gesamtbedarf iHv mtl 635,- EUR bzw 660,- EUR war gemäß § 67 SGB III in dem streitigen Zeitraum ein monatliches eigenes Einkommen der Klägerin iHv 475,35 EUR anzurechnen. Dieser Betrag ergibt sich aus der gewährten Ausbil-dungsvergütung in dem in Rede stehenden Zeitraum, die sich auf insgesamt 10.872,- EUR belief, abzgl Sozialpauschale iHv 21,3 vH (§ 21 Abs. 2 Nr 1 BAföG; 2.315,74 EUR). Es errechnet sich somit für den maßgebenden Bewilligungszeitraum (vgl § 69 Abs. 1 SGB III) eine BAB von – gerundet (§ 71 Satz 1 SGB III) – mtl 160,- EUR bzw – ab 1. August 2016 – mtl 185,- EUR. Da die Klägerin ausdrücklich eine um 70,- EUR erhöhte BAB geltend macht, war die Beklagte auch insoweit zur weiteren Zahlung von (nur) 70,- EUR zu verurteilen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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