L 4 B 61/04 SB

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 7 B 15/04 SB
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 B 61/04 SB
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Fordert eine Verwaltungsbehörde (hier: Versorgungsamt) wiederholt einen auskunftspflichtigen Zeugen (hier: Einen Arzt im Schwerbehindertenverfahren nach SGB IX) erfolglos zur Abgabe seiner Erklärungen (hier: Befundberichte) auf, so bedarf es zur Feststellung dessen grundloser und nachhaltiger Aussageverweigerung nicht auch noch des Nachweises einer erfolglosen Vorladung zur Vernehmung durch die Behörde als Zulässigkeitsvoraussetzung des Vernehmungsersuchens an das Sozialgericht (Distanzierung von LSG Baden-Württemberg, 08.04.2003 - L 6 SB 552/03 B).
Es ist in diesen Fällen der Verwaltungsbehörde kein Ermessensfehlgebrauch vorzuwerfen, wenn sie die Sozialgerichte um die Vernehmung des aussagepflichtigen Zeugen ersucht. Dies kann im Hinblick darauf, daß nur ein Richter und nicht die Behörde selbst Zwangsmittel zur Erzwingung der Aussage des Zeugen einsetzen kann, geboten sein.
Auf die Beschwerde des Beschwerdeführers wird der Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden vom 19. April 2004 (S 7 SB 529/04 V) mit der Maßgabe aufgehoben, daß das Sozialgericht Wiesbaden verpflichtet ist, dem Vernehmungsersuchen des Beschwerdeführers nachzukommen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.

Zu entscheiden ist, ob das Sozialgericht Wiesbaden (SG) das Vernehmungsersuchen des Beschwerdeführers (Bf.) bezüglich des Hausarztes Dr. A. (Dr. M.) des Antragstellers im Schwerbehindertenverfahren B. (Ast.) ablehnen durfte.

Mit dem Schreiben vom 8. Mai 2003 forderte der Bf. Dr. M. auf, zu den vom Ast. angegebenen Gesundheitsstörungen einen Befundbericht abzugeben. Darin hieß es u. a.: "Unter Hinweis auf die Verpflichtung gemäß § 12 Abs. 2 des Verfahrensgesetzes-Kriegsopferversorgung und des § 100 Abs. 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) werden sie gebeten, ihre Krankenpapiere und sonstigen Untersuchungsunterlagen dem Ärztlichen Dienst des HAVS zur Einsicht zu überlassen. Nach § 100 Abs. 1 SGB X ist der Arzt verpflichtet, dem HAVS im Einzelfall auf Verlangen Auskunft zu erteilen, soweit es für die Durchführung von dessen Aufgaben nach dem Sozialgesetzbuch erforderlich ist und der Betroffene im Einzelfall eingewilligt hat". Unter dem 25. Juni 2003 erinnerte der Bf. Dr. M. daran. Nachdem auch dies erfolglos war, erging an Dr. M. unter dem 4. August 2003 eine erneute Aufforderung mit Fristsetzung zum 1. September 2003. Dazu hieß es weiter, daß er bei Nichteinhaltung dieser Frist gehalten sei, "bei dem zuständigen Gericht die richterliche Vernehmung gemäß § 22 SGB X zu veranlassen und die Ärztekammer von dieser Maßnahme zu unterrichten". Da auch diese Aufforderung unbeantwortet blieb, erinnerte der Bf. erneut mit Schreiben vom 9. September 2003 mit dem Hinweis, daß Dr. M. nach § 100 Abs. 1 SGB X zur Abgabe des Befundberichtes verpflichtet sei. Nachdem hierauf Dr. M. ebenfalls nicht reagiert hatte, ersuchte der Bf. das SG mit dem am 3. März 2004 eingegangene Schreiben vom 23. Februar 2004 Dr. M. zu vernehmen. Dieses Vernehmungsersuchen wies das SG unter Hinweis auf die Entscheidung des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 8. April 2003 (Az.: L 6 SB 552/03 B) zurück. Es hat dazu ausgeführt: Eine Aussageverweigerung des Dr. M. liege nur dann vor, wenn der Zeuge seiner Verpflichtung nicht nachkomme, gegenüber der Behörde in einer mündlichen Vernehmung, zu der er ordnungsgemäß geladen worden sei, Auskunft zu geben. Eine solche Aussageverweigerung liege bei Dr. M. nicht vor, da er bisher nicht zur mündlichen Vernehmung geladen worden sei. Die Verletzung der Pflicht zur Erstattung einer schriftlichen Auskunft stelle keine Aussageverweigerung dar.

Gegen diesen am 26. April 2004 zugestellten Beschluss hat der Bf. bei dem SG am 25. Mai 2004 Beschwerde eingelegt, der das SG am 26. Mai 2004 nicht abgeholfen hat. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten des Bf. und der Streitakten verwiesen.

II.

Die zulässige Beschwerde (§§ 172 Abs. 1, 173, 174 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) ist begründet. Entgegen der Auffassung des SG war dieses verpflichtet, dem Vernehmungsersuchen des Bf. zu entsprechen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen dazu erfüllt sind (§§ 21 Abs. 3, 22 Abs. 1, 100 SGB X). Es liegt mit dem Vernehmungsersuchen des Bf. an das SG auch kein Ermessensfehlgebrauch durch diesen vor, wie in den Fällen der vorliegenden Art der erkennende Senat bereits durch Beschluss vom 25. Oktober 2001 (Az.: L 4 B 86/01 RH) entschieden hat. Auf diesen Beschluss wird vollinhaltlich Bezug genommen.

Nach § 22 Abs. 1 SGB X kann die Behörde das für den Wohnsitz des Zeugen zuständige Sozialgericht um die Vernehmung ersuchen, wenn dieser ohne Vorliegen eines der in der Zivilprozeßordnung (ZPO) bezeichneten Gründe die Aussage verweigert, zu der er nach § 21 Abs. 3 SGB X verpflichtet ist. Diese gesetzliche Pflicht des Dr. M. folgt aus § 100 Abs. 1 SGB X.

Entgegen der Ansicht des SG, das sich an die Entscheidung des Landessozialgerichts Baden-Württemberg (a. a. O.) anlehnt, verweigert Dr. M. seine Aussage und Befundberichterstattung. Dies steht aufgrund des Akteninhaltes zur freien Überzeugung des Senats (§ 128 Abs. 1 SGG) fest. Dr. M. hat die Auskunftsersuchen des Bf. vom 8. Mai 2003, 25. Juni 2003, 4. August 2003 und 9. September 2003, in denen auf die rechtlichen Bestimmungen zur Auskunftspflicht hingewiesen ist, die Auskunft verweigert, ohne daß ihm rechtfertigende Gründe zur Seite standen und stehen. Der Ast. hat gegenüber dem Bf. seine Einwilligungserklärung zur Einholung von Auskünften, Befundberichten und zur Abgabe einer Beurteilung zu seinen Gesundheitsstörungen nach den §§ 67, 100 SGB X gegeben, so daß mit dieser Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht kein Zeugnisverweigerungsrecht (§ 22 Abs. 1 SGB X i. V. m. § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO) gegeben ist.

Entgegen der Auffassung des SG und auch des Landessozialgerichts Baden-Württemberg liegt die (unberechtigte) Verweigerung der Aussage eines Zeugen nicht erst dann vor, wenn er von der Behörde als geladener Zeuge die Aussage verweigert, sei es auch, daß er erst gar nicht zur Vernehmung erscheint oder dies bei der beabsichtigten Vernehmung erklärt. Eine Verweigerung der Aussage ist bereits dann gegeben, wenn der aussagepflichtige Zeuge der Aufforderung zur schriftlichen Bekundung nachhaltig nicht Folge leistet und dieses Verhalten als Aussageverweigerung zu verstehen ist. So ist es hier. Dr. M. wurde mehrfach unter Hinweis auf seine Bekundungspflichten in den Schreiben vom 8. Mai 2003, 25. Juni 2003, 4. August 2003 und 9. September 2003 hingewiesen. Er hat diese Aufforderungen einfach ignoriert. Selbst der Hinweis des Bf. an Dr. M. darauf, daß nach Rücksprache mit der Ärztekammer die Auskunftsverweigerung nicht mit der Berufsordnung für Ärzte vereinbar und er gehalten sei, dieses Verhalten dort anzuzeigen, veranlaßte Dr. M. nicht, seinen rechtlichen Verpflichtungen nachzukommen. Damit steht eine nachhaltige unberechtigte Auskunftsverweigerung von Dr. M. fest. In einer solchen Situation bedarf es entgegen der Auffassung des SG und des Landessozialgerichts Baden-Württemberg zur Feststellung der unberechtigten Aussageverweigerung nicht noch zusätzlich der Vorladung des Zeugen zur Behörde zwecks Vernehmung. Dies würde eine formalistische Überspitzung an die Anforderungen eines Vernehmungsersuchens einer Behörde an das SG bedeuten. Das gilt vor allem vor dem Hintergrund, wenn aus dem bisherigen Verhalten des auskunftspflichtigen Zeugen erkennbar ist, daß er auch einer Vorladung der Behörde zur Vernehmung nicht Folge leisten wird, wie es hier nach Überzeugung des Senates der Fall ist. Die überzogenen Anforderungen des SG und Landessozialgerichts Baden-Württemberg an ein Vernehmungsersuchen halten dem nicht stand. Unbeachtet ist geblieben, daß die Behörde zur Vorladung und Vernehmung eines auskunftspflichtigen Zeugen keine Zwangsmittel einsetzen kann. Dies ist allein den Gerichten vorbehalten. Inwieweit nicht unberücksichtigt bleiben könne, daß die Regelungen des § 22 Abs. 1 und 2 SGB X den Grundsatz der Gewaltenteilung zwar nicht verletze (so: BVerfGE 7, 183, 188 f.), aber jedenfalls tangiere, indem ein Gericht durch die Verpflichtung zur Amtshilfe in den Vollzug von Aufgaben der Exekutive eingebunden werde und dies eine restriktive Auslegung rechtfertige, ist nicht nachzuvollziehen, zumal die zwangsweise Durchsetzung einer Vernehmung mit freiheitsentziehenden Maßnahmen verbunden sein kann, über die grundsätzlich ein Richter zu entscheiden hat (Art. 104 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland). Behörden und Gerichte sind an Recht und Gesetz gebunden. Das bedeutet, daß auch die Gerichte im Wege der Amtshilfe beim Vorliegen der rechtlichen Voraussetzung - wie hier - Vernehmungsersuchen nachkommen müssen. Dies gilt nur dann nicht, wenn der Behörde ein Ermessensfehlgebrauch (vgl. HLSG a. a. O.) in der Wahl der Mittel nachzuweisen wäre. Das ist hier nicht der Fall.

Der (möglicherweise nicht tragende) Hinweis im Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg, daß auf die Gerichte rechtsmißbräuchlich Verwaltungsarbeit verlagert werden könnte, greift nicht durch und schon gar nicht in den Fällen der vorliegenden Art. Die gesetzlichen Regelungen, die das BVerfG (a. a. O.) für verfassungskonform erklärt hat, geben keinen Anlaß zur rechtsmißbräuchlichen Anwendung, wie der vorliegende Fall zeigt. Der Bf. nimmt bisher die Gerichte nur bei nachhaltigen unberechtigten Auskunftsverweigerungen verpflichteter Personen in Anspruch. Deshalb ist diese Besorgnis unberechtigt. Im Einzelfall hat im übrigen darüber das ersuchte Gericht zu entscheiden. Im übrigen: Auf eine mögliche Überlastung der Gerichte durch eine rechtskonforme Rechtsanwendung haben nicht die Gerichte durch Verweigerung des geltenden Rechtes, sondern beim Eintritt eines solchen Falles die Gerichtsverwaltungen und die Gesetzgeber zu handeln.

Nach alledem ergibt sich aufgrund der Gesetzeslage keine Verpflichtung des Bf., über die bisher erfolglosen Auskunftsersuchen hinaus, auch noch die Vorladung des Dr. M. zwecks Aussage zu verlangen, um so "endgültig" dessen Weigerung dokumentieren zu müssen. Daß insoweit der Bf. ermessensfehlerfrei handelt, hat der Senat bereits in seinem Beschluss vom 25. Oktober 2001 (a. a. O.) zu einem ähnlichen Fall dargestellt.

Diese Entscheidung kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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