L 11 KR 162/19

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 6 KR 3578/17
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 KR 162/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Bei der nach § 8a Abs 3 HeilM-RL zu treffenden Feststellung,
ob ein langfristiger Heilmittelbedarf vorliegt, ist zu beachten,
dass die Diagnoseliste in Anlage 2 der HeilM-RL Diagnosegruppen
und Indikationsschlüssel benennt und die Art des grundsätzlich
in Betracht kommenden Heilmittels regelt. Die von § 8a Abs 3 HeilM-RL geforderte Vergleichbarkeit der Schädigungen mit denen der
Anlage 2 muss sowohl hinsichtlich der Diagnose als auch der
Diagnosegruppe bzw. des Indikationsschlüssels gegeben sein.
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 30.11.2018 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Genehmigung einer langfristigen Heilmittelbehandlung in Form von Krankengymnastik und Fango.

Die am 22.08.1967 geborene Klägerin legte ein Attest ihrer Hausarztpraxis E. vom 26.07.2017 bei der Beklagten vor, in dem die Diagnosen einer skoliotischen Wirbelsäulendeformation, eines chronischen Brust- und Lendenwirbelsäulensyndroms, einer Somatisierungsstörung, einer Dysthymie sowie einer Persönlichkeitsstörung genannt wurden. Wegen des komplexen Krankheitsbildes habe die Klägerin in den letzten Jahren zweimal pro Woche eine Doppelstunde Physiotherapie erhalten. Gleichzeitig habe eine psychotherapeutische Behandlung mit ein bis zwei Wochenstunden stattgefunden. Leider sei eine weitere krankengymnastische Behandlung auf Kassenrezept wegen fehlender Indikation für eine Langzeitverordnung außerhalb des Regelfalles nicht mehr möglich. Im gültigen Diagnosekatalog seien die beschriebenen Erkrankungen nicht eindeutig abwägbar. Aus diesem Grunde beantrage man die Übernahme der physiotherapeutischen Behandlung im Rahmen eines Privatrezeptes durch die Krankenkasse. Der Arzt gab an, der festen Überzeugung zu sein, dass die weitere physiotherapeutische Behandlung mit zwei Doppelstunden pro Woche dringend indiziert sei, um weitere Gesundheitsstörungen abzuwenden.

Auf Anforderung der Beklagten übersandte die Klägerin unter dem 04.08.2017 zwei Verordnungen von jeweils zwölfmal einer Doppelstunde Krankengymnastik und sechsmal Wärmepackungen (zB Fango) außerhalb des Regelfalles, datiert auf den 09.05.2017 (eingelöst) und 04.08.2017. Am 04.08.2017 teilte die Beklagte mit, dass die Kosten für die Krankengymnastik (Doppelstunden) und Wärmepackungen übernommen würden. Die Therapie brauche nicht genehmigt zu werden, sondern könne mit der Verordnung direkt durch den Therapeuten erfolgen.

Ebenfalls am 04.08.2017 stellte die Klägerin den Antrag auf eine langfristige Versorgung mit Heilmitteln nach § 8a der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von Heilmitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Heilmittel-Richtlinie ( HeilM-RL )). Die Beklagte holte daraufhin eine Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherungen (MDK) ein, der unter dem 09.08.2017 zu dem Ergebnis kam, dass die Erkrankungen der Klägerin hinsichtlich Schwere und Dauerhaftigkeit nicht vergleichbar seien mit den in der Anlage des Merkblattes des Gemeinsamen Bundesausschusses aufgeführten Diagnosen. Ein langfristiger Heilmittelbedarf sei nicht nachvollziehbar.

Die Beklagte lehnte die langfristige Genehmigung von Krankengymnastik und Fango mit Bescheid vom 14.08.2017 ab. Hiergegen legte die Klägerin am 31.08.2017 Widerspruch ein. Diesen begründete sie mit einem Attest ihrer Psychotherapeutin, der Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. W. vom 27.08.2017. Es lägen ausgeprägte posttraumatische Belastungsstörungen vor, die zu einer vegetativen Übererregbarkeit mit Ein- und Durchschlafstörungen, ausgeprägter Schreckhaftigkeit und Hypervigilanz führten. Die Klägerin leide unter Angst und Panik sowie Intrusionen und Flashbacks. Dies führe im körperlichen Bereich zu andauernder und verstärkter sowie schmerzhafter Muskelanspannung, die durch ein in einem früheren Attest beschriebenes Wirbelsäulensyndrom noch verstärkt würden, so dass Schmerzen und Bewegungseinschränkungen kumulierten. Die Fortführung der physiotherapeutischen Maßnahmen werde die psychotherapeutische Behandlung deutlich unterstützen. Die Klägerin gehöre durch die Schwere und Dauerhaftigkeit ihres Beschwerdebildes zu dem Personenkreis, dessen Diagnose vergleichbar sei mit den in der Anlage des Merkblattes des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 22.11.2012 genannten.

Die Beklagte holte eine weitere Stellungnahme des MDK ein. Dieser führte unter dem 08.09.2017 aus, dass schwerwiegende funktionelle Defizite oder neurologische Ausfälle bei der Klägerin nicht vorlägen. Die Voraussetzungen für eine langfristige Genehmigung von Heilmitteln seien damit nicht erfüllt. Die Verordnung außerhalb des Regelfalles, wie bisher erfolgt, werde allerdings nicht infrage gestellt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 02.11.2017 wies die Beklagte daraufhin den Widerspruch zurück. Hiergegen hat die Klägerin am 29.11.2017 Klage zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben und auf die immerhin schon sechs Jahre lang erfolgte Behandlung als Indiz für die Notwendigkeit einer Langzeitverordnung verwiesen. Die Prüfung durch den MDK nach Aktenlage sei zu oberflächlich. Budgeterwägungen der Hausarztpraxis seien Hintergrund der Streitigkeit. Allein aus der Summe ihrer Erkrankungen ergebe sich eine Vergleichbarkeit mit den in der Heilmittelrichtlinie gelisteten Diagnosen.

Das SG hat die behandelnde Psychotherapeutin sowie den Allgemeinmediziner der Klägerin als sachverständige Zeugen befragt. Dr. W. hat in ihrem Schreiben vom 19.02.2018 darauf verwiesen, dass die Klägerin unter einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung leide. Wegen des bei der Klägerin bestehenden anhaltenden hohen Stresslevels sei die gesamte Muskulatur schmerzhaft verspannt. Erforderlich sei die Fortführung der Psychotherapie in gesichertem äußeren Rahmen so wie die Fortführung der Physiotherapie. Auch hierfür sei ein gesicherter äußerer Rahmen notwendig zur Erreichung einer belastbaren Stabilität. Hierbei gehe es um Schmerzbehandlung, Kraftaufbau, aber auch um Körperwahrnehmung, Vertrauen in die eigene Körperlichkeit finden, in direkten Kontakt, überhaupt Kontakt auf physischer Ebene zuzulassen. Der Allgemeinmediziner E. hat unter dem 15.03.2018 ausgeführt, dass für eine langfristige Verordnung keine körperliche Diagnose vorhanden sei. Auf der rein somatischen Ebene lasse sich die Behandlung der Klägerin im Rahmen des normalen Heilmittelkatalogs ausreichend behandeln. Der Erkrankungsschwerpunkt liege auf dem psychosomatischen Gesichtspunkt und nicht auf dem rein körperlichen. Eine Langzeit-Physiotherapie sei nicht erforderlich und nicht begründbar.

Auf Antrag der Klägerin hat das SG ein Gutachten von Dr. W. eingeholt. In ihrem Gutachten vom 19.09.2018 hat die Ärztin im Wesentlichen die bereits als sachverständige Zeugin benannten Gesundheitsstörungen der Klägerin wiederholt. Im körperlichen Bereich bestünden folgende funktionelle Einschränkungen: Schmerzhafte Bewegungseinschränkungen, Reduzierung der körperlichen Belastbarkeit und Beweglichkeit, sodass im Alltag sämtliche Bewegungsaktivitäten eingeschränkt seien. Im geistigen Bereich seien Konzentration, Ausdauer und Gedächtnis eingeschränkt. Außerdem seien die Kommunikationsfähigkeit und die soziale Kompetenz behindert. Die Arbeitsfähigkeit sowie die Teilhabe am sozialen Leben seien eingeschränkt. Es sollte weiterhin eine regelmäßige Verordnung der Physiotherapie mit Fango erfolgen. Dies sollte sowohl zu besserer Stabilität wie auch Mobilität führen, die Schmerzproblematik eingrenzen, die Körperwahrnehmung und Achtsamkeit fördern, insgesamt die Selbstwahrnehmung verbessern, so dass sich ein bewussteres und womöglich positiveres Körpergefühl auf die ganze emotionale Befindlichkeit positiv auswirken sollte, somit das Befassen des Physiotherapeuten als Maßnahme der Vertrauensbildung auch Hilfestellung zur Psychotherapie leiste, dh die körperliche Stabilisierung die seelische Stabilisierung fördere, so dass eine intensivere Bearbeitung der Lebensgeschichte ermöglicht werde. Die Verbesserung des körperlichen Zustandsbildes werde auch die Teilhabe am sozialen Leben verbessern. Es sei gut vorstellbar und nachvollziehbar, dass eine physiotherapeutische Behandlung im geschützten Rahmen heilsame Auswirkungen auf Körper und Seele haben müsse. Dr. W. hat weiterhin ausgeführt, dass eine Heilung durch die angestrebte Heilmittelverordnung nicht zu erreichen sei. Vielmehr gehe es darum, den Allgemeinzustand altersgerecht aufrechtzuerhalten und eine Erträglichkeit der Beschwerden herzustellen. Die Schädigungen bei der Klägerin seien mit den Ziffern von frühen Entwicklungsstörungen im psychischen Bereich der Anlage 2 der HeilM-RL vergleichbar. Die Diagnose komplexe posttraumatische Belastungsstörung sollte anwendbar sein und greifen können. Bezüglich der Schmerzstörung finde sich in der Anlage 2 der HeilM-RL anhaltende somatoforme Schmerzstörung und chronische Schmerzsyndrom mit somatischen und psychischen Faktoren. Diese beiden Störungen seien allerdings erst ab vollendetem 70. Lebensjahr gelistet und könnten bei der Klägerin womöglich früher greifen. Als der Anlage 2 der HeilM-RL vergleichbare Diagnose hat sie die bei der Klägerin bestehende posttraumatische Belastungsstörung benannt. Die Sachverständige ist von einem Behandlungsbedarf bis auf weiteres oder dauerhaft ausgegangen.

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 30.11.2018 mit der Begründung abgewiesen, die Voraussetzungen für eine Langzeitverordnung lägen nicht vor. Die seitens der behandelnden Ärzte der Klägerin festgestellten Erkrankungen könnten eine langfristige bzw dauerhafte Heilmittelversorgung nicht rechtfertigen. Auf nervenärztlichem Fachgebiet hat das SG das Vorliegen einer der in Anlage 2 gelisteten Diagnosen vergleichbaren Diagnose als gegeben angesehen. Das schwere posttraumatische Belastungssyndrom der Klägerin sei vergleichbar einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung wie zB dem Asperger Syndrom. Etwas anderes gelte aber für Erkrankungen auf orthopädischem Fachgebiet. Auf somatischem Gebiet lägen lediglich schmerzhafte Muskelverspannungen vor, die in Schwere und Ausmaß den genannten Erkrankungen nicht gleichstünden. Bei der verordneten Krankengymnastik und Fango-Therapie handele es sich jedoch nicht um eine kausale, dh geeignete und erforderliche Behandlungen bezüglich der Erkrankung der schweren posttraumatischen Belastungsstörung. Auch wenn sich die verordnete Krankengymnastik und die Wärmebehandlungen positiv auf die psychische Situation der Klägerin auswirkten, handele es sich nicht um eine erforderliche Behandlung.

Gegen den ihrer Prozessbevollmächtigten am 11.12.2018 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 11.01.2019 Berufung eingelegt. Zur Begründung führt sie aus, es gehe nicht um in der Anlage 2 zur HeilM-RL gelistete Diagnosen, sondern um eine damit vergleichbare Diagnose. Die Vergleichbarkeit werde dann bejaht, wenn die bei den Antragstellern bestehenden funktionellen und strukturellen Schädigungen vergleichbar mit der Schwere und Dauerhaftigkeit der Schädigungen zu erwarten seien, wie sie die gelisteten Diagnosen vorweisen. Dabei könne sich die Schwere und Langfristigkeit auch aus der Summe mehrerer Schädigungen und Beeinträchtigungen der individuellen Aktivitäten ergeben, die für sich allein nicht die Kriterien erfüllen würden. Für die Ablehnung der medizinischen Erforderlichkeit habe dem SG jedoch die eigene Sachkunde gefehlt. Insbesondere sei es deshalb rechtsfehlerhaft, wenn das SG trotz des Gutachtens von Dr. W., die die medizinische Erforderlichkeit und Geeignetheit ausdrücklich bejahe und erläutert habe, die Auffassung vertrete, dass eine Psychotherapie die geeignete Behandlung wäre, um die Beschwerden der Klägerin zu lindern. Dr. W. habe erläutert, dass die verordneten Maßnahmen in jedem Fall medizinisch notwendig, erforderlich und auch geeignet seien.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 30.11.2018 und den Bescheid der Beklagten vom 14.08.2017 sowie den Widerspruchsbescheid vom 02.11.2017 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin eine Genehmigung für eine langfristige Heilmittelbehandlung mit Krankengymnastik und Wärmepackungen zu erteilen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid und im Gerichtsbescheid.

Der Senat hat das neurologisch-psychiatrische Gutachten des Facharztes für Innere Medizin, Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. S. vom 23.08.2019 eingeholt. Dieser hat folgende Diagnosen genannt: Komplexe posttraumatische Belastungsstörung, schädlicher Nikotinkonsum, Sensibilitätsstörungen im Bereich des Nervus cutaneus femoris lateralis links ohne relevante Funktionseinschränkungen und Beschwerden des Stütz- und Bewegungsapparates ohne relevante motorische bzw neurologische Ausfälle. Die seelische Belastbarkeit sei entsprechend eingeschränkt. Für wesentliche Beeinträchtigungen der körperlichen und geistigen Funktionen ergebe sich so kein Anhalt. Die festgestellten Gesundheitsstörungen sei nicht in der Anlage 2 der HeilM-RL des gemeinsamen Bundesausschusses gelistet. Die bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörungen seien auch nach ihrer Art und Schwere der funktionellen Einschränkungen mit den in der Anlage 2 der HeilM-RL gelisteten Gesundheitsstörungen vergleichbar. Exemplarisch sei hier die Spondylitis ankylosans (Morbus Bechterew) oder das Lymphödem der oberen und unteren Extremitäten im Stadium III zu nennen. Indiziert als Haupttherapie sei die weitere psychotherapeutische Behandlung. Bei den Muskelverspannungen sei eine Physiotherapie weiter indiziert. Diese sei je nach Ausprägung der Befunde ärztlicherseits zu rezeptieren. Über die notwendige Dauer könne keine definitive Aussage getroffen werden, da es sich auch um dynamische Leiden handele. Dieses hänge im Individualfall auch mit der Komplexität der psychischen Vorgänge zusammen. Auf Nachfrage des Senats hat der Sachverständige klargestellt, dass die Gesundheitsstörungen nicht mit den in der Anlage 2 der HeilM-RL gelisteten Gesundheitsstörungen vergleichbar seien. Er habe bei der Erstellung des Gutachtens versehentlich das Wort "nicht" vergessen. Im Rahmen zweier ergänzender Stellungnahmen auf Einwendungen der Klägerin vom 17.10.2019 und 06.12.2019 ist er bei seiner bisherigen Einschätzung geblieben.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.

Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz ( SGG )) eingelegte und statthafte (§§ 143, 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG) Berufung ist zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet.

Die Klage gegen den Bescheid vom 14.08.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.11.2017 ist als Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs 4 SGG statthaft. Bei dieser Klageart kommt es für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz an (BSG 12.04.2000, B 9 SG 3/99 R, SozR 3-3870 § 3 Nr 9 = juris Rn 10). Maßgebend ist, ob die Ablehnung der beantragten Leistung zur Zeit der gerichtlichen Entscheidung noch rechtmäßig ist. Daher sind Gesetzesänderungen, die während der Rechtshängigkeit der Leistungsklage eintreten, grundsätzlich vom Gericht zu beachten. Voraussetzung ist dabei, dass das neue Gesetz nach seinem zeitlichen Geltungswillen das streitige Rechtsverhältnis erfassen will (BSG 27.10.1976, 2 RU 127/74, SozR 2200 § 690 Rn 4 = BSGE 43, 1-9 = juris Rn 29). Entsprechendes muss für die auf der Grundlage des § 92 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) erlassenen Richtlinien gelten, die normativen Charakter haben und für die Beteiligten verbindlich sind (vgl BSG 22.04.2015, B 3 KR 16/14 R, NZS 0215, 617 = juris Rn 25; 13.05.2015, B 6 KA 14/14 R, BSGE 119, 57 = juris Rn 28). Daher ist der Entscheidung die HeilM-RL in der Fassung vom 19.05.2011, zuletzt geändert am 21.09.2017 und in Kraft getreten am 01.01.2018 (BAnz AT 23.11.2017 B1) zugrunde zu legen.

Ausgehend hiervon hat die Klägerin keinen Anspruch auf Genehmigung einer langfristigen Heilmittelbehandlung mit Krankengymnastik und Fango. Die Voraussetzungen der §§ 27 Abs 1, 32 Abs 1a SGB V iVm § 8a HeilM-RL sind nicht erfüllt.

Versicherte haben Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Nach § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB V fallen auch Heilmittel hierunter, zu denen gemäß § 19 Abs 3 Nr 3 HeilM-RL die Krankengymnastik und gemäß § 24 Abs 2 Nr 5 HeilM-RL auch Fango als Wärmetherapie mittels Warmpackungen mit Peloiden gehört. Nach § 32 Abs 1a SGB V regelt der Gemeinsame Bundesausschuss in seiner Richtlinie nach § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 6 SGB V das Nähere zur Heilmittelversorgung von Versicherten mit langfristigem Behandlungsbedarf. Er hat insbesondere zu bestimmen, wann ein langfristiger Heilmittelbedarf vorliegt und festzulegen, ob und inwieweit ein Genehmigungsverfahren durchzuführen ist (§ 32 Abs 1a Satz 2 SGB V).

Grundsätzlich sieht § 7 HeilM-RL eine Heilmittelverordnung im Regelfall vor. Nach § 7 Abs 1 Satz 1 liegt der Heilmittelverordnung nach der Richtlinie in den jeweiligen Abschnitten des Heilmittelkatalogs ein definierter Regelfall zugrunde, der von der Vorstellung ausgeht, dass mit dem der Indikation zugeordneten Heilmittel im Rahmen der Gesamtverordnungsmenge des Regelfalls das angestrebte Therapieziel erreicht werden kann (Satz 2). Die Gesamtverordnungsmenge und die Anzahl der Behandlungen (Einheiten) je Verordnung im Regelfall ergeben sich aus dem Heilmittelkatalog.

Nach § 8 Abs 1 HeilM-RL sind weitere Verordnungen möglich, wenn sich die Behandlung mit der nach Maßgabe des Heilmittelkatalogs bestimmten Gesamtverordnungsmenge nicht abschließen lässt (Verordnung außerhalb des Regelfalls, insbesondere längerfristige Verordnungen). Solche Verordnungen bedürfen einer besonderen Begründung mit prognostischer Einschätzung. Dabei sind die Grundsätze der Verordnung im Regelfall mit Ausnahme des § 7 Abs 10 HeilM-RL über die maximale Verordnungsmenge bei Erst- und Folgeverordnungen nicht anzuwenden (§ 8a Abs 1 Sätze 2, 3 HeilM-RL). Begründungspflichtige Verordnungen sind der zuständigen Krankenkasse vor Fortsetzung der Therapie zur Genehmigung vorzulegen. Nach Vorlage der Verordnung durch die oder den Versicherten übernimmt die Krankenkasse die Kosten des Heilmittels unabhängig vom Ergebnis der Entscheidung über den Genehmigungsantrag, längstens jedoch bis zum Zugang einer Entscheidung über die Ablehnung der Genehmigung. Verzichtet die Krankenkasse auf ein Genehmigungsverfahren hat dies die gleiche Rechtswirkung wie eine erteilte Genehmigung (§ 8 Abs 4 HeilM-RL).

Darüber hinaus eröffnet § 8a HeilM-RL die Möglichkeit der Versorgung von Versicherten mit langfristigen Heilmittelbedarf für einen längeren Zeitraum.

Langfristiger Heilmittelbedarf im Sinne von § 32 Abs 1a SGB V liegt vor, wenn sich aus der ärztlichen Begründung die Schwere und Langfristigkeit der funktionellen/strukturellen Schädigungen, der Beeinträchtigungen der Aktivitäten und der nachvollziehbare Therapiebedarf des Versicherten ergibt (§ 8a Abs 1 HeilM-RL). Vom Vorliegen eines langfristigen Heilmittelbedarfs ist nach § 8a Abs 2 Satz 1 HeilM-RL auszugehen, wenn eine in der Anlage 2 der HeilM-RL gelistete Diagnose in Verbindung mit der jeweils aufgeführten Diagnosegruppe des Heilmittelkatalogs vorliegt. In diesem Fall findet ein Antrags- und Genehmigungsverfahren nicht statt.

Wenn keine der Diagnosen erfüllt ist, jedoch eine Vergleichbarkeit der vorliegenden schweren dauerhaften funktionellen/strukturellen Schädigungen mit denen besteht, die bei den in der Anlage 2 genannten Diagnosen zu erwarten sind, trifft die Krankenkasse auf Antrag die Feststellung darüber, ob ein langfristiger Heilmittelbedarf iSv § 32 Abs 1a SGB V vorliegt und die notwendigen Heilmittel langfristig genehmigt werden können (§ 8a Abs 3 HeilM-RL). Hierfür ist eine Genehmigung erforderlich, die jedoch nach § 8a Abs 7 HeilM-RL länger als ein Jahr oder sogar unbefristet erfolgen kann. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Diagnoseliste in Anlage 2 der HeilM-RL Diagnosegruppen und Indikationsschlüssel benennt und die Art des grundsätzlich in Betracht kommenden Heilmittels regelt. Die von § 8a Abs 3 HeilM-RL geforderte Vergleichbarkeit der Schädigungen mit denen der Anlage 2 muss sowohl hinsichtlich der Diagnose als auch der Diagnosegruppe bzw des Indikationsschlüssels gegeben sein. Daran fehlt es hier.

Die Klägerin leidet unter einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung, Sensibilitätsstörungen im Bereich des Nervus cutaneus femoris lateralis links ohne relevante Funktionseinschränkungen und Beschwerden des Stütz- und Bewegungsapparates ohne relevante motorische bzw neurologische Ausfälle. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten des Dr. S. und den Ausführungen der behandelnden Ärzte der Klägerin.

Diese Erkrankungen der Klägerin sind nicht in der Anlage 2 der HeilM-RL aufgeführt, so dass die Genehmigung nicht entbehrlich ist.

Es bestehen aber auch keine vergleichbaren schweren dauerhaften funktionellen oder strukturellen Schädigungen. Eine vergleichbare schwere dauerhafte funktionelle/strukturelle Schädigung liegt dann vor, wenn die bei dem Versicherten bestehenden funktionellen/strukturellen Schädigungen vergleichbar mit der Schwere und Dauerhaftigkeit der Schädigungen sind, wie sie bei Diagnosen aus der Anlage 2 zu erwarten sind (§ 8a Abs 5 Satz 2 HeilM-RL). Eine Schwere und Langfristigkeit im Sinne von § 8a Abs 3 HeilM-RL kann sich auch aus der Summe mehrerer einzelner funktioneller/struktureller Schädigungen und Beeinträchtigungen der individuellen Aktivitäten ergeben, die für sich allein die Kriterien nicht erfüllen, sich aus deren Gesamtbetrachtung jedoch ein Therapiebedarf ergibt, der hinsichtlich Dauer und Umfang auch bei Diagnosen der Anlage 2 zu erwarten ist (§ 8a Abs 5 Satz 3 HeilM-RL). Nach § 8a Abs 5 Satz 4 HeilM-RL ist bei Entscheidungen nach den Sätzen 2 und 3 von einer Dauerhaftigkeit oder Langfristigkeit auszugehen, wenn ein Therapiebedarf mit Heilmitteln von mindestens einem Jahr medizinisch notwendig ist.

Unter der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung kommt es nach Angaben der behandelnden Ärztin Dr. W., die der Senat zugrundelegt, zu Hypervigilanz, Hyperarousal, Derealisation, Intrusionen und Konstriktion, Affektregulationsstörungen, negativer Selbstwahrnehmung und Beziehungsstörung. Diese Erkrankung mit den genannten Auswirkungen ist im Grunde einem Vergleich mit den in der Gruppe der Entwicklungsstörungen genannten Diagnosen, insbesondere dem der Entwicklungsstörung Asperger Syndrom, zugänglich, wie Dr. W. ausgeführt hat.

Ungeachtet der Frage, ob die bei der Klägerin vorliegenden funktionellen und strukturellen Schädigungen im Umfang dem des Asperger Syndroms im vorliegenden Fall überhaupt entsprechen, sind die begehrten Maßnahmen der Physiotherapie nicht indiziert, so dass bereits deshalb eine Langfristgenehmigung nicht erteilt werden kann.

In der Diagnoseliste sind für die Gruppe der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen, in der auch das Asperger Syndrom genannt ist, für Physiotherapie die Diagnosegruppen "ZN1/ZN2" angegeben. Nach dem Heilmittelkatalog der Anlage 2 der HeilM-RL handelt es sich um Erkrankungen des zentralen Nervensystems einschließlich des Rückenmarks zB prä-, peri-, postnatale Schädigungen (zB Meningomyelocele, infantile Cerebralparese, Spina bifida), zerebrale Blutung, Tumor, Hypoxie, Schädelhirn- und Rückenmarkverletzungen, Meningoencephalitis, Poliomyelitis, Querschnittssyndrome, M. Parkinson, Multipe Sklerose, Syringomyelie, Amyotrophe Lateralsklerose, Spinalis anterior Syndrom, Vorderhornerkrankungen des Rückenmarks und Muskeldystrophie. ZN1 ist dabei bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs einschlägig, ZN2 nach Vollendung des 18. Lebensjahrs. Die Physiotherapie indizierenden funktionellen und strukturellen Schädigungen sind mit Bewegungsstörungen von Extremitäten, Rumpf- und Kopfmuskulatur zB mit Hemi-, Tetra-, Paraplegi/-parese, Funktionsstörungen durch Muskeltonusstörungen, zB Spastik, auch mit Folgeerscheinungen wie Kontrakturen, zentral bedingte Muskel-Hypotonie, zentrale Koordinationsstörungen und Störungen der Grob- und Feinmotorik wie zB Dystonie, choreatisch-athetotische Störungen, ataktische Störungen angegeben. Die Klägerin leidet zwar unter einer schmerzhaften Muskelverspannung. Hierfür wird jedoch nur selten eine Schmerzmedikation verwendet, was gegen einen erheblichen Leidensdruck spricht. Insgesamt ist eine schmerzhafte Muskelverspannung nicht mit den vorgenannten Auswirkungen der Diagnosegruppen ZN1/ZN2 vergleichbar.

Die bei der Klägerin im Vordergrund stehenden Beeinträchtigungen im psychischen Bereich rechtfertigen nicht die in Inanspruchnahme von Physiotherapie. Die vorgenannten Indikationen für physikalische Maßnahmen sind gekennzeichnet durch körperliche Beeinträchtigungen. Für die begehrten physikalischen Therapien steht im Vordergrund, dass diese nach § 17 Abs 1 HeilM-RL ihre Wirkung nach physikalisch-biologischem Prinzip durch überwiegend von außen vermittelte kinetische mechanische, elektrische und thermische Energie entfalten. Der Klägerin geht es jedoch um eine psychische Wirkung. Für die Beeinträchtigungen im psychischen Bereich kämen allenfalls ergotherapeutische Maßnahmen in Betracht. Bei der Diagnose Asperger Syndrom sind für Ergotherapie die Diagnosegruppen "EN1/EN2/PS1" vorgesehen. Nach dem Heilmittelkatalog sind EN1 und EN2 beschrieben als Erkrankungen des zentralen Nervensystems und/oder Entwicklungsstörungen wie zB Schädelhirntrauma, Meningoencephalitis, zerebrale Blutung, zerebraler Tumor, zerebrale Hypoxie, Cerebralparese, genetisch bedingte, peri-/postnatale Strukturschäden. EN1 ist dabei bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs einschlägig, EN2 nach Vollendung des 18. Lebensjahrs. Die Ergotherapie ist indiziert bei funktionellen/strukturellen Schädigung der Körperhaltung, Körperbewegung und Koordination, der Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung, der kognitionsstützenden und höheren kognitiven Funktionen, wie Aufmerksamkeit, Konzentration, Ausdauer, psychomotorisches Tempo und Qualität, Handlungsfähigkeit und Problemlösung einschließlich der Praxie. Die indizierenden Fähigkeitsstörungen werden mit Einschränkungen der Beweglichkeit, Geschicklichkeit, der Selbstversorgung und Alltagsbewältigung, in der zwischenmenschlichen Interaktion und im Verhalten beschrieben. Die Diagnosegruppe PS1 ist beschrieben als Entwicklungsstörung zB nach frühkindlichem Autismus und verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in Kindheit und Jugend wie zB Störung des Sozialverhaltens, depressive Störung/Angststörungen/Essstörungen. Die Ergotherapie ist indiziert bei funktionellen/strukturellen Schädigungen in der Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung, des psychomotorischen Tempos und der Qualität, der kognitionsstützenden und höheren kognitiven Funktionen sowie der emotionalen und Willensfunktion. Als Leitsymptomatik werden genannt Einschränkungen der Selbstversorgung und Alltagsbewältigung, im Verhalten, in der zwischenmenschlichen Interaktion und der Beweglichkeit und Geschicklichkeit. Unter diese Beschreibungen lassen sich die von Dr. W. beschriebenen Einschränkungen der Klägerin fassen. Die von Dr. W. betonten Ziele Erreichung einer belastbaren Stabilität, Schmerzbehandlung, Körperwahrnehmung und Kontakt auf physischer Ebene zuzulassen, sind von den Zielen der Ergotherapie erfasst.

Die von Dr. W. darüber hinaus noch angeführte Schmerzstörung ist nicht in der Diagnoseliste zum langfristigen Heilmittelbedarf gelistet. Eine Vergleichbarkeit der vorliegenden schweren dauerhaften funktionellen/strukturellen Schädigungen mit denen, die bei den in der Anlage 2 genannten Diagnosen zu erwarten sind, besteht ebenfalls nicht. Es ist bereits nicht dargelegt und auch nicht ersichtlich, mit welcher Diagnose eine Vergleichbarkeit hergestellt werden könnte. Wie bereits erläutert, findet eine medikamentöse Behandlung nur selten statt, was gegen einen erheblichen Leidensdruck spricht.

Auch die Rückenbeschwerden lassen sich keiner Diagnose in der Diagnoseliste zuordnen. Eine Vergleichbarkeit mit den zum Erkrankungen der Wirbelsäulen und am Skelettsystem gelisteten Diagnosen wie beispielsweise Reduktionsdefekt der oberen Extremität liegt nicht vor. Der Senat stützt sich hierbei auf die Ausführungen des behandelnden Arztes E., der angegeben hat, dass im Rahmen der Wirbelsäule eine Langzeit-Physiotherapie nicht erforderlich ist. Vielmehr sind die Beeinträchtigungen mit zwischenzeitlich erlernten Kräftigungs- und Dehnübungen zu behandeln.

Sofern bei der Klägerin weiterhin ein Heilmittelbedarf erforderlich ist, ist sie auf eine Heilmittelverordnung außerhalb des Regelfalls nach § 8 HeilM-RL zu verweisen.

Der Sachverhalt ist vollständig aufgeklärt; die vorhandenen Gutachten und Unterlagen bilden eine ausreichende Grundlage für die Entscheidung des Senats. Diese haben dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen vermittelt (§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG, § 412 Abs 1 ZPO), weitere Beweiserhebungen waren daher von Amts wegen nicht mehr notwendig.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs 2 Nr 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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