L 1 U 1459/18 B

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Nordhausen (FST)
Aktenzeichen
S 10 U 424/18
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 1 U 1459/18 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
§ 73a Abs 1 S 1 SGG, § 103 SGG, § 114 Abs 1 S 1 ZPO, § 121 Abs. 3 ZPO, § 200 Abs. 2 SGB VII

Sozialgerichtliches Verfahren - Prozesskostenhilfe - Bewilligung bei hinreichender Erfolgsaussicht der Klage - Erforderlichkeit weiterer Ermittlungen von Amts wegen - hier: notwendige Begutachtung auf psychiatrischem Fachgebiet - Erforderlichkeit der Klärung medizinischer Fragestellungen durch einen Facharzt - Sachverständiger - persönliche Untersuchung - Verwertungsverbot - Mitarbeit Dritter - Datenschutzrecht


1. Zur Bewilligung von Prozesskostenhilfe bei Erforderlichkeit weiterer Amtsermittlungen durch das Sozialgericht (hier: notwendige Begutachtung auf psychiatrischem Fachgebiet und Klärung Verstoß gegen § 200 Abs. 2 SGB VII bei chirurgischer Begutachtung).


2. Weitere Ermittlungen von Amts wegen durch das Sozialgericht sind erforderlich, wenn der Sachverhalt zeigt, dass Erkrankungen im psychiatrischen Bereich nicht abwegig waren, und die Diagnose und Beurteilung dieser Beeinträchtigungen nicht durch einen Psychiater, sondern durch Psychologen erfolgte. Dem Vortrag des Klägers, der Verwaltungsgutachter habe ihn weder untersucht, noch sei er ihm persönlich begegnet, ist wegen eines möglichen Verstoßes gegen § 200 Abs. 2 Halbsatz 1 SGB VII nachzugehen.

3. Handelt es sich bei der Feststellung und Würdigung der Gesundheitsbeeinträchtigungen um eine medizinische Fragestellung, die (wie hier) durch einen Facharzt für Psychiatrie oder Psychosomatik zu klären ist, können Psychologen in solchen Fällen nur zur zusätzlichen oder erweiternden Einschätzung hinzugezogen werden (z.B. durch testpsychologische Zusatzgutachten), jedoch nicht anstelle des Facharztes die alleinige Würdigung und Beurteilung medizinischer Sachverhalte übernehmen.
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Nordhausen vom 30. Oktober 2018 aufgehoben und dem Kläger ratenfreie Prozesskostenhilfe ab dem 29. Juni 2018 bewilligt. Rechtsanwalt D. J., , Haus V., N. wird mit der Maßgabe beigeordnet, dass nur Kosten, die bei Beauftragung eines im Freistaat Thüringen ansässigen Rechtsanwaltes entstanden wären, erstattungsfähig sind.

Gründe:

I.

Der Kläger erlitt am 2. November 2015 einen Arbeitsunfall. Bei Schachtarbeiten fielen ihm Steine auf den Körper. Ausweislich des Durchgangsarztberichtes vom gleichen Tage wurden eine Basisfraktur des dritten und vierten Fingers rechts, eine Quetschverletzung derselben sowie eine Brustwirbelkörper- und eine Rippenserienfraktur diagnostiziert. Im Auftrag der Beklagten erstellte der Dipl.-Psychologe U. am 31. Mai 2017 ein Zusammenhangsgutachten im Hinblick auf psychische Gesundheitsstörungen. Er diagnostizierte als Unfallfolge eine vorübergehende Verschlimmerung einer Reaktion auf schwere Belastung. Die MdE bezifferte er mit 10 v. H. Des Weiteren erstellte der Chefarzt der Klinik für Unfallchirurgie Dr. G. am 9. Juni 2017 ein Erstes Rentengutachten. Er definierte Unfallfolgen im Bereich der rechten Hand und eine leicht vermehrte kypthotische Fehlhaltung im Bereich der Brustwirbelsäule. Die MdE wurde bis 2. November 2017 auf 20 v. H., bis 2. Januar 2018 und für die Zeit danach auf 15 v. H. eingeschätzt. Mit Bescheid vom 22. September 2017 gewährte die Beklagte dem Kläger unter Anerkennung diverser Unfallfolgen eine Rente als vorläufige Entschädigung nach einer MdE von 20 v. H. ab dem 1. Mai 2017. Der Widerspruch hiergegen blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 13. Februar 2018).

Mit seiner Klage begehrt der Kläger eine Rente nach einer MdE von mindestens 30 v.H. Die im Verwaltungsverfahren erstellten Gutachten könnten bereits aus formalen Mängeln nicht verwertet werden. Mit der Gutachtenerstellung seien Herr Dipl.-Psychologe U. und der Chefarzt der Klinik für Unfallchirurgie Dr. G. persönlich beauftragt worden. Die den Gutachten zugrunde liegenden Untersuchungen des Klägers seien jedoch abweichend hiervon nicht durch die Sachverständigen persönlich durchgeführt worden, sondern hinsichtlich des psychologischen Gutachtens durch einen nicht mit der Begutachtung beauftragten Dipl.-Psychologen Sch. und hinsichtlich des chirurgischen Gutachtens durch Frau Oberärztin Dr. D. Diese Vorgehensweise verstoße gegen § 407 a Abs. 3 der Zivilprozessordnung (ZPO). Der Verwertung der Gutachten wurde ausdrücklich widersprochen. Während des laufenden Klageverfahrens erstellte der Chefarzt Dr. G. am 27. April 2018 ein Zweites Rentengutachten und bezifferte die MdE auf Dauer mit 15 v. H. Dieses Gutachten war ebenso wie das Erste Rentengutachten zusätzlich von der Oberärztin Dr. D. unterschrieben. Dipl.-Psychologe U. erstellte am 26. Juni 2018 hinsichtlich der psychischen Gesundheitsstörungen ein weiteres Gutachten. Dieses Gutachten war ebenfalls von dem Dipl.-Psychologen Th. Sch. unterschrieben. Die MdE auf psychologischem Fachgebiet wurde mit 10 v. H. eingeschätzt. Dr. G. und Frau Dr. D. bezifferten in einer Stellungnahme vom 23. August 2018 die Gesamt-MdE auf 20 v.H. Daraufhin gewährte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 19. September 2018 Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von 20 v. H. Der Kläger teilte nach Vorlage dieses Bescheides und der weiteren Gutachten mit Schriftsatz vom 15. Oktober 2018 erneut mit, dass die Gutachten aus den bereits genannten formalen Gründen unverwertbar seien.

Mit Beschluss vom 30. Oktober 2018 hat das Sozialgericht den Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) abgelehnt. Die den Bescheiden der Beklagten zugrunde liegenden Gutachten von Dr. U. und Dr. G. seien sowohl im Verwaltungs- als auch im Ge-richtsverfahren verwertbar.

Hiergegen richtet sich die Beschwerde. Der Kläger trägt vor, dass medizinische Sachverständigengutachten nach § 106 SGG einzuholen seien. Die im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten von Dr. U. und Dr. G. seien zum einen nicht verwertbar und zum anderen auch sachlich unzutreffend. Hinsichtlich der Verwertbarkeit werde auf den bisherigen Vortrag verwiesen.

Der Kläger beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Nordhausen vom 30. Oktober 2018 aufzuheben und ihm Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt D. J., , N., zu bewilligen.

Die Beklagte hat sich im Beschwerdeverfahren nicht geäußert.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.

II.

Die Beschwerde ist begründet.

Nach § 73a des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint (Abs. 1 Satz 1).

Eine hinreichende Erfolgsaussicht besteht, wenn das Gericht nach vorläufiger Prüfung den Standpunkt des Antragstellers auf Grund der Sachverhaltsschilderung und der vorliegenden Unterlagen für zutreffend oder doch für vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist (vgl. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 73a Rn. 7a). Der Erfolg braucht nicht sicher zu sein, muss aber nach den bisherigen Umständen eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich haben. Ist ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte, ist der Antrag auf Gewährung von PKH abzulehnen (vgl. BSG, Beschluss vom 17. Februar 1998 - B 13 RJ 83/97 R; BVerfG, Beschluss vom 24. April 2012 - 1 BvR 2869/11, beide nach juris).

Nach dem sich aus der Gerichts- und Behördenakte sowie dem Vortrag des Beschwerdeführers ergebenden Sachstand ist bei summarischer Überprüfung ein Klageerfolg im Verfahren der ersten Instanz derzeit nicht ausgeschlossen, sondern erfordert weitere Ermittlungen des Sozialgerichts.

Jedenfalls ist im Rahmen der Amtsermittlung eine Begutachtung auf psychiatrischem Fachge-biet erforderlich. Die Beklagte hat in dem Bescheid vom 19. September 2018 (dieser ist nach § 96 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden) ebenso wie in dem Bescheid vom 22. September 2017 eine Unfallfolge auf psychiatrischem Fachgebiet (Anpassungsstörung aufgrund einer mangelnden Adaption an die Verletzungsfolgen) anerkannt. Dies beruht auf dem eingeholten Gutachten des Dipl.-Psychologen Dr. U. Dieser Sachverhalt zeigt, dass Erkrankungen im psychiatrischen Bereich vorliegen. Die Diagnose und Beurteilung dieser Beeinträchtigungen erfolgte nicht durch einen Psychiater, sondern durch einen Psychologen. Tat-sächlich handelt es sich aber bei der Feststellung und Würdigung der Gesundheitsbeeinträchtigungen um eine medizinische Fragestellung, die durch einen Facharzt für Psychiatrie oder Psychosomatik zu klären ist. Psychologen können in solchen Fällen nur zur zusätzlichen oder erweiternden Einschätzung hinzugezogen werden (z. B. durch testpsychologische Zusatzgutachten), jedoch nicht - wie hier geschehen - anstelle des Facharztes die alleinige Würdigung und Beurteilung medizinischer Sachverhalte übernehmen (vgl. Senatsbeschluss vom 13. Februar 2018 - L 1 U 216/17 B).

Des Weiteren ist vom Sozialgericht aufzuklären, ob der Vortrag des Klägers, der Verwaltungsgutachter Prof. Dr. G. habe ihn weder untersucht noch sei er ihm persönlich begegnet, zutreffend ist. Dies ist bereits deshalb entscheidungsrelevant, weil, sofern das Vorbringen des Klägers zutrifft, also Prof. Dr. G. keinerlei Kontakt mit ihm hatte, das Verwaltungsgutachten gegen § 200 Abs. 2 Halbsatz 1 SGB VII verstieße und unter einem Verfahrensfehler leiden würde. Es spricht alles dafür, dass dieser Verfahrensfehler rechtzeitig gerügt worden ist. Zwar folgt daraus nicht zwingend ein Beweisverwertungsverbot dieses Verwaltungsgutachtens, dieser Punkt wäre aber eingehend zu erörtern. Des Weiteren hat das Sozialgericht entsprechend der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts weiter zu überprüfen, ob aufgrund der Mitarbeit der Oberärztin Dr. D. bei der Gutachtenserstellung ein Verstoß gegen datenschutzrechtliche Normen mit der Folge eines Verwertungsverbots resultieren könnte (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 7. Mai 2019 - B 2 U 25/17 R, zitiert nach Juris).

Nachdem weitere Ermittlungen von Amts wegen notwendig sind, kann eine Erfolgsaussicht nicht verneint und damit die Bewilligung von PKH nicht abgelehnt werden (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 73a Rn. 7a).

Die Bewilligung der PKH kommt allerdings erst ab dem 29. Juni 2018 in Betracht, weil erst dann eine vollständige PKH-Erklärung zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nebst Nachweisen zur Akte gereicht worden ist und Bewilligungsreife vorgelegen hat.

Nach §§ 73a Abs. 1 S. 1 SGG, 121 Abs. 3 ZPO kann ein nicht in dem Bezirk des Prozessgerichts niedergelassener Rechtsanwalt nur beigeordnet werden, wenn dadurch weitere Kosten nicht entstehen. Die Vorschrift des § 121 Abs. 3 ZPO soll sicherstellen, dass ein Prozesskostenhilfeberechtigter nicht besser gestellt wird als ein kostenbewusster und vernünftiger Prozessbeteiligter, der seine Prozesskosten selbst tragen muss. Daher ist eine Beschränkung der Beiordnung auf die für einen im Bezirk des Prozessgerichts ansässigen Rechtsanwalt geltenden Bedingungen zur Vermeidung entbehrlicher Reisekosten grundsätzlich möglich.

Die Entscheidung ist nach § 177 SGG nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar.
Rechtskraft
Aus
Saved