L 13 SB 187/17

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Frankfurt (Oder) (BRB)
Aktenzeichen
S 5 SB 64/15
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 187/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 3. August 2017 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Zuerkennung des Merkzeichens aG (außergewöhnli-che Gehbehinderung).

Die 1966 geborene Klägerin leidet an einer Rückenmarkschädigung mit Teillähmung, zeitweise einschießender Spastik beider Beine und sensibler inkompletter Quer-schnittssymptomatik. Bei ihr wurden 2011 ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen G und B festgestellt.

Ihren Antrag vom 24. Februar 2014 auf Feststellung eines höheren GdB und Zuerkennung des Merkzeichens aG lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 3. Juni 2014 ab. Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch, den der Beklagte auf der Grundlage des Gutachtens der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. K vom 7. Februar 2015 mit Widerspruchsbescheid vom 6. März 2015 zurückwies.

Mit der bei dem Sozialgericht Frankfurt (Oder) erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt. Das Sozialgericht hat neben Befundberichten das Gutachten des Chirurgen und Sozialmediziners Dr. B vom 19. April 2016 eingeholt, der zu der Einschätzung gelangt ist, die Klägerin könne sich außerhalb eines Kraftfahrtzeugs ohne fremde Hilfe bewegen.

Auf den Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das Sozialgericht den Facharzt für Anästhesiologie Dr. J gehört, der eine außergewöhnliche Gehbehinderung der Klägerin bejaht hat. Die von der Klägerin geschilderten Schmerzen, neurologischen Störungen und die damit verbundenen Funktionsstörun-gen seien seiner subjektiven Gewissheit nach auch unter Berücksichtigung einer Konsistenzprüfung tatsächlich vorhanden. In der Stellungnahme vom 3. Februar 2017 zu diesem Gutachten ist der Sachverständige Dr. B bei seiner Auffassung geblieben.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 3. August 2017 mit der Begründung abgewiesen, bei der Klägerin lägen die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG nicht vor. Nach den schlüssigen Darlegungen des Sachverständige Dr. B wirke sich die inkomplette Querschnittssymptomatik der Klägerin nicht in einem solchem Maße aus, dass sie sich dauerhaft nur mit fremder Hilfe oder großer Anstrengung bewegen könne. Die hiervon abweichende Einschätzung des Sachverständigen Dr. J sei anhand dessen Gutachtens nicht nachvollziehbar, da keine objektiven Befunde erhoben worden seien.

Mit der Berufung gegen diese Entscheidung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Arbeitsmediziners Dr. G vom 22. Juli 2019. Der Sachverständige ist nach Untersuchung der Klägerin und Durchführung eines Gehtests zu dem Schluss gelangt, dass die Kläge-rin in ihrer Gehfähigkeit deutlich eingeschränkt sei und für sie erhebliche Anstren-gungen bei Gehen erforderlich seien. Die Frage, ob sie sich wegen der Schwere der Behinderung auf öffentlichem Straßenland – praktisch von den ersten Schritten außerhalb eines Fahrzeugs an – dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer An-strengung bewege, hat er jedoch verneint.

Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,

das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 3. August 2017 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 3. Juni 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. März 2015 zu verpflichten, bei ihr mit Wirkung ab dem 24. Februar 2014 das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG festzustellen.

Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die Entscheidung des Sozialgerichts, soweit sie anfochten worden ist, für zutreffend.

Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der Beratung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten.

Entscheidungsgründe:

Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Ver-handlung entschieden gemäß §§ 153 Absatz 1, 124 Absatz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet.

Das Sozialgericht hat die Klage mit dem angefochtenen Urteil zu Recht abgewiesen. Denn die Klägerin hat keinen Anspruch gegen den Beklagten, mit Wirkung ab dem 24. Februar 2014 bei ihr das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG festzustellen.

Über das Vorliegen gesundheitlicher Merkmale treffen nach § 69 Abs. 1 und 4 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (SGB IX a.F.) bzw. nach § 152 Abs. 1 und 4 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch in der am 1. Januar 2018 in Kraft getretenen Fassung (SGB IX n.F.) die für die Durchfüh-rung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen.

Hinsichtlich des Zeitraums vom 24. Februar 2014 bis zum 29. Dezember 2016 wird der hier maßgebliche Rechtsbegriff der außergewöhnlichen Gehbehinderung in Teil D Nr. 3b der als Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen und insoweit bis zum 29. Dezember 2016 gelten-den "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" (VMG a.F.) ausgeformt, die in Übernahme der Vorgängerregelungen in Abschnitt II Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 der All-gemeinen Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VwV-StVO) und in Nr. 31 Abs. 3 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz bzw. -recht (AHP) be-stimmte:

1Als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. 2Hierzu zählen Querschnittgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch auf Grund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleich-zustellen sind.

Dieser Regelung liegt die Differenzierung zwischen Regelbeispielen und Gleichstel-lungsfällen zugrunde: Beim Vorliegen eines der in D 3b Satz 2 Halbsatz 1 VMG a.F. genannten Regelbeispiels wird unwiderleglich vermutet, dass sich der dort aufgeführte schwerbehinderte Mensch wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 2/14 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 19, juris Rn. 15). Ist bei einem schwerbehinderten Menschen hingegen kein Regelbeispiel erfüllt, muss nach D 3b Satz 2 Halbsatz 2 VMG a.F. im Einzelfall geprüft werden, ob er den dort genannten Gruppen gleichzustellen ist (vgl. BSG, Urteil vom 11. März 1998 – B 9 SB 1/97 R –, BSGE 82, 37, juris Rn. 18 m.w.N.). Diese unter Gesamtwürdigung aller Einzelfallumstände (so BSG, Beschluss vom 11. Mai 2016 – B 9 SB 94/15 B –, juris Rn. 9) zu treffende Entscheidung hat sich strikt an dem Obersatz in D 3b Satz 1 VMG a.F. zu orientieren (so BSG, Urteile vom 11. August 2015 – B 9 SB 2/14 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 19, juris Rn. 20). Hierbei ist auch der Gesichtspunkt zu berücksichtigen, dass Parkraum für diejenigen Schwerbehinderten geschaffen werden soll, denen längere Wege zu Fuß nicht zuzumuten sind (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002 – B 9 SB 7/01 R –, BSGE 90, 180, juris Rn. 22, sowie die Urteile vom 29. März 2007 – B 9a SB 5/05 R –, juris Rn. 13, und – B 9a SB 1/06 R –, juris Rn. 17, jeweils unter Hinweis auf BT-Drucks 8/3150, S. 9f. in der Begründung zu § 6 StVG). Ansatzpunkt bildet das Restgehvermögen des Betroffenen. Allerdings lässt sich ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen griffig weder quantifizieren noch qualifizieren (so BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002 a.a.O., juris Rn. 23), weshalb ein an einer bestimmten Wegstrecke und an einem bestimmten Zeitmaß orientierter Maßstab ausscheidet (vgl. BSG, Urteile vom 29. März 2007 – B 9a SB 5/05 R –, juris Rn. 15, 17, und – B 9a SB 1/06 R –, juris Rn. 18, 21). Vielmehr ist darauf abzustellen, unter welchen Bedingungen es dem schwerbehinderten Menschen noch möglich war, sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zu bewegen: Vermochte er dies – praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an – nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung, sind die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG selbst dann erfüllt, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (so BSG in ständiger Rechtsprechung; siehe Urteil vom 16. März 2016 – B 9 SB 1/15 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 22, juris Rn. 19 m.w.N.).

Gemessen an diesen Maßstäben erfüllte die Klägerin hinsichtlich des Zeitraums vom 24. Februar 2014 bis zum 29. Dezember 2016 die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG nicht. Der Senat hat aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens die Überzeugung gewonnen, dass sie wegen der Schwere ihres Leidens nicht in so ungewöhnlich hohem Maße in ihrer Gehfähigkeit eingeschränkt war, dass sie sich dauernd nur mit fremder Hilfe außerhalb eines Kraftfahrzeuges bewegen konnte. Der Senat folgt hierbei den überzeugenden Ausführungen des Sozialgerichts in der angefochtenen Entscheidung; hierauf nimmt er Bezug und sieht daher von einer weiteren Darlegung der Entscheidungsgründe gemäß § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ab.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den Ermittlungen des Senats im Beru-fungsverfahren. Überzeugend hat der Sachverständige Dr. G – insbesondere auf der Grundlage des mit der Klägerin durchgeführten Gehtests – verneint, dass sie sich praktisch von den ersten Schritten außerhalb eines Fahrzeugs an dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung bewegen konnte.

Auch hinsichtlich des Zeitraums ab 30. Dezember 2016 kann die Klägerin nicht er-folgreich die Zuerkennung des Merkzeichens aG beanspruchen. Die Voraussetzungen der außergewöhnlichen Gehbehinderung ergeben sich aus der vom 30. Dezember 2016 bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Übergangsvorschrift des § 146 Abs. 3 SGB IX a.F., die durch Art. 2 Nr. 13 des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3234) neu geschaffen wurde, bzw. aus der am 1. Januar 2018 in Kraft getretenen Regelung des § 229 Abs. 3 SGB IX n.F. Nach diesen gleichlautenden Vorschriften sind schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung Personen mit einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung, die einem Grad der Behinderung von mindestens 80 entspricht. Eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung liegt nach der Legaldefinition des § 146 Abs. 3 Satz 2 SGB IX a.F. bzw. § 229 Abs. 3 Satz 2 SGB IX n.F vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Dies ist bei der Klägerin, wie bereits ausgeführt wurde, nicht der Fall. Zudem liegt bei ihr keine – wie § 146 Abs. 3 Satz 1 SGB IX a.F. bzw. § 229 Abs. 3 Satz 1 SGB IX n.F. kumulativ fordern – erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung vor, die einem GdB von mindestens 80 entspricht. Auf der Grundlage der nachvollziehbaren Darlegungen des Sachverständigen Dr. G ist der Senats zu der Überzeugung gelangt, dass die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung bei der Klägerin lediglich mit einem GdB von 50 zu bewerten ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
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