L 5 AS 412/19

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 6 AS 2695/17
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 5 AS 412/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 10. April 2019 wird aufgehoben und die Sache wird an das Sozialgericht Magdeburg zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Kläger wenden sich gegen Aufhebungs- und Erstattungsbescheide des Beklagten. Sie haben Berufung erhoben, nachdem das Sozialgericht (SG) durch Urteil festgestellt hatte, dass ihre Klage als zurückgenommen gelte.

Die Kläger bezogen als Bedarfsgemeinschaft Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (Grundsicherung für Arbeitsuchende – SGB II) vom Beklagten. Mit zwei Bescheiden vom 13. März 2017 hob der Beklagte die Leistungsbewilligung für die Zeit von September 2016 bis Januar 2017 teilweise auf und machte gegen beide Kläger jeweils eine Erstattungsforderung in Höhe von 755,93 EUR geltend, weil der Kläger aufgrund einer Erwerbstätigkeit anrechenbares Einkommen erzielt habe.

Zur Begründung ihres dagegen gerichteten Widerspruchs beriefen die Kläger sich auf Vertrauensschutz. Die ggf. zuviel erhaltenen Leistungen hätten sie bereits für den allgemeinen Lebensunterhalt verbraucht. Diesen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 24. August 2017 als unbegründet zurück.

Dagegen haben die Kläger am 12. September 2017 beim SG Magdeburg Klage erhoben. Nachdem mehrere Aufforderungen des Gerichts, die Klage zu begründen, erfolglos geblieben waren, hat die Kammervorsitzende am 19. Juni 2018 verfügt, dem Prozessbevollmächtigten der Kläger eine Betreibensaufforderung in Form eines beglaubigten Schreibens zuzustellen. Die elektronisch erstellte Verfügung hat mit der Wiedergabe des vollen Namens und der Dienstbezeichnung der Vorsitzenden sowie dem elektronisch generierten Abschlussvermerk: "Diese eVerfügung wurde von Frau I., Richterin am Sozialgericht, am 19.06.2018 um 10:52 Uhr auch ohne Unterschrift als verbindlich erklärt. Sie ist von der Geschäftsstelle auszudrucken und zur Akte zu nehmen" geendet. Die Betreibensaufforderung ist dem Prozessbevollmächtigten der Kläger am 21. Juni 2018 zugestellt worden. Die Kläger haben darauf nicht reagiert. Deshalb hat das SG ihnen mit Schreiben vom 19. Oktober 2018 mitgeteilt, dass ihre Klage als zurückgenommen gelte. Dem haben die Kläger widersprochen und eine "Wiederaufnahme/Fortsetzung des Verfahrens" beantragt.

Mit Urteil vom 10. April 2019 hat das SG festgestellt, dass der Rechtsstreit durch Klagerücknahme beendet worden sei. Zur Begründung hat es auf seine Aufforderungen, die Klage zu begründen, und auf die Betreibensaufforderung verwiesen. Vor diesem Hintergrund habe es davon ausgehen können, dass kein Rechtsschutzbedürfnis mehr bestehe. Das Urteil ist den Klägern am 29. April 2019 zugestellt worden.

Gegen das Urteil haben die Kläger zunächst – der Rechtsmittelbelehrung des SG folgend – Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt. Diese haben sie damit begründet, dass keine Pflicht bestehe, eine Klage zu begründen. Nachdem der Berichterstatter sie darauf hingewiesen hatte, dass eine Erstattungsforderung in Höhe von 1.511,86 EUR im Streit stehe und deshalb die Berufung statthaft sei, haben die Kläger am 11. Juli 2019 die Nichtzulassungsbeschwerde zurückgenommen und Berufung eingelegt. Diese haben sie trotz wiederholter Aufforderung durch den Berichterstatter nicht begründet. Sie haben sich lediglich gegen eine Zurückverweisung der Sache an das SG ausgesprochen.

Konkrete Anträge haben die Beteiligten nicht formuliert.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Der Senat hat die Prozessakte des SG und die Verwaltungsakte des Beklagten beigezogen.

Entscheidungsgründe:

1.

Der Senat kann gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben.

2.

Die Berufung ist zulässig. Sie ist insbesondere statthaft. Insoweit kann dahinstehen, ob auch in Fällen, in denen das SG vom Eintritt der Klagerücknahmefiktion gemäß § 102 Abs. 2 SGG ausgegangen ist, die Berufungsbeschränkung des § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG zur Anwendung kommt (zum Streitstand siehe Burkiczak, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2017, § 102 Rn. 99 m.w.N.). Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind jedenfalls erfüllt, weil Leistungen von mehr als 750 EUR im Streit stehen.

Die Berufung ist auch fristgerecht erhoben worden. Die Monatsfrist des § 151 Abs. 1 SGG kommt nicht zur Anwendung, weil das angegriffene Urteil fälschlich auf die Nichtzulassungsbeschwerde und nicht auf die Berufung als statthaftes Rechtsmittel verwiesen hat (§ 66 Abs. 2 SGG). Insoweit kann offen bleiben, ob dies zur Anwendung der Jahresfrist oder zum völligen Wegfall der Berufungsfrist führt (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 66 Rn. 13d m.w.N.), weil die Jahresfrist gewahrt wäre.

3.

Die Berufung ist auch im Sinne einer Zurückverweisung der Sache an das SG begründet.

a.

Die Voraussetzungen der Klagerücknahmefiktion gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG lagen nicht vor. Nach dieser Vorschrift gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt.

aa.

Es kann dahinstehen, ob die Verfügung und das gerichtliche Schreiben vom 19. Juni 2018 die formalen Voraussetzungen an eine Betreibensaufforderung im Sinne des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG erfüllt haben. Nach Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) muss eine Betreibensaufforderung, wenn sie Wirkungen für die Beteiligten erzeugen soll, vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet werden; ein den Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt nicht (vgl. BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 – B 13 R 58/09 R –, juris Rn. 49; Urteil vom 4. April 2017 – B 4 AS 2/16 R –, juris Rn. 24).

Es ist fraglich, ob die Verfügung der Kammervorsitzenden vom 19. Juni 2018 diesen Anforderungen genügt. Dafür lässt sich zwar anführen, dass das auf diese Verfügung hin von der Geschäftsstelle gefertigte und an den Bevollmächtigten der Kläger zugestellte Schreiben – soweit sich aus der Akte erkennen lässt – die Vorsitzende als Verfasserin ausgewiesen und deren vollständigen Namen wiedergegeben hat. Allerdings begründet das BSG das über eine bloße Paraphe hinausgehende Unterschriftserfordernis auch damit, dass erst die volle Unterschrift des Richters unter seine Verfügung deutlich mache, dass es sich bei dem unterzeichneten Text nicht lediglich um einen Entwurf handelt und dass der Unterzeichnende nicht von einer Routine-Verfügung ausgeht (vgl. BSG, Urteil vom 1. Juli 2010, a.a.O.). Der von der Kammervorsitzenden elektronisch generierte Abschluss ihrer Verfügung ist jedoch eher mit einer Paraphe als mit einer Unterschrift zu vergleichen. Insbesondere stellt er keine qualifizierte elektronische Signatur dar, die gemäß § 65a Abs. 7 Satz 1 SGG eine handschriftliche Unterzeichnung ersetzt. Es handelt sich vielmehr um eine im Aktenbearbeitungsprogramm des Gerichts vorgesehene und bei jeder Art von Verfügung zu nutzende Möglichkeit, eine Verfügung abzuschließen und für verbindlich zu erklären. Damit fehlt es aber an dem über eine Paraphe hinausgehenden Element einer Unterschrift, die deutlich machen soll, dass mehr als eine bloße Routine-Verfügung vorliegt.

bb.

Unabhängig davon fehlt es jedenfalls an den materiellen Voraussetzungen des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG. Mit Blick auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) setzt die Anwendung dieser Vorschrift voraus, dass bereits zum Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung unter Würdigung der Umstände des Einzelfalls sachlich begründete Anhaltspunkte vorliegen, die den sicheren Schluss zulassen, dass einem Beteiligten an einer Sachentscheidung des Gerichts nicht mehr gelegen ist (vgl. BSG, Urteil vom 4. April 2017, a.a.O., Rn. 22, 27; Beschluss vom 28. November 2019 – B 7 AY 2/18 B –, juris Rn. 8). Ein solcher Wegfall des Rechtsschutzinteresses kann noch nicht allein aus dem Umstand gefolgert werden, dass ein Kläger seine Klage – ggf. trotz gerichtlicher Aufforderung – nicht begründet hat. Dies folgt schon daraus, dass das SGG eine Klagebegründung nicht zwingend vorschreibt; § 92 Abs. 1 Satz 4 SGG enthält insoweit vielmehr lediglich eine Soll-Regelung (vgl. Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 26. September 2011 – L 13 SB 126/11 B PKH –, juris Rn. 9; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17. April 2013 – L 5 KR 605/12 –, juris Rn. 33; Thüringer LSG, Urteil vom 1. Oktober 2019 – L 6 KR 1156/18 –, juris Rn. 17; LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 22. Oktober 2019 – L 10 AS 361/19 –, juris Rn. 33).

Das bedeutet nicht, dass das Fehlen einer Klagebegründung im Rahmen des § 102 Abs. 2 SGG völlig unbeachtlich wäre. Vielmehr kann es in der Zusammenschau mit den weiteren konkreten Umständen des Einzelfalls auf einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses hindeuten (vgl. Burkiczak, a.a.O., Rn. 63 ff.). Dies gilt z.B. dann, wenn sich mangels Klagebegründung nicht feststellen lässt, was überhaupt Klagegegenstand sein soll (vgl. BSG, Urteil vom 4. April 2017, a.a.O., Rn. 29) oder weshalb die Überprüfung des angegriffenen Bescheids begehrt wird (vgl. BSG, Urteil vom 1. Juli 2010, a.a.O., Rn. 47). Ein Indiz für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses kann auch sein, dass die Begründung einer zunächst nur fristwahrend erhobenen Klage ausdrücklich angekündigt worden war, der Kläger dann aber über einen längeren Zeitraum und trotz gerichtlicher Erinnerungen weder die Klagebegründung vorlegt noch sich zum Fortgang des Verfahrens äußert (in diesem Sinne bereits Beschluss des Senats vom 15. Oktober 2019 – L 5 AS 311/19, L 5 AS 312/19 B –, n.v.; vgl. auch Thüringer LSG, a.a.O., Rn. 17; Burkiczak, a.a.O., Rn. 65; a.A.: LSG Mecklenburg-Vorpommern, a.a.O., Rn. 31).

Vorliegend fehlt es jedoch an solchen weiteren Umständen, die es rechtfertigen würden, einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses der Kläger anzunehmen. In der Klageschrift haben die Kläger die angegriffenen Bescheide unter Nennung der Daten und Aktenzeichen konkret benannt. Da es sich dabei um ausschließlich belastende Entscheidungen, nämlich Aufhebungs- und Erstattungsbescheide handelte, konnte auch kein Zweifel am Klageziel bestehen. Hinzu kommt, dass die Kläger ihr Vorgehen gegen diese Bescheide bereits im Widerspruchsverfahren begründet hatten. Es deutet nichts darauf hin, dass ihr Hinweis auf Vertrauensschutz nicht auch noch im Klageverfahren gelten sollte. Auch sonst liegen neben der fehlenden Klagebegründung keine weiteren Umstände vor, die auf einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses deuten würden.

b.

Der Senat verweist die Sache gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG an das SG zurück.

aa.

Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift ist eröffnet (vgl. bereits Urteil des Senats vom 16. Juni 2010 – L 5 AS 217/10 –, juris Rn. 20; ebenso: LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22. Mai 2019 – L 12 SO 641/18 –, juris Rn. 25 m.w.N.). Es liegt kein bloßer Zwischenrechtsstreit über den Eintritt der Klagerücknahmefiktion vor. Das Klageverfahren ist vielmehr mit der Berufung der Kläger in vollem Umfang in der Berufungsinstanz angefallen. Deshalb würde die bloße Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils ohne den zusätzlichen Ausspruch der Zurückverweisung nicht dazu führen, dass der Rechtsstreit vor dem SG fortzusetzen wäre (a.A.: LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 30. August 2012 – L 2 AS 132/12 –, juris; Urteil vom 21. April 2015 – L 7 SB 105/13 –, juris Rn. 23; Sächsisches LSG, Urteil vom 28. Februar 2013 – L 7 AS 523/09 –, juris Rn. 27 m.w.N.; ebenso noch das Urteil des Senats vom 17. Juli 2014 – L 5 AS 586/13 –, juris Rn. 31).

Wenn ein Kläger die Wirksamkeit einer vom Gericht angenommenen Klagerücknahme bestreitet, ist der ursprüngliche Rechtsstreit fortzusetzen (vgl. BSG, Urteil vom 14. Juni 1978 – 9/10 RV 31/77 –, juris Rn. 14). Das bedeutet: Es ist weiterhin über den ursprünglichen Sachantrag des Klägers zu entscheiden. Wenn das Gericht in seinem Urteil feststellt, dass die Klage wirksam zurückgenommen worden sei, verneint es damit das Vorliegen der Sachentscheidungsvoraussetzungen (vgl. W.-R. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 25. Auflage 2019, § 92 Rn. 29). Damit fällt es kein Zwischen-, sondern ein Endurteil. Dies folgt schon daraus, dass nach der Feststellung, der Rechtsstreit sei erledigt, kein Raum mehr für ein weiteres (End-)Urteil ist. Vielmehr ist die Instanz mit diesem Urteil abgeschlossen. Insoweit ist die Situation vergleichbar mit dem Streit über die Wirksamkeit eines verfahrensbeendenden Prozessvergleichs. Auch hier ist anerkannt, dass es sich bei dem Urteil, das die Erledigung des Rechtsstreits durch einen wirksamen Vergleich feststellt, um ein Endurteil handelt (vgl. Bundesgerichtshof (BGH), Beschluss vom 18. September 1996 – VIII ZB 28/96 –, juris Rn. 7 ff.; Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschluss vom 11. Dezember 2007 – 2 B 86/07 –, juris Rn. 14). Auch hier fällt bei einer Berufung gegen die Feststellung, das Klageverfahren sei erledigt, der Rechtsstreit in vollem Umfang in der Berufungsinstanz an (vgl. BVerwG, a.a.O., Rn. 15).

bb.

Im Rahmen seines nach § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG auszuübenden Ermessens hält der Senat eine Zurückverweisung der Sache an das SG für sachgerecht. Dem – von den Klägern ausdrücklich bekundeten – Interesse an einer zügigen Erledigung des Rechtsstreits steht insbesondere gegenüber, dass den Beteiligten damit eine Tatsacheninstanz vorenthalten bliebe. Insoweit ist vorliegend zu berücksichtigen, dass der Streitstoff wegen der fehlenden Mitwirkung der Kläger bisher noch in keiner Weise aufbereitet worden ist. Deshalb erscheint es sachgerecht, dass zunächst das SG die entscheidungserheblichen Tatsachen ermittelt und rechtlich bewertet.

4.

Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des SG vorbehalten (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, a.a.O., § 159 Rn. 5f).

5.

Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved