S 27 SO 485/19 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Köln (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
27
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 27 SO 485/19 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 SO 1/20 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Antragsgegnerin wird im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet, der Antragstellerin ab Antragstellung bis Ende Dezember 2019 vorläufig nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch 12. Teil – SGB XII – in Höhe des Regelbedarfs abzüglich 120,00 Euro monatlich sowie Hilfe bei Krankheit zu gewähren. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt. Die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin trägt die Antragsgegnerin zu 3/4.

Gründe:

Der Antrag, mit dem die Antragstellerin nach dem schriftsätzlich formulierten Antrag sinngemäß begehrt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr einstweilen Leistungen nach dem SGB XII einschließlich Krankenversicherungsschutz nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren, hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.

Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG – kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, das heißt des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, das heißt die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Der geltend gemachte Hilfeanspruch (Anordnungsanspruch) und die besonderen Gründe für die Notwendigkeit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund), die Eilbedürftigkeit, sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO –). Die Glaubhaftmachung bezieht sich auf die reduzierte Prüfungsdich-te und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes im summarischen Verfahren (vergl. LSG NRW, Beschluss vom 04.03.2005, Az. L B 2/05 SO ER m. w. N.). Die Entscheidung des Gerichts darf schließlich grundsätzlich die endgültige Entscheidung nicht vorwegnehmen (vergl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, 12. Auflage, Rn. 31 zu § 86b). Ist eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden, bei der auch die grundrechtlichen Belange des Antragstellers angemessen zu berücksichtigen sind (vergl. LSG NRW, Beschluss vom 08.02.2006, L 20 B 70/05 SO ER).

Die vorzunehmende Folgenabwägung führt nach Auffassung der Kammer dazu, dass der Antragstellerin einstweilige Leistungen in dem tenorierten Umfang zu gewähren sind. Im Rahmen der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren vorzunehmenden summarischen Prüfung kann nicht hinreichend sicher davon ausgegangen werden, dass die Antragstellerin eingereist ist, um Sozialhilfe zu erlangen. Ein Leistungsausschluss ergibt sich nach Auffassung der Kammer daher vorliegend nicht bereits aus § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 SGB XII. Die im Jahre 1952 geborene Antragstellerin, die italienische Staatsange-hörige ist, hält sich seit März 2019 in Deutschland auf. Zwar hat ihr Sohn nach Aktenlage bereits kurz nach der Einreise bei der Antragsgegnerin angefragt, ob für die Antragstellerin Leistungsansprüche nach dem SGB XII bestehen. Andererseits muss die Inanspruchnahme von Sozialhilfe ein prägendes Motiv für die Einreise gewesen sein. Zwischen dem Einreiseentschluss und der Inanspruchnahme von Sozialhilfe muss ein finaler Zusammenhang bestehen. Eine billigende Inkaufnahme oder ein fahrlässiges Verhalten reichen nicht aus (Grube/Wahrendorf, SGB XII, 6. Auflage, Rn. 60 zu § 23 SGB XII). Vorliegend hat die Antragstellerin angegeben, sie sei verwitwet sowie gesundheitlich erheblich eingeschränkt und nicht mehr in der Lage gewesen, ihr Leben in Italien alleine zu bewältigen. Aus diesem Grunde habe sie ihren Wohnsitz nach Pulheim zu einem ihrer Söhne verlegt. Ihre drei Söhne lebten in Pulheim und Umgebung. Dass die Inanspruchnahme von Sozialhilfe prägendes Motiv für die Einreise gewesen ist, kann unter Berücksichtigung dieser Angaben nicht ohne weiteres unterstellt werden. Die in-soweit erforderliche Aufklärung der gesundheitlichen und familiären Verhältnisse der Antragstellerin muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.

Bei summarischer Prüfung sind die Voraussetzungen für einen Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII auch im Übrigen nicht erfüllt. Geltend gemacht wird von der Antragstellerin, sie sei als Familienangehörige nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 Freizügigkeitsgesetz/EU – FreizügG/EU – freizügigkeitsberechtigt. Nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU sind Familienangehörige unter den Voraussetzungen der §§ 3 und 4 FreizügG/EU frei-zügigkeitsberechtigt. Nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU sind Familienangehörige die Verwandten in gerader aufsteigender und in gerader absteigender Linie der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 und 7 genannten Personen oder ihrer Ehegatten oder Lebenspartner, denen diese Personen oder ihre Ehegatten oder Lebenspartner Unterhalt gewähren. Eine Unterhaltsgewährung liegt vor, wenn dem Verwandten tatsächlich Leistungen zukommen, die vom Ansatz her als Mittel der Bestreitung des Lebensunterhalts angesehen werden können. Dazu gehört eine fortgesetzte regelmäßige Unterstützung in einem Umfang, der es ermöglicht, zumindest einen Teil des Lebensunterhalts regelmäßig zu decken. Maß-stab ist dabei das Lebenshaltungsniveau in dem EU-Mitgliedstaat, in dem sich der Familienangehörige ständig aufhält (vergl. Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Auflage, Anm. 3.2.2.1 zu § 3 FreizügG/EU). Vorliegend wohnt die Antragstellerin bei einem ihrer Söhne. Die Unterkunft wird ihr kostenfrei zur Verfügung gestellt. Zudem unterstützen die drei Söhne der Antragstellerin ihre Mutter nach ihren Angaben dadurch, dass sie ihr monatlich einen Betrag von circa 120,00 Euro zur Verfügung stellen. Alle drei Söhne sind in Deutschland erwerbstätig und beziehen mit ihren Familien nach ihren weiteren Angaben selbst keine Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch 2. Teil – SGB II –. Entgeltabrechnungen wurden vorgelegt. Dass rechnerisch ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II bestehen könnte, ist vor dem Hintergrund, dass entsprechende Leistungen tatsächlich nicht bezogen werden, nach Auffassung der Kammer nicht maßgeblich. Ins-gesamt ist es hinreichend glaubhaft gemacht, dass die Söhne der Antragstellerin im Sin-ne des § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU ausreichende Unterhaltsleistungen erbringen, so dass die Antragstellerin jedenfalls bei summarischer Prüfung hieraus ein entsprechen-des Freizügigkeitsrecht ableiten kann.

Ein Anordnungsgrund folgt aus dem existenzsichernden Charakter der beanspruchten Leistungen. Die von den Söhnen erbrachten und zu erbringenden Unterhaltsleistungen reduzieren den Bedarf der Antragstellerin. Bei den Regelleistungen ist daher ein Betrag von 120,00 Euro monatlich in Abzug zu bringen. Dass die Antragstellerin aufgrund einer in Italien bestehenden Versicherung aktuell in Deutschland Krankenversicherungsschutz genießt, ist nicht ersichtlich. Auch insoweit muss eine abschließende Klärung gegebenenfalls dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.

Nach der Rechtsprechung des 20. Senats des LSG NRW (Beschluss vom 26.10.2006, Az. L 20 B 54/06 AY ER), der sich die Kammer aufgrund eigener Überzeugungsbildung anschließt, ist im einstweiligen Verfahren regelmäßig lediglich eine Verpflichtung bis zum Ende des Monats der gerichtlichen Entscheidung auszusprechen. Die Verpflichtung der Antragsgegnerin erfolgt daher bis Ende Dezember 2019. Während dieser Zeit sind von der Antragsgegnerin nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen Leistungen in Höhe des maßgeblichen Regelbedarfs abzüglich 120,00 Euro monatlich sowie Hilfe bei Krankheit zu gewähren.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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