S 1 R 210/09

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Fulda (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Fulda (HES)
Aktenzeichen
S 1 R 210/09
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 R 390/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die (teilweise) Aufhebung der Entscheidung über die Gewährung von Witwenrente für die Zeit vom 1.3.1996 bis 31.12.2008 sowie um die Erstattung überzahlter Rentenleistungen in Höhe von 11.868,06 EUR.

Die 1936 geborene Klägerin bezieht seit dem 1.1.1994 eine große Witwenrente. Mit Bescheid vom 9.2.1994 wurde der Klägerin diese Rente gewährt, mit Bescheid vom 17.1.1995 erfolgte eine Neuberechnung der Rente.

In dem Abschnitten "Mitteilungspflichten" beider Bescheide hieß es unter anderem:

"Erwerbseinkommen und Erwerbsersatzeinkommen können Einfluss auf die Rentenhöhe haben. Daher besteht die gesetzliche Verpflichtung, uns das Hinzutreten oder die Veränderung von Erwerbseinkommen, das sind

- Arbeitsentgelt,

- Einkommen aus selbständiger Tätigkeit,

- vergleichbare Einkommen,

oder von Erwerbsersatzeinkommen unverzüglich mitzuteilen. ( )

Die Meldung von Veränderungen erübrigt sich bei Einkommen aus einer in der Bundesrepublik Deutschland ausgeübten rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit oder bei Renten aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung. ( )

Ab dem 1.3.1996 bezog die Klägerin eine Altersrente für Frauen, die nicht auf die Witwenrente angerechnet wurde.

Nach Anhörung der Klägerin mit Schreiben vom 17.11.2008 hob die Beklagte mit Bescheid vom 6.2.2009 die Witwenrentenbescheide vom 9.2.1994 und 17.1.1995 mit Wirkung ab dem 1.3.1996 nach § 48 SGB X auf und forderte die entstandene Überzahlung zur Hälfte in Höhe von 11.868,06 EUR nach § 50 SGB X zurück.

Hiergegen legte die Klägerin mit Schreiben vom 27.2.2009 Widerspruch mit der Begründung ein, dass die Klägerin bereits am 4.4.1995 überzahlte Witwenrente in Höhe von 4.416,61 DM erstattet habe. Zudem käme einer Rückforderung nicht in Betracht, da die in § 45 geregelten Fristen verstrichen seien.

Hiergegen richtet sich die Klage, die die Klägerin am 11.9.2009 vor dem Sozialgericht Fulda erhoben hat. Die Klägerin begehrt die Aufhebung des Erstattungsbescheides.

Die Klägerin ist der Auffassung, dass der Beklagten hinlänglich bekannt gewesen sei, dass sie ab dem 1.3.1996 Altersrente für Frauen bezogen hat, so dass die Jahresfrist verstrichen sei. Auch die Zehnjahresfrist sei abgelaufen, eine Rücknahme könnenicht zeitlich unbegrenzt vorgenommen werden. Zudem genieße sie Vertrauensschutz. Ihr könne keine vorsätzliche oder grob fahrlässige Pflichtverletzung vorgeworfen werden, da sie davon ausgehen durfte, dass der Beklagten die Leistung der Altersrente für Frauen bekannt war. Zudem habe in den Rentenbescheiden unter Mitteilungspflichten gestanden: "Die Meldung von Veränderungen erübrigt sich ... bei Renten aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung." Die Klägerin sei daher nicht verpflichtet gewesen der Beklagten den Bezug der Altersrente für Frauen anzugeben.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 6.2.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.8.2009 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hält an ihrem Vorbringen im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren fest.

Mit Schreiben vom 14.10.2011 sind die Beteiligten dazu angehört worden, dass beabsichtigt ist, den Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid in Beschlussbesetzung ohne ehrenamtliche Richter zu entscheiden.

Wegen der weiteren Einzelheiten und Unterlagen, insbesondere des weiteren Vorbringens der Beteiligten, wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Akten der Beklagten, die Gegenstand dieser Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte gemäß § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Gerichtsbescheid entscheiden, denn die Sache weist keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art auf und der Sachverhalt ist geklärt. Die Beteiligten haben sich ausdrücklich mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid einverstanden erklärt.

Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist zulässig, aber nicht begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 6.2.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.8.2009 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

Die Beklagte hat zu Recht die Bescheide vom 9.2.1994 und 17.1.1995 teilweise aufgehoben und Erstattung in Höhe von 11.868,06 EUR gefordert.

Der Aufhebungsbescheid der Beklagten stützt sich zu Recht auf § 48 SGB X, da durch den Bezug der Altersrente für Frauen eine erst nachträglich, zum 1.3.1996 eingetretene Änderung in den Verhältnissen eingetreten ist.

Bei einem Fall des Erzielens "rentenschädlicher" Einkünfte ist ein Fall des § 48 SGB X gegeben, sofern erst nach Erlass des ursprünglichen Rentenbescheides Einkünfte erzielt werden, die auf einen zurückliegenden Zeitraum anzurechnen sind (z.B. Nachzahlung, rückwirkende Lohnerhöhung). Das ergibt sich aus der Fiktion des § 48 Abs. 1 Satz 3 SGB X, wonach als Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse in Fällen, in denen Einkommen oder Vermögen auf einen zurückliegenden Zeitraum anzurechnen ist, der Beginn des Anrechnungszeitraums gilt. Dies gilt auch dann, wenn die Anrechnung des Einkommens oder des Vermögens bis auf den Rentenbeginn oder einen sonstigen Neuberechnungsbeginn zurückwirkt.

Rechtsgrundlage für die teilweise Rücknahme der Witwenrente ist § 48 SGB X und nicht § 45 SGB X, weil die Bescheide vom 9.2.1994 und 17.1.1995 im Zeitpunkt ihrer Bekanntgabe rechtmäßig gewesen sind. Bei den Bescheiden über die Gewährung einer Witwenrente handelt es sich um begünstigende Verwaltungsakte mit Dauerwirkung.

Gegenüber den Verhältnissen, die bei Erlass der Verwaltungsakte vorgelegen haben, war ab 1.3.1996 eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 SGB X eingetreten, als die von der Klägerin ab diesem Zeitpunkt erzielte Altersrente für Frauen nach § 97 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI auf die Witwenrente hätte angerechnet werden müssen.

Weil die Witwenrente entgegen den genannten Vorschriften ungemindert weitergewährt worden ist, sind die Bescheide vom 9.2.1994 und 17.1.1995 rechtswidrig geworden, sie waren daher gemäß § 48 Abs. 1 SGB X zurückzunehmen.

Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X soll der (infolge einer wesentlichen Änderung rechtswidrig gewordene) Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit

1. die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt,

2. der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist,

3. nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde, oder

4. der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.

Die Beklagte war gemäß § 48 Abs.1 S.2 SGB X berechtigt und verpflichtet, die Bescheide vom 9.2.1994 und 17.1.1995 mit Wirkung ab dem Eintritt der wesentlichen Änderung, dem 1.3.1996 (teilweise) zurückzunehmen und hat dies auch innerhalb der dafür vorgeschriebenen Fristen getan.

Die Klägerin hat unstreitig nach Antragstellung bzw. Erlass der Bescheide vom 9.2.1994 und 17.1.1995 Einkommen erzielt, das - ab dem 1.3.1996 - zur Minderung ihres Witwenrentenanspruchs geführt hat, so dass § 48 Absatz 1 Satz 1 Nr. 3 SGB X vorliegt. Dies reicht vorliegend aber nicht aus. Vielmehr ist gleichsam zu prüfen, ob auch die Voraussetzungen der Nummer 2 oder der Nummer 4 des § 48 Absatz 3 SGB X vorliegen. Denn für den Fall, dass nur das Vorliegen der Voraussetzungen der Nummer 3 des § 48 SGB X zu bejahen wäre, nicht aber auch das Vorliegen der Voraussetzungen der Nummern 2 bzw. 4 des § 48 SGB X, würde eine Rückforderung nach § 48 SGB X an der - dann verpassten - 10-Jahres-Frist des § 48 Absatz 4 Satz 1 i.V.m. § 45 Absatz 3 Satz 3 SGB X scheitern. Zum Zeitpunkt des Erlasses des Rücknahmebescheides im Februar 2009 war die 10-Jahres-Frist des § 48 Absatz 4 Satz 1 i.V.m. § 45 Absatz 3 Satz 3 SGB X abgelaufen. Im Falle des Nichtvorliegens der Voraussetzungen der Nummer 2 bzw. 4 des § 48 SGB X wäre diese Frist auch nicht verlängerbar im Sinne des § 48 Absatz 4 Satz 1 i.V.m. § 45 Absatz 3 Satz 4 SGB X. Denn § 48 Absatz 4 Satz 1 i.V.m. § 45 Absatz 3 Satz 4 SGB X gilt nach ständiger Rechtsprechung des BSG nur im Falle von Bösgläubigkeit, greift aber nicht im Falle des (alleinigen) Vorliegens von § 48 Absatz 1 Satz 1 Nr. 3 SGB X (vgl. Urteil des BSG vom 01.07.2010, B 13 R 77/09 R in SozR 4 - 1300 § 48 Nr. 18).

Vorliegend sind aber auch die Voraussetzungen der Nr. 2 des § 48 SGB X zu bejahen; hierdurch war auch die 10-Jahres-Frist des § 48 Absatz 4 Satz 1 i.V.m. § 45 Absatz 3 Satz 3 SGB X "verlängerbar" und gewahrt, § 48 Absatz 4 Satz 1 i.V.m. § 45 Absatz 3 Satz 4 SGB X, weil der Klägerin die Witwenrente bis zum Beginn des Rücknahmeverfahrens gezahlt wurde.

Das Gericht bejaht das Vorliegen der Voraussetzungen der Nr. 2 des § 48 SGB X, weil es eine grob fahrlässige Verletzung der Mittteilungspflichten der Klägerin als gegeben ansieht.

Die Mitteilungspflichten der Klägerin ergeben sich aus § 60 SGB I. Danach ist die Klägerin als Leistungsempfängerin zur Mitwirkung verpflichtet. Welche Mitwirkung dies bei Bezug von Einkommen war, ergab sich für die Klägerin aus der klaren Belehrung in den rentenbewilligenden Bescheiden vom 9.2.1994 und 17.1.1995, die lauteten: ""Erwerbseinkommen und Erwerbsersatzeinkommen können Einfluss auf die Rentenhöhe haben. Daher besteht die gesetzliche Verpflichtung, uns das Hinzutreten oder die Veränderung von Erwerbseinkommen, das sind - Arbeitsentgelt, - Einkommen aus selbständiger Tätigkeit, - vergleichbare Einkommen, oder von Erwerbsersatzeinkommen unverzüglich mitzuteilen. ( ) Die Meldung von Veränderungen erübrigt sich bei Einkommen aus einer in der Bundesrepublik Deutschland ausgeübten rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit oder bei Renten aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung. ( ) Wir werden den Bescheid - auch rückwirkend - ganz oder teilweise aufheben und zu Unrecht erbrachte Leistung zurückfordern, soweit bestehenden Mitteilungspflicht nicht erfüllt werden. Über Zahlungen können vermieden werden, wenn Sie uns umgehend benachrichtigen."

Ihrer Pflicht zur Mitteilung ihres Einkommens war die Klägerin nicht etwa dadurch enthoben, dass sie ausreichend Anhalt für die Annahme hatte, es bedürfe ihrer eigenen Mitteilung nicht (mehr), weil die Beklagte bereits ausreichend anderweitig Kenntnis über ihr Einkommen erlangt hat. Dies kann die Klägerin auch ihrer Verpflichtung zur eigenen Mitteilung über erzieltes Einkommen nicht entheben, selbst dann nicht, wenn die Beklagte nicht nur nach der Annahme der Klägerin, sondern auch objektiv betrachtet bereits ausreichend anderweitig Kenntnis über ein Einkommen der Klägerin erlangt hätte. Denn selbst wenn eine Behörde anderweitig Kenntnis erlangt hat, enthebt dies den Versicherten nicht seiner Mitteilungspflicht, d.h. die Mitteilungspflicht entfällt nicht, wenn die mitzuteilenden Umstände der Behörde bereits bekannt waren (vgl. Urteil des BSG vom 12.02.1980, 7 RAR 13/79 (Rdn. 26) in SozR 4100 § 152 Nr. 10). Ihrer Mitteilungspflicht ist die Klägerin nicht nachgekommen.

Die Klägerin ist ihrer Pflicht zur Mitteilung von Einkommen auch grob fahrlässig nicht nachgekommen. Die Belehrungen in den Bescheiden waren wie ausgeführt eindeutig und unmissverständlich. Der Zusatz in den Rentenbescheiden unter dem Punkt Mitteilungspflichten, dass eine Mitteilung unterbleiben kann bezieht sich auf einen bekannten Rentenbezug, bei denen sich zum Beispiel die Rentenhöhe ändert. Damit ist der erstmalige Rentenbezug gemeint. Die davor stehenden Ausführungen, dass Erwerbseinkommen wie u. a. Versichertenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung unverzüglich mitzuteilen sind, würden sonst keinen Sinn machen.

Die Beklagte hat mit dem Bescheid vom 6.2.2009 auch die Handlungsfrist des § 48 Abs. 4 i.V.m § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X gewahrt. Die Behörde muss gemäß § 48 Abs. 4 i.V.m. § 45 Abs.4 S. 2 SGB X den Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen zurücknehmen (§ 45) bzw. aufheben(§ 48), die die Rücknahme(Aufhebung) eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen.

Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung entschieden und klargestellt, dass - weil nach § 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X ein Verwaltungsakt nur in den Fällen des Abs. 2 Satz 3 und Abs. 3 Satz 2 des § 45 SGB X bzw. nach § 48 Abs. 4 Satz 1 SGB X für die Vergangenheit zurückgenommen werden kann - der Behörde folglich auch diejenigen Tatsachen bekannt sein müssen, die § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X bzw. § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X für die Aufhebung voraussetzen (BSGE 60, 239, 240 f; BSGE 62, 103, 108; BSGE 65, 221, 228; BSGE 66, 204, 210; BSG SozR 3-1300 § 45 Nr. 26; BSGE 77, 295, 299). Bei einer Rücknahmeentscheidung, die sich - wie hier - auf den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit bzw. die Kenntnis der Rechtswidrigkeit stützt, beginnt die Jahresfrist mithin dann zu laufen, wenn die Beklagte Kenntnis davon hatte, dass die Klägerin die (teilweise) Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Maßgeblich ist damit der Zeitpunkt, zu dem die Behörde aufgrund des ermittelten Sachverhalts Kenntnis von der Bösgläubigkeit der Klägerin hatte. Die Frage, wann die Behörde die Tatsachen, die eine abschließende Prüfung der Rücknahmevoraussetzung erlauben, kennt, ist weder ausschließlich anhand objektiver Kriterien noch allein aufgrund der subjektiven Einschätzung der Behörde zu beantworten(vgl. BSG SGb 2000,276). Die zeitliche Begrenzung der Rücknahmebefugnis für die Vergangenheit dient der Rechtssicherheit. Unter Berücksichtigung dieses Grundsatzes ist die den Beginn der Jahresfrist bestimmende Kenntnis dann anzunehmen, wenn mangels vernünftiger, objektiv gerechtfertigter Zweifel eine hinreichend sichere Informationsgrundlage bezüglich sämtlicher für die Rücknahmeentscheidung notwendiger Tatsachen besteht(vgl. BSG SGb 2000,276; BSGE 74, 20, 26 m.w.N.; Hess. LSG, Nachrichtenblatt der LVA Hessen 2003,65 f.). Hierbei ist hinsichtlich der erforderlichen Gewissheit über Art und Umfang der entscheidungserheblichen Tatsachen in erster Linie auf den Standpunkt der Behörde - und zwar des für die Rücknahmeentscheidung zuständigen Sachbearbeiters - abzustellen, es sei denn, deren sichere Kenntnis liegt bei objektiver Betrachtung bereits zu einem früheren Zeitpunkt vor (BSGE 77, 295, 298 f; BSG SGB 2000,276; Hess. LSG a.a.O.).

Erst mit dem Ergebnis der Anhörung der Klägerin sind letztlich die Tatsachen, aus denen sich Sicherheit über die Bösgläubigkeit der Klägerin und damit erst die Berechtigung zur (teilweisen) Aufhebung für die Vergangenheit ergibt, bekannt. Damit hatte die Beklagte erst am 29.12.2008 die erforderliche Kenntnis, so dass die Einjahresfrist nicht verstrichen ist.

Das von der Beklagten ausgeübte Ermessen verletzt die Klägerin jedenfalls nicht in ihren Rechten, da die Beklagte die Rückforderung um die Hälfte reduzierte und anstatt 23.736,12 EUR nur 11.868,06 EUR zurückforderte. Trotzdem hat die Beklagte Ermessenserwägungen nach Auffassung des Gerichts auch zu Recht angestellt.

Gemäß § 48 sind Verwaltungsakte in der Regel (§ 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X: "soll") vom Zeitpunkt des Eintritts der Änderung der Verhältnisse - also auch für einen schon in der Vergangenheit liegenden Zeitraum - aufzuheben. Nur bei atypischer Fallgestaltung besteht für die Behörde oder den Versicherungsträger nicht die Pflicht zur rückwirkenden Aufhebung. Vielmehr hat die Verwaltung im Wege einer Ermessensentscheidung darüber zu befinden, ob der Verwaltungsakt rückwirkend aufzuheben ist oder nicht (vgl. z.B. BSGE 59,115; BSG SozR § 48 Nrn 21, 22, 24, 30 und 34; BSGE 60, 180 (185); 66, 103 (108)). Macht sie nicht von dem ihr eingeräumten Ermessensspielraum Gebrauch, so ist der Verwaltungsakt fehlerhaft.

Ob ein atypischer Fall vorliegt, der eine solche Ermessensentscheidung gebietet, ist als Rechtsvoraussetzung im Rechtsstreit von den Gerichten zu entscheiden und hängt von den Umständen des Einzelfalles ab(vgl. BSGE 59, 111, 115; 66, 103, 108). Bei der Beurteilung der aufgeworfenen Frage sind alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen (BSG SozR 1300 § 48 Nr. 44). Diese müssen Merkmale aufweisen, die signifikant vom (typischen) Regelfall abweichen, in dem die Rechtswidrigkeit eines ursprünglich richtigen Verwaltungsakts durch nachträgliche Veränderungen in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen eingetreten ist. Hierbei muss auch geprüft werden, ob die mit der Aufhebung verbundene Pflicht zur Erstattung der zu Unrecht erhaltenen Leistungen (§ 50 Abs. 1 SGB X) nach Lage des Falles eine Härte bedeutet, die den Leistungsbezieher untypischerweise stärker belastet als den hierdurch im Normalfall Betroffenen (vgl. BSG SozR 1300 § 48 Nrn. 44 und 53 sowie BSGE 66, 103, 109). Außerdem ist das Verhalten des Leistungsträgers im Geschehensablauf in die Betrachtung einzubeziehen. Mitwirkendes Fehlverhalten auf seiner Seite, das als eine atypische Behandlung i.S. einer Abweichung von der grundsätzlich zu erwartenden ordnungsgemäßen Sachbearbeitung zu werten ist, kann im Einzelfall die Atypik des verwirklichten Tatbestandes nach § 48 Abs. 1 SGB X ergeben (vgl. BSG Urteil vom 29.6.1994 - 1 RK 45/93 ; BSG SozR 1300 § 48 Nrn. 24 und 25).

So ist es hier der Fall. Eine Atypik ergibt sich daraus, dass in dem Haus der Beklagten zu einer untypischen Abweichung in der grundsätzlich ordnungsgemäßen Sachbearbeitung gekommen ist. Grundsätzlich sendet das für die Altersrente für Frauen zuständige Leistungsdezernat eine Mitteilung über die Rentenbewilligung an die Sachbearbeitung der Witwenrente und behält die Rentennachzahlung ein. Vorliegend wurde die Mitteilung über die Rentenbewilligung aber als "Einleger im Archiv" behandelt und die Rentennachzahlung wurde nicht eingehalten, was zu einem Verschulden der Beklagten führte. Dieses Verschulden hat die Beklagte als gleichwertig mit dem Verschulden der Klägerin, nämlich den Hinzutritt der eigenen Versichertenrente nicht anzuzeigen, gewertet und die Rückforderung um die Hälfte reduziert. Hierin sieht das Gericht keinen Ermessensfehler.

Auch die Erstattungsanordnung ist rechtens. Rechtsgrundlage dafür ist § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X, dessen tatbestandliche Voraussetzungen erfüllt sind. Ein Ermessen stand der Beklagten nicht zu.

Zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass die von der Klägerin 1995 bereits erstattete Witwenrente in Höhe von 4.416,61 EUR in keinem Zusammenhang mit dem vorliegenden Fall steht. Diese Rückzahlung hatte sich damals durch die Neuberechnung der Hinterbliebenenrente aufgrund einer Aufteilung der Zahlung an die frühere Ehefrau und die Klägerin ergeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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