S 14 AS 62/20

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
14
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 14 AS 62/20
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Berücksichtigung eines höheren Regelbedarfes bei der Berech-nung der ihm gewährten Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) für die Mo-nate Januar und Februar 2020 in Höhe von monatlich mindestens 142,56 EUR.

Der am 00.00.0000 geborene Kläger steht im laufenden Bezug von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende beim Beklagten.

Mit Bescheid vom 31.10.2019 bewilligte der Beklagte dem Kläger - aufgrund schwanken-den Einkommens aus selbstständiger Erwerbstätigkeit - vorläufig Leistungen für den Le-bensunterhalt für die Zeit von September 2019 bis einschließlich Februar 2020. Mit posta-lisch übermitteltem Änderungsbescheid vom 23.11.2019 (Tag der Aufgabe zur Post unbe-kannt) berücksichtigte der Beklagte für diese vorläufige Leistungsbewilligung bis Februar 2020 die Regebedarfserhöhung zum 01.01.2020.

Gegen den vorläufigen Bewilligungsbescheid vom 31.10.2019 legte der Kläger am 26.11.2019 und gegen den Änderungsbescheid vom 23.11.2019 am 27.12.2019 Wider-spruch ein.

Mit Widerspruchsbescheid vom 29.11.2019 wies der Beklagte den Widerspruch gegen den Ausgangsbescheid als unbegründet zurück. Hiergegen erhob der Kläger am 23.12.2019 Klage beim Sozialgericht Aachen. Das Verfahren ist unter dem Aktenzeichen S 4 AS 1103/19 weiterhin rechtshängig. Der Kläger moniert dort die Verletzung von Ver-fassungs– und Europarecht bei der Berechnung/Prognose seines auf den Regelbedarf angerechneten Einkommens aus selbständiger Erwerbstätigkeit.

Mit Widerspruchsbescheid vom 02.01.2020 wies der Beklagte den Widerspruch gegen den Änderungsbescheid vom 23.11.2019 als unbegründet zurück und belehrte den Kläger dahingehend, dass die Klage zum Sozialgericht zulässig sei.

Diese hat der Kläger am 22.01.2020 erhoben. Die Regierungskoalition habe die automati-sche Anpassung des Regelsatzes an die jährliche Inflation abgeschafft, automatische Ge-haltsanpassungen für Staatsdiener und Beamte, die jedenfalls in Teilen der Justiz und auf Seiten des Beklagten Verbrecher seien, aber unverändert beibehalten. Hierdurch seien die aktuellen Regelsätze mindestens 33 % zu niedrig und verstießen gegen den Gleichheits-grundsatz.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich, den Widerspruchsbescheid wegen Verstoßes gegen seine Grundrechte nach Art. 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union aufzuhe-ben.

Der Vertreter des Beklagten beantragt schriftsätzlich, die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach – und Streitverhältnisses wird auf die Ge-richtsakte sowie die beigezogene Verfahrensakte S 4 AS 1103/19 und die dort beigezoge-nen Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

A. Die Kammer legt den allein schriftsätzlich formulierten Klageantrag des Klägers aufgrund seines mit der Klagebegründung zum Ausdruck gebrachten Klageinteresses dahingehend aus, dass neben der Anfechtung des Änderungsbescheides vom 23.11.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.01.2020 die Verurteilung des Beklagten zur Gewäh-rung von Grundsicherungsleistungen unter Berücksichtigung eines um 33 % erhöhten Re-gelbedarfes begehrt wird. Bei einem im Bescheid berücksichtigten Regelbedarf von 432 EUR begehrt der Kläger insofern im betroffenen Zeitraum von Januar bis Februar 2020 monat-lich 142,56 EUR mehr als bewilligt.

B. Das so verstandene Klagebegehren ist als kombinierte Anfechtungs – und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz- SGG) statthaft, aber wegen doppelter Rechtshängig-keit unzulässig.

I. Gemäß § 94 S. 1 SGG wird eine Streitsache durch die Erhebung der Klage rechtshän-gig. Die Rechtshängigkeit endet mit Eintritt der formellen Rechtskraft (Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 97, Rn. 3, 4 m.w.N.). Gemäß § 202 S. 1 SGG i.V.m. § 17 Abs. 1 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) ist während der Rechtshängigkeit ein zweites gerichtliches Verfahren zwischen denselben Beteiligten über denselben Streitgegenstand unzulässig (Sperrwirkung der Rechtshängigkeit) (Schmidt, a.a.O., Rn. 6, 7; Breitkreuz in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl. 2014, § 94, Rn. 8).

II. Der Änderungsbescheid vom 23.11.2019 ist gemäß § 86 Hbs. 1 SGG, ggfs. in analoger Anwendung, bereits Gegenstand des Widerspruchsverfahrens gegen den Bescheid vom 31.10.2019 und in der Folge damit Gegenstand des rechtshängigen Klageverfahrens beim Sozialgericht B zum Aktenzeichen S 4 AS 1103/19 geworden.

1. Wird während des Vorverfahrens ein Verwaltungsakt abgeändert, so wird gem. § 86 Hbs. 1 SGG auch der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Vorverfahrens. Das Vorver-fahren beginnt mit der Erhebung des Widerspruches (§ 83 SGG) und endet mit Erlass ei-nes Abhilfe- oder Widerspruchsbescheides (vgl. § 85 SGG). Da der ändernde Verwal-tungsakt erst mit seiner Bekanntgabe wirksam wird (§§ 37 Abs. 1, § 39 Abs. 1 Sozialge-setzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X)), fällt er in diesen Zeitraum, wenn er seinem Adressaten währenddessen zugeht (vgl. Be-cker, in: Roos/Wahrendorf, SGG, 1. Aufl. 2014, SGG, § 86, Rn. 7; Engelmann, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 27, Rn. 3).

a) Der im vorliegenden Verfahren angefochtene Änderungsbescheid vom 23.11.2019 hat für die Monate Januar und Februar 2020 den vorläufigen Bewilligungsbescheid vom 31.10.2019 geändert. Gegen den Bescheid vom 31.10.2019 legte der Kläger am 26.11.2019 Widerspruch ein. Der Änderungsbescheid vom 23.11.2019 kann frühestens am selben Tag zur Post aufgegeben worden sein. Unter Beachtung des § 37 Abs. 2 S. 1 SGB X wäre in diesem Fall von einem Zugang beim Kläger drei Tage später, am 26.11.2019, auszugehen, also am Tag des Einganges des Widerspruches gegen den vor-läufigen Bewilligungsbescheid beim Beklagten. Soweit sich letztlich nicht klären lässt, ob der Eingang des Widerspruches vor oder nach Zugang des Änderungsbescheides vom 23.11.2019 erfolgt ist, bleibt dies ohne rechtliche Relevanz.

Denn während im 1. Fall § 86 Hbs. 1 SGG direkt zur Anwendung käme, wäre im Alterna-tivgeschehen die Vorschrift analog anzuwenden (bzgl. einer (extensiven) Analogiefähigkeit des § 86 SGG vgl. BSG, Urteil vom 28. August 2018 – B 8 SO 31/16 R –, SozR 4-1500 § 86 Nr 4, Rn. 12; BSG, Urteil vom 04. März 2014 – B 1 KR 64/12 R –, BSGE 115, 158-164, SozR 4-2500 § 186 Nr 4, Rn. 9). (gegen eine Erstreckung des § 86 SGG auf die Zeit vor Einlegung des Widerspruches: Senger in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 86 SGG (Stand: 25.04.2019), Rn. 14, allerdings ohne eine analoge Anwendung zu disku-tieren; vgl. zur Parallelvorschrift § 365 Abs. 3 AO auch Krömker in: Lippross/Seibel, Basis-kommentar Steuerrecht, 117. Lieferung 01.2020, § 365 AO, Rn. 10 ohne Begründung; Birnbaum, in: BeckOK AO, 11. Ed. 1.1.2020, § 365, Rn. 46; für eine direkte Anwendung des § 86 SGG im Fall des Widerspruches gegen den Ausgangsbescheid vor Erlass des Änderungsbescheides: Becker, in: Roos/Wahrendorf, SGG, 1. Aufl. 2014, § 86, Rn. 8).

c) Eine analoge Anwendung ist vorzunehmen, wenn 1. eine Gesetzeslücke besteht, 2. der nicht geregelte Tatbestand dem gesetzlich festgelegten ähnlich ist und 3. beide Tatbe-stände wegen ihrer Ähnlichkeit gleich zu bewerten sind (BSG, Urteil vom 18. September 2012 – B 2 U 11/11 R –, BSGE 112, 43-54, SozR 4-2700 § 90 Nr 2, Rn. 24 m.w.N.). Die-se Voraussetzungen sind erfüllt.

aa) Eine Gesetzeslücke hinsichtlich des Alternativgeschehens besteht, da der Gesetzge-ber die Frage der Einbeziehung eines vor Einlegung eines Widerspruches erlassenen Än-derungsbescheides in das Widerspruchsverfahren gegen den Ausgangsbescheid nicht ge-regelt hat.

bb) Die Gesetzeslücke ist auch planwidrig. Es ist naheliegend, dass der Gesetzgeber die Möglichkeit einer derart kurzfristigen Änderung eines Bescheides vielmehr nicht für mög-lich gehalten bzw. bedacht hat. § 86 SGG geht unverändert auf den ursprünglichen Ent-wurf einer Sozialgerichtsordnung (§ 34 Abs. 1) vom 19. Mai 1953 zurück (Becker, in: Roos/Wahrendorf, SGG, 1. Aufl. 2014, § 86, Rn. 1; vgl. BT-Drs. 1/4357, S. 7; vgl. zur Entwicklung des Entwurfes einer Sozialgerichtsordnung zum Sozialgerichtsgesetz: Fey, Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland bis zur Herstellung der Deutschen Einheit, 1996, S. 154) und ist in seinem einzig bis heute verbliebenen Absatz seit der ersten Be-kanntmachung des Sozialgerichtsgesetzes am 4. September 1953 (BGBl. 1953 Nr. 57, S. 1239) unverändert (Binder, in: Lüdtke/Berchtold, SGG, 5. Auflage 2017, § 86, Rn. 1). Überlegungen, die auch nur darauf hindeuten, dass die vorliegend mögliche Fallkonstella-tion bewusst vom Wortlaut nicht erfasst wurde, lassen sich der Entwurfsbegründung nicht entnehmen (BT-Drs. 1/4357, S. 27: "Zweckmäßigkeitsgründe"). Mit dem Sechsten Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes vom 17.08.2001 (BGBl 2001 Nr. 43 S. 244) wurden lediglich die in den Absätzen 2- 4 des § 86 SGG enthaltenen Regelungen zur auf-schiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen bestimmte Verwaltungsakte und zur Mög-lichkeit der Aussetzung des Vollzuges durch die Behörde im Zusammenhang mit der Ein-führung von allgemeinen Regelungen zum einstweiligen Rechtsschutz im sozialgerichtli-chen Verfahren (§§ 86a, 86b SGG) aufgehoben. Überlegungen des Gesetzgebers zur Reichweite des allein verbliebenen Abs. 1 gingen damit nicht einher (vgl. BT-Drs. 14/5943, S. 24f.).

cc) Zuletzt sind die ausdrücklich von § 86 SGG erfasste und die vorliegend mögliche Sachverhaltskonstellation vor dem Hintergrund der Zielsetzung der Vorschrift gleich zu bewerten.

So liegen die Zwecke des § 86 SGG darin, rationellen und effektiven Rechtsschutz zu ver-schaffen und unnötige Verzögerungen und weitere Verfahren sowie divergierende Sach-entscheidungen zu vermeiden (Becker, in: Roos/Wahrendorf, SGG, 1. Aufl. 2014, § 86, Rn. 8; Hintz, in: BeckOK, 55. Ed. 1.12.2019, SGG § 86, Rn. 1; Senger in: Schle-gel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl. (Stand: 25.04.2019), § 86 SGG Rn. 11).

Diese Zwecke sind durch die Einbeziehung der vorliegend möglichen Fallkonstellation der Änderung eines Bescheides vor Einlegung des Widerspruches in gleicher Weise zu reali-sieren, wie in der ausdrücklich geregelten Konstellation der Einbeziehung eines Ände-rungsbescheides nach Einlegung des Widerspruches gegen den geänderten Bescheid. Letztlich hängt es weitgehend von Zufälligkeiten (u.a. der Ausschöpfung der Wider-spruchsfrist, der Absendung des Änderungsbescheides, der – ggfs. unterschiedlichen -Postlaufzeiten von Widerspruch und Änderungsbescheid) ab, in welcher Reihenfolge der Widerspruch gegen den Ausgangsbescheid und Änderungsbescheid zeitlich wirksam wer-den. In jedem Fall ist die Berücksichtigung des ändernden Bescheides ob des einheitlichen bzw. eines sich teilweise überschneidenden Regelungsgehaltes im Widerspruchsverfahren gegen den Ausgangsbescheid zwingend. Denn die Würdigung der (materiellen) Rechtsla-ge im Widerspruchsverfahren betrifft insoweit notwendigerweise auch den Änderungsbe-scheid. Wollte man diesen nicht in das Widerspruchsverfahren gegen den Ausgangsbe-scheid einbeziehen, sondern ein weiteres Widerspruchsverfahren für zulässig erachten, ergäbe sich die Gefahr divergierender Sachentscheidungen zu einem Regelungsgegen-stand in der gleichen Weise wie in der durch § 86 SGG ausdrücklich erfassten Konstellati-on der Widerspruchseinlegung vor Erlass eines Änderungsbescheides. Diese Gefahr be-trifft hier wie dort Im Grunde das Verkennen einer (teilweisen) Erledigung des mit dem Widerspruch angefochtenen Bescheides durch den Änderungsbescheid (§ 39 Abs. 2 So-zialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialveraltungsverfahren und Sozialdatenschutz – SGB X). Diese Gefahr beträfe zunächst die Verwaltungsebene, in der Konsequenz aber auch mögliche nachfolgende gerichtliche Entscheidungen. Gerade dort, wo der Änderungsbe-scheid – wie häufig und auch vorliegend zeitlich – nicht den gesamten Regelungsgegen-stand des vorangehenden Bescheides betrifft, wird mit der Einbeziehung des ändernden Bescheides die Notwendigkeit eines zweiten Widerspruchsverfahrens vermieden und der Rechtsschutz rationalisiert und beschleunigt.

dd) Die Vergleichbarkeit der Interessenlagen zwischen der ausdrücklich von § 86 SGG er-fassten und der vorliegend ebenfalls möglichen Konstellation bzw. die Notwendigkeit einer analogen Anwendung auf Änderungsbescheide vor Einlegung des Widerspruches gegen den Ausgangsbescheid schlechthin lassen sich im Gegenlicht des § 96 Abs. 1 SGG bestä-tigen. § 96 Abs. 1 SGG verfolgt – bezogen auf das Klageverfahren – dieselben Zwecke wie § 86 SGG auf das Widerspruchsverfahren bezogen (vgl. Becker, in: Ross/Wahrendorf, SGG, a. Aufl. 2014, § 86, Rn. 4; Binder, in: Lüdtke, Berchthold, SGG, 5. Aufl. 2017, § 96, Rn. 2; BT-Drs. 16/7716, S. 19). Seit September 1953 bis Ende März 2008 formulierte § 96 Abs. 1 SGG syntaktisch parallel zu § 86 SGG: "Wird nach Klageer-hebung der Verwaltungsakt durch einen neuen abgeändert oder ersetzt, so wird auch der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens." Durch das Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgesetzes vom 26. März 2008 (BGBl 2008, Teil I, S. 444) änderte der Gesetzgeber den Wortlaut erstmals: "Nach Klageerhebung wird ein neu-er Verwaltungsakt nur dann Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheides ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abgeändert oder ersetzt." Bereits unter Gültigkeit der alten Fassung war praktisch unbestritten, dass ändernde Bescheide, die nach Erlass des Widerspruchsbescheides aber vor Erhebung der Klage ergingen, Gegenstand des Klageverfahrens wurden, gleichwohl sie weder dem Wortlaut des § 86 SGG noch jenem des § 96 SGG unterfielen. Während eine Ansicht § 86 SGG – (auch) für die Phase nach Abschluss des Widerspruchsverfahrens – (in der Sache) analog anwandte (BSG, Urteil vom 12. Mai 1993 – 7 RAr 56/92 –, BSGE 72, 248-252, SozR 3-4100 § 137 Nr 4, Rn. 13 m.w.N.), dehnten andere den Anwendungsbereich des § 96 SGG durch eine letztlich analoge Anwendung auf den Zeitraum vor Klageerhe-bung aus (vgl. Senger in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 86 SGG (Stand: 25.04.2019), Rn. 15 m.w.N.; vgl. Breitkreuz in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl. 2014, § 96, Rn. 7).

Zur Änderung des Wortlautes des § 96 Abs. 1 SGG sah sich der Gesetzgeber veranlasst, um einer zu extensiven (analogen) Anwendung der Vorschrift entgegenzutreten, nachdem durch die Rechtsprechung zum Teil Verwaltungsakte schon bei irgendeinem tatsächlichen oder rechtlichen Zusammenhang mit dem ursprünglich streitgegenständlichen Bescheid einbezogen worden waren. Künftig solle die Einbeziehung des neuen Verwaltungsaktes – entsprechend der ursprünglichen Zielsetzung der Norm – nur noch möglich sein, wenn nach Klageerhebung der Verwaltungsakt durch einen neuen Verwaltungsakt ersetzt oder abgeändert werde. Die Regelung werde erstreckt auf den Zeitraum zwischen Erlass des Widerspruchsbescheides und Klageerhebung (BT-Drs. 16/7716, S. 19; vgl. Hintz, in: BeckOK SozR/Hintz, 55. Ed. 1.12.2019, SGG § 96, Rn. 2).

Selbst in der Restriktion der Reichweite der Vorschrift ist es insoweit - auch wenn dies im Wortlaut noch immer nicht eindeutig zum Ausdruck kommt – die klare Absicht des Ge-setzgebers, die Phase zwischen Erlass des Widerspruchsbescheides und Klageerhebung von § 96 Abs. 1 SGG (weiterhin) erfasst zu sehen (vgl. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, 12. Aufl. 2017, SGG § 96, Rn. 2, 3a; Binder, in: Lüdt-ke/Bertold, SGG, 5. Auflage 2017, § 96, Rn. 3). Der Gesetzgeber begründet dies aus-drücklich mit den auch § 86 SGG innewohnenden Zielen, eine schnelle, erschöpfende Entscheidung über das gesamte Streitverhältnis in einem Verfahren zu ermöglichen, di-vergierende Entscheidungen zu vermeiden und den Kläger vor Rechtsnachteilen zu schüt-zen, die ihm daraus erwachsen, dass er im Verfahren auf den eingelegten Rechtsbehelf bezüglich weiterer Verwaltungsakte rechtliche Schritte unterlässt (BT-Drs. a.a.O.).

Auch wenn der Wortlaut des § 86 SGG unverändert geblieben ist, kann insofern kein Zweifel daran bestehen, dass er sich auch auf den Zeitraum zwischen Erlass des Aus-gangsbescheides und den Beginn des Widerspruchsverfahrens erstreckt. Der Gesetzes-begründung zur Änderung des § 96 SGG ist nichts dafür zu entnehmen, dass die jeher parallele Kalibrierung zum § 86 SGG aufgegeben werden sollte (vgl.: Binder, in: Lüdtke, Berchthold, SGG, 5. Aufl. 2017, § 86, Rn. 3). Jedenfalls spricht die Änderung des § 96 Abs. 1 SGG in ihrer zähmenden Absicht ersichtlich nicht für ein Zurückbleiben der Reich-weite des § 86 SGG.

C. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

D. Eine Berufung gegen das Urteil bedürfte gemäß § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG der Zulas-sung. Die Kammer erkennt keinen Grund für die Zulassung nach § 144 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 SGG. Die Kammer weicht mit ihrer Ansicht nicht von der Entscheidung einer höheren In-stanz ab und erkennt keine grundsätzliche Bedeutung der Frage, ob § 86 SGG auf die Konstellation der Widerspruchseinlegung vor Erlass eines ändernden Bescheides (direkt oder) analog anzuwenden wäre, zumal seit Inkrafttreten des SGG der Frage in der Recht-sprechung – soweit ersichtlich – keine Bedeutung zugekommen ist.
Rechtskraft
Aus
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