L 11 KR 2478/19

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 9 KR 1689/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 KR 2478/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Retinitis pigmentosa (eine erblich bedingte Erkrankung der Netzhaut) ist im fortgeschrittenen Stadium (drohende Erblindung) eine Erkrankung, die wertungsmäßig mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung vergleichbar ist.
Versicherte der GKV, die an einer Retinitis pigmentosa im fortgeschrittenen Stadium leiden, können einen Anspruch auf Versorgung mit transkornealer Elektrostimulationstherapie (TES) mit dem OkuStim®-System haben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 18.06.2019 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass Kosten iHv 7.965 EUR zu erstatten sind.

Die Beklagte erstattet auch die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Behandlung der Klägerin mit transkornealer lektrostimulations-Therapie (TES) mit dem OkuStim® System.

Die 1966 geborene Klägerin ist bei der Beklagten krankenversichert. Sie ist wegen Paraplegie auf einen Rollstuhl angewiesen und leidet an einer Retinitis pigmentosa beidseits. Es handelt sich dabei um eine erblich bedingte Netzhauterkrankung, die durch den progredienten Untergang der Photorezeptoren gekennzeichnet ist. Die Erkrankung geht mit verschiedenen Symptomen einher, hierzu zählen Nachtblindheit, schlechte Anpassung der Augen auf sich ändernde Lichtbedingungen, Blendempfindlichkeit, Einschränkung des Gesichtsfeldes, Störung des Kontrastsehens, Störung des Farbsehens sowie Verlust der Sehschärfe. Die Erkrankung führt in den meisten Fällen zur Erblindung. Am 13.11.2017 beantragte die Klägerin die Übernahme der Kosten für die Behandlung der bei ihr 2005 diagnostizierten Retinitis pigmentosa mit TES mit dem OkuStim® System. Dem Antrag legte sie den Arztbrief der behandelnden Ärztin Dr. S. vom Augenklinikum T., eine Beschreibung des Wirkmechanismus der TES, einen Kostenvoranschlag und die Verordnung des OkuStim® Systems durch Dr. S. bei.

Der Einsatz der TES zielt darauf ab, durch die elektrische Reizung der Netzhaut mittels einer Hornhautelektrode den Untergang der Sinneszellen zu verlangsamen und somit die Sehleistung der Betroffenen länger zu erhalten. Bei dem OkuStim® System handelt es sich um ein CE-gekennzeichnetes Medizinprodukt der Risikoklasse IIa. Es besteht aus drei Komponenten: dem Oku-Stim® Gerät, der OkuSpex® Brille und den OkuEl® Elektroden. Durch das OkuStim® Gerät werden die Augen mittels OkuEl® Elektroden mit einem schwachen elektrischen Strom stimuliert. Der Hersteller Okuvision GmbH hat beim Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) einen Antrag auf Erprobung der TES gestellt. Am 20.07.2017 hat der GBA die "Richtlinie zur Erprobung der Transkornealen Elektrostimulation bei Retinopathia Pigmentosa" erlassen (BAnzAT 06.10.2017 B3). Nach europaweiter Ausschreibung war die Auswahl zur Durchführung der Erprobung Ende 2018 noch nicht abgeschlossen (Geschäftsbericht des GBA für 2018, S 81).

Die Beklagte informierte die Klägerin mit Schreiben vom 27.11.2017 über die beabsichtigte Einholung eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK). Im Gutachten vom 30.11.2017 führte Dr. A. aus, bei der Klägerin liege eine Erblindung im Sinne des Gesetzes vor. Medizinische Therapien zur Behandlung der Erkrankung stünden derzeit nicht zur Verfügung. Aus den bisherigen Publikationen zu den derzeit erforschten Therapieansätzen ergebe sich kein eindeutiger Hinweis, dass mittels der TES neuroprotektive Wachstumsfaktoren der Netzhaut aktiviert werden könnten, die zu einer Verlangsamung der Progression der Retinitis pigmentosa führen könnten. Aus sozialmedizinischen Gründen könne eine Kostenübernahme für die beantragte Behandlung daher nicht empfohlen werden. Es bestehe außerhalb der geplanten, vom GBA bereits beschlossenen Erprobung keine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung. Auf das Ergebnis der Begutachtung gestützt lehnte die Beklagte den Antrag durch Bescheid vom 06.12.2017 ab.

Die Klägerin erhob am 15.12.2017 Widerspruch. Im Januar 2018 begann sie auf eigene Kosten mit der TES. Für die einmalige Anschaffung des OkuStim® Systems zahlte sie 5.355 EUR. Einschließlich der erforderlichen Elektrodenpakete fielen bis Ende 2019 Kosten iHv insgesamt 7.820 EUR an.

Mit Widerspruchsbescheid vom 26.02.2018 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Für die TES habe der GBA keine Empfehlung in Richtlinien über die Anerkennung ihres diagnostischen und therapeutischen Nutzens und ihrer medizinischen Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit auch im Vergleich zu bereits zu Lasten der Krankenkassen erbrachten Methoden nach dem jeweiligen Stand der medizinischen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapierichtung abgegeben. Die TES sei daher keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung. Es bestehe auch kein Anspruch auf Kostenübernahme nach § 2 Abs la Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V). Es handle sich bei der Retinitis pigmentosa weder um eine akut lebensbedrohliche Erkrankung noch um eine mit einer solchen wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung stehe. Endpunkt des Krankheitsfortschritts der Retinitis pigmentosa sei die vollständige Erblindung. Erblindung oder Blindheit seien wertungsmäßig aber nicht mit einer tödlich verlaufenden oder lebensbedrohlichen Krankheit gleichzusetzen. Aus den bisherigen Veröffentlichungen ergäben sich keine Anhaltspunkte für eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. Es bestehe deshalb kein Anspruch auf Übernahme der Kosten einer ärztlichen Behandlung mittels TES.

Hiergegen richtet sich die am 03.04.2018 zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhobene Klage. Die Klägerin trägt vor, sie leide an der fortschreitenden Netzhauterkrankung Retinitis pigmentosa. Zum Anwendungsbereich des § 2 Abs la SGB V verweist sie auf die Ausführungen des SG Speyer (22.02.2017, S 17 KR 407/16), des LSG Rheinland-Pfalz (10.11.2017, L 5 KR 92/17) und des SG Stuttgart (18.01.2019, S 10 KR 1690/18). Nach dieser Rechtsprechung stehe der von § 2 Abs la Satz 1 SGB V vorausgesetzten spürbar positiven Einwirkung auf den Krankheitsverlauf nicht entgegen, dass Umfang und Dauer der Verbesserung von Sehschärfe bzw Gesichtsfeld sowie der Verlangsamung des Krankheitsfortschritts noch nicht vollständig geklärt seien. Bei schicksalhaftem Verlauf der Krankheit reiche es aus, dass der Eintritt verzögert werde. Dies sei der Fall; die vollständige Erblindung werde zumindest herausgezögert und es trete ggf eine kurzfristige Besserung von Sehschärfe und Gesichtsfeld ein. Der GBA habe der neuen Behandlungsmethode ein Nutzenpotenzial zuerkannt und die Durchführung des Erprobungsverfahrens nach § 137e SGB V beschlossen. Schädliche Wirkungen gingen von TES-Therapien nicht aus. Der drohende Verlust der Sehfähigkeit bis hin zur Erblindung sei wertungsmäßig mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung zu vergleichen. Die Augen gehörten zu den herausragenden menschlichen Organen. Nach wissenschaftlichen Untersuchungen nehme der Mensch 80% der Sinneseindrücke über das Sehorgan auf, was seine überragende Bedeutung für die Alltagsbewältigung verdeutliche. Da die Klägerin von einer fortschreitenden und gravierenden Sehbeeinträchtigung betroffen sei und bei Ausbleiben der Therapie weitere irreparable Sehschädigungen zu erwarten seien und sie von Blindheit bedroht sei, bestehe bei verfassungskonformer Anwendung des § 2 Abs la SGB V ein Versorgungsanspruch mit der TES-Behandlung und dem OkuStim® System. Dies entspreche auch dem Sozialstaatsprinzip, dem gesetzgeberischen Willen zur Einführung des § 137e SGB V und der UN-Behindertenkonvention. Die TES-Behandlung seit Januar 2018 zeige zudem schon Erfolg. Sie finde wöchentlich statt und schaffe dahingehend Besserung, dass auf dem rechten Auge, auf dem noch eine Sehstärke von 0,02 bestehe, das Sichtfeld klarer werde und der Nebel verschwinde.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Die TES habe sich in der medizinischen Praxis nicht allgemein durchgesetzt, bisher keine breite Resonanz in der medizinischen Fachdiskussion gefunden und werde nicht von einer erheblichen Zahl von Ärzten angewendet. Anhand der angegebenen Sehschärfe und der Gesichtsfeldbefunde gelte die Klägerin als gesetzlich erblindet. Bei der TES handle es sich nicht um eine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung, da sie als neue ambulante ärztliche Behandlungsmaßnahme vom GBA noch nicht hinsichtlich ihrer Sicherheit und Wirksamkeit geprüft worden sei und der GBA keine Empfehlung für diese Behandlungsmaßnahme abgegeben habe. Ein Anspruch ergebe sich auch nicht aus § 2 Abs la SGB V, da es sich bei der Retinitis pigmentosa weder um eine akut lebensbedrohliche Erkrankung noch um eine regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung handle. Die bisherigen Veröffentlichungen ergäben keine Anhaltspunkte für eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. Dies ergebe sich auch aus den Erklärungen des Prof. Dr. Z. von der Augenklinik des Universitätsklinikums T. Danach wiesen die bisherigen Daten in Kenntnis der Heterogenität und des sehr unterschiedlichen Verlaufs einer Retinitis pigmentosa auf eine protektive Wirkung auf die Zapfenfunktion der Netzhaut hin, es werde aber sicherlich noch mehrere Jahre dauern, bis sich die mit der Elektroretinographie beobachteten Verbesserungen der Netzhautfunktion für den behandelten Patienten auch als alltagsrelevanter Vorteil im Vergleich zu nichtbehandelten Patienten erkennbar machen würden. Der patientenrelevante Nutzen müsse in weiteren Studien über einen längeren Zeitraum geprüft werden.

Das SG hat die behandelnde Ärztin Dr. S. (Funktionsoberärztin der Sprechstunde für Erbliche Netzhautdegenerationen der Augenklinik des Universitätsklinikums) als sachverstände Zeugin befragt. Sie hat mitgeteilt, dass die Klägerin an der erblichen Netzhautdystrophie Retinopathia pigmentosa mit früher Makulabeteiligung leide. Bei der Betreuung und Beratung der Klägerin während der letzten 13 Jahre sei eine stark reduzierte Sehschärfe mit Verschlechterung bis zur Sehschärfe von 0,02 am rechten Auge und Handbewegungswahrnehmung am linken Auge festgestellt worden. Am 24.10.2017 sei noch ein Gesichtsfeld messbar gewesen, wobei nur noch periphere Restinseln des Gesichtsfeldes bestanden hätten. In der Untersuchung am 12.07.2018 sei kein verlässliches Gesichtsfeld mehr messbar gewesen. Die erblich bedingte Netzhautdegeneration sei bei der Klägerin derzeit stark fortgeschritten und sehr nahe dem Endstadium. In bisher publizierten klinischen Studien der TES an Patienten mit Retinitis pigmentosa habe sich gezeigt, dass sowohl eine Gesichtsfeldbesserung als auch Amplitudenzunahme in der Ganzfeldelektroretinographie möglich seien. Die Klägerin werde nicht im Rahmen einer Erprobungsstudie behandelt. Der patientenrelevante Nutzen bestehe darin, dass die TES zu einer Zeitverzögerung der Erblindung fuhren könne. Die Erprobungsstudie habe noch nicht begonnen, so dass dafür noch keine Patienten eingeschlossen werden dürften. Zudem erfülle die Klägerin nicht die Anforderungen der zentralen Sehschärfe, die aktuell für die Teilnahme an der Studie vorlägen. Sie habe auch nicht an einer der publizierten Studien teilgenommen, da solche Studien in den Jahren, in denen sie in der Sprechstunde für erbliche Netzhautdegeneration vorstellig geworden sei, nicht durchgeführt worden seien (Schreiben vom 27.08.2018 und 12.12.2018).

Mit Urteil vom 18.06.2019 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide verurteilt, die für die TES entstandenen Kosten iHv 7.820 EUR zu erstatten und die Kosten für die zukünftige Therapie zu übernehmen. Für die Bewilligung von Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherungen unter Abweichung von § 2 Abs 1 Satz 3 SGB V müssten drei Voraussetzungen erfüllt sein. Zum einen müsse der Versicherte an einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung leiden. Zum anderen dürfe für die Krankheit eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung stehen. Zuletzt müsse eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bestehen. Die Klägerin leide an einer Krankheit, die wertungsmäßig einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung vergleichbar sei. Vergleichbar sei ua die drohende Erblindung (unter Hinweis auf Bundessozialgericht (BSG) 20.04.2010, B 1/3 KR 22/08 R). Die Erblindung drohe, wenn sich der Verlust des Sinnesorganes nach den konkreten Umständen des Falls binnen eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen werde. Eine solche Situation liege bei der Klägerin vor. Dr. S. habe mitgeteilt, dass bei der Klägerin auf dem rechten Auge noch eine Sehstärke von 0,02 bestehe, während sie auf dem linken Auge nur noch Handbewegungen wahrnehmen könne, so dass die Erkrankung sehr weit fortgeschritten sei und sich nahe dem Endstadium befinde. Aus dem Arztbrief vom 16.02.2018 ergebe sich, dass die Klägerin aufgrund ihrer verminderten Sehstärke bereits blind im Sinne des Gesetzes sei. Danach drohe bei der Klägerin eine Erblindung im tatsächlichen Sinne, dass auch auf dem rechten Auge keinerlei Sehstärke mehr vorhanden sei. Entgegen der Ansicht der Beklagten schade es dabei nicht, dass der genaue Zeitpunkt der Erblindung nicht vorhersehbar sei. Nach Auffassung der Kammer bestehe eine notstandsähnliche Situation im Sinne eines akuten Handlungsdrucks. Aufgrund des sehr weit fortgeschrittenen Krankheitsstadiums besteht die konkrete Gefahr, dass sich das gegenwärtig noch bestehende "Therapiefenster" zur Erhaltung und Besserung der noch bestehenden Restfunktionen der Augen schließe und eine gänzlich therapierefraktäre Situation entstehe. Für die Behandlung der Erkrankung der Klägerin stehe eine medizinische Therapie nach dem Gutachten des MDK und der Aussage der behandelnden Ärztin Dr. S. derzeit nicht zur Verfügung. Die TES mit dem OkuStim® System biete zur Überzeugung der Kammer zudem eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. Aufgrund der hoffnungslosen Situation sei ein geringerer Evidenzgrad an den Nutzen und die Wirtschaftlichkeit der streitgegenständlichen Therapie zu stellen; ein weiteres Zuwarten auf eine fundierte Studienlage, aus der sich Nutzen, Wirtschaftlichkeit und Risiko der Therapie signifikant entnehmen lasse, komme nicht in Betracht. Aus den vorhandenen Anwendungsbeobachtungen und Studien lasse sich eine hinreichende Erfolgsaussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf entnehmen. Bei einer ersten durchgeführten klinischen Pilot-Studie hätten 8 von 24 Probanden von der transkornealen Elektrostimulation mit Nutzung des OkuStim® Systems profitieren können. Durch die Langzeitstudie EST II, im Rahmen derer das OkuStim® System bei 52 Patienten für 52 Wochen zur Anwendung gebracht worden sei, hätten sich signifikante Verbesserungen im helladaptierten ERG in der mit 200% des individuellen Schwellenwertes stimulierten Behandlungsgruppe sowie ein positiver Trend (jedoch ohne statistische Signifikanz) bezüglich der Gesichtsfeldfläche gezeigt. Die open Label Anwendungsbeobachtung TESOLA, bei der 105 Patienten wöchentlich für 30 Minuten über einen Zeitraum von sechs Monaten mit TES unter Nutzung des OkuStim® Systems behandelt worden seien, habe außer dem Auftreten eines trockenen Auges, das mit Tränenersatzflüssigkeit gut beherrschbar gewesen sei, keine schwerwiegenden unerwünschten Nebenwirkungen der Therapie gezeigt. Auch bei dieser Anwendungsbeobachtung habe der Trend einer Verzögerung des Fortschreitens der Erkrankung bestanden. Sowohl in der EST II, als auch bei der Anwendungsbeobachtung TESOLA sei allerdings auch deutlich geworden, dass nicht alle Patienten in gleichem Umfang auf die Therapie ansprächen. Die Therapie sei nach dem Inhalt der bisher vorliegenden Erkenntnisse mit einem geringen Risiko von Nebenwirkungen verbunden und biete die ernsthafte Möglichkeit, dass die vollständige Erblindung der Klägerin zumindest herausgezögert werden und eine kurzfristige Besserung von Sehschärfe und Gesichtsfeld eintreten könne.

Gegen das ihr am 01.07.2019 zugestellte Urteil richtet sich die am 26.07.2019 eingelegte Berufung der Beklagten. TES sei als neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung. Bei der Retinitis pigmentosa handele es sich weder um eine lebensbedrohliche noch eine tödlich verlaufende Erkrankung. Erblindung und Blindheit seien wertungsmäßig nicht damit gleichzusetzen. Bei der Klägerin bestehe seit dem 15. Lebensjahr eine langsame schleichende Verschlechterung der Sehfähigkeit. Eine Erblindung werde innerhalb eines überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit nicht eintreten. Dies sehe auch Dr. S. so. Die bisherigen Veröffentlichungen ergäben keine Anhaltspunkte für eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. Darauf habe die Gutachterin des MDK im Gutachten vom 30.11.2017 verwiesen. Das SG habe nur die Aussage der behandelnden Ärztin gewürdigt, nicht jedoch die kritischen Ausführungen des Prof. Dr. Z. (Universitätsklinik T.), der erklärt habe, der patientenrelevante Nutzen müsse in weiteren Studien über einen längeren Zeitraum geprüft werden. Aktuell biete die TES daher keinen patientenrelevanten Nutzen. Die Voraussetzungen für einen Anspruch gemäß § 2 Abs 1a SGB V seien daher nicht gegeben.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 18.06.2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hat eine Rechnung iHv 145 EUR über ein weiteres Elektrodenpaket vom 03.1.2020 vorgelegt. Soweit die Beklagte ausführe, dass im vorliegenden Fall kein Zeitpunkt genannt worden sei, wann die Erblindung der Klägerin eintreten werde, könne eine genaue Angabe in der Regel sehr schwer getroffen werden. Entscheidend sei, dass die Erkrankung bei der Klägerin bereits derart weit vorangeschritten ist, dass eine Erblindung im Sinne des Gesetzes gegeben sei. Auf dem rechten Auge habe die Klägerin einen Visus von 0,02, auf dem linken Auge könne sie lediglich noch Handbewegungen wahrnehmen. Wie die Beklagte bei einem derart weit vorangeschrittenen Krankheitsverlauf davon ausgehen möge, dass die Erblindung der Klägerin noch nicht unmittelbar genug bevorstehe, sei schlichtweg nicht nachvollziehbar. Entscheidend sei nicht, ob der Zeitpunkt der vollständigen Erblindung genau prognostiziert werden könne, sondern welcher Maßstab für die in § 2 Abs 1a SGB V geforderte notstandsähnliche Situation angesetzt werden müsse. Hier sei bereits Blindheit iSd Gesetzes gegeben und damit eine notstandsähnliche Situation. Ein weiteres Zuwarten würde dazu führen, dass die Therapie kaum mehr ein nennenswertes Sehvermögen erhalten könnte. Abgestorbene Netzhautzellen könnten nicht wieder aktiviert werden. Es dürfe auch nicht verkannt werden, wie wichtig auch der noch so kleinste Sehrest für einen betroffenen Menschen sei. Auch der Behauptung der Beklagten, dass positive Einwirkungen der TES hinsichtlich des Krankheitsverlaufs bei Retinitis pigmentosa nicht nachgewiesen seien, könne nicht zugestimmt werden. Der GBA habe im Rahmen eines Erprobungsantrags nach § 137e SGB V der Therapie ein Potenzial bestätigt. Der finale Nutzen solle nun durch die Erprobungsstudie bestätigt werden. Das LSG Rheinland-Pfalz habe im Urteil vom 10.11.2017 (L 5 KR 92/17) unter Bezugnahme auf Gutachten und ärztliche Stellungnahmen ebenfalls einen auf Indizien gestützten Nutzen der TES bejaht.

Der Senat hat Dr. S. ergänzend befragt. Mit Schreiben vom 01.10.2019 hat sie mitgeteilt, über 13 Jahre Betreuung habe eine stark reduzierte Sehschärfe mit Verschlechterung bis zur 0,02 Sehschärfe am rechten Auge und Handbewegungswahrnehmung am linken Auge gemessen werden können; bei der letzten Kontrolluntersuchung am 14.02.2019 habe links nur Lichtscheinwahrnehmung bestanden. Eine komplette Erblindung im Sinne einer absenten Lichtwahrnehmung werde in einem Zeitraum von Wochen und Monaten für unwahrscheinlich gehalten, eine weitere Verschlechterung innerhalb der nächsten Monate sei jedoch sehr wahrscheinlich.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg.

Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) eingelegte und statthafte (§§ 143, 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG) Berufung ist zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet. Das SG hat die Beklagte zu Recht zur Kostenerstattung und zur Gewährung der zukünftigen Behandlung mit TES verurteilt, denn der angefochtene Bescheid vom 06.12.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.02.2018 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erstattung der bisher für die Behandlung mit TES entstandenen Kosten iHv 7.820 EUR sowie auf Gewährung dieser Behandlung auch in Zukunft. Letzteres betrifft vor allem die Zurverfügungstellung der erforderlichen Elektroden. Richtige Klageart ist die mit der Anfechtungsklage verbundene Leistungsklage (§ 54 Abs 1 und 4 SGG).

Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs ist § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V iVm § 2 Abs 1a SGB V. Nach § 33 SGB V haben Versicherte einen Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 SGB V ausgeschlossen sind. Dabei besteht ein Anspruch auf Versorgung mit Blick auf die "Erforderlichkeit im Einzelfall" grundsätzlich nur, soweit das begehrte Hilfsmittel geeignet, ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist und das Maß des Notwendigen nicht überschreitet; darüberhinausgehende Leistungen darf die Krankenkasse gemäß § 12 Abs 1 SGB V nicht bewilligen (BSG 10.03.2011, B 3 KR 9/10 R). Die bei der Beklagten versicherte Klägerin hat aufgrund der vorliegenden Retinitis pigmentosa gemäß § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V Anspruch auf Krankenbehandlung, die nach Satz 2 Nr 3 auch die Versorgung mit Hilfsmitteln umfasst.

Aus der vorliegenden ärztlichen Verordnung des OkuStim® Systems nebst der als Verbrauchsmaterial zu ersetzenden Elektroden durch Dr. S. folgt noch nicht, dass die Klägerin auch einen Anspruch hierauf hat. Der Versorgungsanspruch nach § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V besteht weder allein aufgrund einer vertragsärztlichen Verordnung (§ 73 Abs 2 Satz 1 Nr 7 SGB V) des Hilfsmittels, noch weil ein Hilfsmittel als solches im Hilfsmittelverzeichnis (HMV) gelistet ist. Das vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen auf der Grundlage von § 139 SGB V erstellte HMV legt die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung gegenüber den Versicherten nicht verbindlich und abschließend fest. Es schließt weder Hilfsmittel von der Versorgung der Versicherten aus, die den gesetzlichen Anforderungen des § 33 SGB V genügen, noch besteht ein Anspruch der Versicherten auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die zwar im Hilfsmittelverzeichnis verzeichnet, für die aber nicht die gesetzlichen Voraussetzungen des § 33 SGB V erfüllt sind (BSG 10.04.2008, B 3 KR 8/07 R, SozR 4-2500 § 127 Nr 2 Rn 10; BSG 10.03.2011, B 3 KR 9/10 R, SozR 4-2500 § 33 Nr 33). Den Krankenkassen steht vielmehr ein eigenes Entscheidungsrecht zu, ob ein Hilfsmittel nach Maßgabe des § 33 SGB V zur medizinischen Rehabilitation, also zur Sicherung des Erfolges der Krankenbehandlung, zur Vorbeugung gegen eine drohende Behinderung oder zum Ausgleich einer bestehenden Behinderung im Einzelfall erforderlich ist. Dabei konnten die Krankenkassen bereits nach dem vor dem 11.04.2017 geltenden Recht zur Klärung medizinisch-therapeutischer Fragen den MDK nach § 275 Abs 3 SGB V einschalten (BSG 10.03.2011, aaO, unter Hinweis auf BSG 07.10.2010, B 3 KR 13/09 R, SozR 4-2500 § 33 Nr 31). Nach dem seit 11.04.2017 geltenden Recht (§ 33 Abs 5b Satz 1 SGB V) müssen die Krankenkassen, wenn sie - wie hier - nicht auf die Genehmigung des Hilfsmittels verzichtet haben, den Antrag auf Bewilligung des Hilfsmittels mit eigenem weisungsgebundenen Personal prüfen. Sie können in geeigneten Fällen durch den MDK vor Bewilligung eines Hilfsmittels nach § 275 Abs 3 Nr 1 SGB V prüfen lassen, ob das Hilfsmittel erforderlich ist (§ 33 Abs 5b Satz 2 SGB V). Eine Beauftragung Dritter ist nicht (mehr) zulässig (§ 33 Abs 5b Satz 3 SGB V).

Eine vertragsärztliche Verordnung ist nach der seit dem 30.10.2012 geltenden Rechtslage allenfalls dann für eine Krankenkasse verbindlich, wenn sie für bestimmte Hilfsmittel auf ein Prüfungs- und Genehmigungsrecht generell verzichtet haben, was zB durch vertragliche Vereinbarungen nach § 127 SGB V mit Leistungserbringern bzw deren Verbänden möglich ist (BSG 25.02.2015, B 3 KR 13/13 R, SozR 4-2500 § 33 Nr 44). Ein solcher Verzicht auf eine Genehmigung liegt hier nicht vor.

Da es sich bei OkuStim® um ein Medizinprodukt iSv § 3 Nr 1 Medizinproduktegesetz (MPG) handelt, gilt der Nachweis der Funktionstauglichkeit und der Sicherheit durch die vorliegende CE-Kennzeichnung grundsätzlich als erbracht (§ 139 Abs 5 Satz 1 SGB V). Ein weiterer Nachweis eines medizinischen Nutzens ist nicht erforderlich, denn es sind nicht für Hilfsmittel jeglicher Art klinische Prüfungsergebnisse vorzulegen. Das Nachweiserfordernis richtet sich vielmehr primär danach, ob es sich um Hilfsmittel handelt, die therapeutischen Zwecken dienen, oder um solche zum bloßen Behinderungsausgleich. In letzterem Fall ist der Nachweis eines medizinischen Nutzens, der über die Funktionstauglichkeit zum Ausgleich der Behinderung hinausgeht, weder von der Zielrichtung des Hilfsmittels geboten, noch in der Regel auch nur möglich (vgl BSG 16.09.2004, B 3 KR 20/04 R, SozR 4-2500 § 33 Nr 8 = SGb 2005, 349 mit Anm Beck; vgl auch LSG Berlin-Brandenburg 22.02. 2018, L 1 KR 56/14 – zu Laufrad mit Anm Knierim, MPR 2019, 33). Diese – von der Rspr bereits zur bisherigen Rechtslage entwickelte – Differenzierung hat sich der Gesetzgeber in der Neufassung von § 139 Abs 4 Satz 1 SGB V durch das HHVG (Aufnahme des Zusatzes "soweit erforderlich") ausdrücklich zu eigen gemacht (vgl BT-Drs 16/3100 S 150).

Vorliegend handelt es sich unstreitig nicht um ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich, sondern um ein solches zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung. Aufgrund einer fehlenden positiven Empfehlung des GBA ist die Versorgung mit OkuStim® daher über die Sperrwirkung des § 135 SGB V grundsätzlich ausgeschlossen. Wird ein Hilfsmittel als untrennbarer Bestandteil einer neuen vertragsärztlichen Behandlungs- oder Untersuchungsmethode eingesetzt, hat die Krankenkasse die Kosten hierfür grundsätzlich erst zu übernehmen, wenn der GBA die Methode positiv bewertet hat. Im Hinblick auf die Sicherung von Nutzen und Wirtschaftlichkeit von Behandlungsmethoden ist das Prüfungsverfahren beim GBA vorgeschaltet. Erst wenn diese Prüfung positiv ausgefallen ist, sind die für den Einsatz der dann anerkannten Methode notwendigen Hilfsmittel Gegenstand der Leistungspflicht der Krankenkassen (BSG 08.07.2015, B 3 KR 6/14 R, SozR 4-2500 § 139 Nr 7 = NZS 2015, 860 – CAM-Schiene und B 3 KR 5/14 R, SozR 4-2500 § 33 Nr 47= BeckRS 2015, 727224 – Glucosemonitoring System; vgl auch § 139 Abs 3 Satz 3 bis 5 SGB V idF vom 04.04.2017). Die 1. Alternative des § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V betrifft lediglich solche Gegenstände, die aufgrund ihrer Hilfsmitteleigenschaft spezifisch im Rahmen der ärztlich verantworteten Krankenbehandlung eingesetzt werden, um zu ihrem Erfolg beizutragen. Es ist ausreichend, aber auch notwendig, dass mit dem Hilfsmittel ein therapeutischer Erfolg angestrebt wird (BSG 16.09.2004, B 3 KR 19/03 R, BSGE 93, 176; BSG 08.07.2015, B 3 KR 5/14 R, aaO, Rn 20, mwN). Genau dies ist hier der Fall.

Als Hilfsmittel zur TES ist OkuStim® untrennbarer Bestandteil einer neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethode. Ärztliche bzw ärztlich verordnete Behandlungsmethoden iS der gesetzlichen Krankenversicherung sind medizinische Vorgehensweisen, denen ein eigenes theoretisch-wissenschaftliches Konzept zu Grunde liegt, das sie von anderen Therapieverfahren unterscheidet und das ihre systematische Anwendung in der Behandlung bestimmter Krankheiten rechtfertigen soll. "Neu" ist eine Methode, wenn sie zum Zeitpunkt der Leistungserbringung nicht als abrechnungsfähige ärztliche Leistung im EBM-Ä enthalten ist (BSG 27.09.2005, B 1 KR 28/03 R). So liegt der Fall hier. Es handelt sich um eine rein formale Abgrenzung. Ob in Leitlinien die entsprechende Behandlungsmethode bereits empfohlen wird oder sie bereits seit Jahren durchgeführt wird, ist nicht entscheidend. Eine Empfehlung des GBA zur Behandlung mit OkuStim® liegt noch nicht vor, es wurde jedoch bereits eine Erprobungsrichtlinie beschlossen. Eine Behandlung der Klägerin im Rahmen der Erprobung ist nicht möglich, da die Erkrankung bei ihr bereits zu weit fortgeschritten ist. Dies ergibt sich aus der Aussage der behandelnden Ärztin Dr. S. vom 12.12.2018. Nach § 3 Abs 1 der Richtlinie müssen Visus und Gesichtsfeld ein zu definierendes Mindestmaß aufweisen, von welchem aus eine Verlangsamung der Krankheitsprogredienz noch messbar ist.

Es liegt jedoch ein Ausnahmefall vor, in dem es keiner Empfehlung des GBA bedarf. Die Klägerin kann sich auf § 2 Abs 1a SGB V berufen. Nach dieser Vorschrift können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine von § 2 Abs 1 Satz 3 SGB V abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Diese Vorschrift setzt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (06.12.2005, 1 BvR 347/98) und die diese Rechtsprechung konkretisierenden Entscheidungen des BSG (zB BSG 04.04.2006, B 1 KR 12/04 R und B 1 KR 7/05 R; BSG 16.12.2008, B 1 KR 11/08 R) zur Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für neue Behandlungsmethoden, die Untersuchungsmethoden einschließen würden, in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung um. Mit dem Kriterium einer Krankheit, die zumindest mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung in der Bewertung vergleichbar ist, ist eine strengere Voraussetzung umschrieben, als sie etwa mit dem Erfordernis einer "schwerwiegenden" Erkrankung für die Eröffnung des so genannten Off-Label-Use formuliert ist. Nach den konkreten Umständen des Falles muss bereits drohen, dass sich ein voraussichtlich tödlicher Krankheitsverlauf innerhalb überschaubaren Zeitraums mit Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird; Ähnliches kann für den nicht kompensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion gelten. § 2 Abs 1a SGB V geht insoweit weiter als der verfassungsunmittelbare Anspruch (dazu BVerfG 10.11.2015, 1 BvR 2056/12).

Die Retinitis pigmentosa ist keine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung, sie ist jedoch wertungsmäßig mit solchen Erkrankungen vergleichbar. Eine drohende Erblindung ist nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung wertungsmäßig vergleichbar; lediglich hochgradige Sehstörungen reichen nicht aus (BSG 24.04.2010, B 1/3 KR 22/08 R, SozR 4-1500 § 109 Nr 3). Mit dem linken Auge kann die Klägerin nur noch Handbewegungen bzw zeitweise nur noch Lichtschein sehen: sie ist damit funktionell nur noch einäugig. Am rechten Auge besteht nur noch ein Visus von 0,02, ein Gesichtsfeld ist seit 2018 nicht mehr messbar. Die Klägerin gilt damit nach dem Gesetz als blind. Angesichts dieses sehr weit fortgeschrittenen Krankheitsverlaufs liegt eine notstandsähnliche Situation mit einem gewissen Zeitdruck vor, denn angesichts des nur noch sehr geringen vorhandenen Restsehvermögens führt jede weitere Verschlechterung zu einem irreparablen Schaden. Eine Behandlung mit dem Ziel der Verzögerung des Fortschreitens der Erkrankung muss daher so schnell wie möglich beginnen, um noch möglichst viel an Restsehvermögen erhalten zu können. Insoweit ist auch ein nur noch geringes Restsehvermögen für die Klägerin von überragender Bedeutung, denn selbst eine nur noch mögliche Lichtwahrnehmung erleichtert die Orientierung im Raum. Der notstandsähnlichen Situation steht daher nicht entgegen, dass der Zeitpunkt der vollständigen Erblindung im Sinne einer fehlenden Lichtwahrnehmung nicht genau prognostiziert werden kann.

Für Retinitis pigmentosa steht eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung. Dies ergibt sich aus dem Gutachten des MDK und den Aussagen der Dr. S. und ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig. Auch die Behandlung mit der streitigen Leistung im Rahmen einer Studie kommt für die Klägerin nicht in Betracht, wie Dr. S. für den Senat überzeugend und nachvollziehbar ausgeführt hat.

Entgegen der Auffassung der Beklagten besteht auch eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. Bei dem Behandlungsziel der Verlangsamung des Fortschreitens der Erkrankung handelt es sich ohne Zweifel um eine offenkundig positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. Zu den Behandlungszielen des § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V gehören die Heilung einer Krankheit, die Verhütung ihrer Verschlimmerung sowie die Linderung von Krankheitsbeschwerden. Eine "Verhütung der Verschlimmerung" setzt nicht voraus, dass diese dauerhaft ist, also die Erkrankung zum Stillstand kommt. Bei schicksalhaftem Verlauf der Erkrankung genügt es vielmehr, dass ihr Eintritt - hier die Erblindung - hinausgezögert wird (BSG 02.09.2014, B 1 KR 4/13 R, SozR 4-2500 § 18 Nr 9).

"Ernsthafte Hinweise" auf eine bestehende Erfolgsaussicht setzen methodisch voraus, dass sie medizinisch formal und inhaltlich von anderen nachvollzogen werden können, die in Rede stehenden Abläufe und Wirkungen also reproduzierbar und dadurch objektivierbar sind. Relevant sind ausschließlich wissenschaftliche Erkenntnisse (vgl Hauck, NJW 2007, 1320 ff). Nach der Rechtsprechung des BSG können auch wissenschaftliche Verlaufsbeobachtungen, unterstützt von parallelen Tierbeobachtungen und untermauert durch wissenschaftliche Erklärungsmodelle ausreichen (BSG 02.09.2014, B 1 KR 4/13 R, SozR 4-2500 § 18 Nr 9). Hier liegen aufgrund der durchgeführten Pilotstudie und der nachfolgenden Anwendungsbeobachtungen bereits ausreichende Hinweise auf eine positive Wirkung vor. Auf die zutreffenden Ausführungen des SG hierzu nimmt der Senat insoweit zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug (§ 153 Abs 2 SGG; ebenso LSG Rheinland-Pfalz 10.11.2017, L 5 KR 92/17). Auch der von der Beklagten zitierte Prof. Dr. Z. hat ausgeführt, dass die vorhandenen Daten auf eine protektive Wirkung auf die Zapfenfunktion der Netzhaut hinweisen. Dass insoweit noch weitere Studien erforderlich sind, um einen Wirksamkeits- und Nutzennachweis zu erzielen, steht der Erfolgsaussicht nicht entgegen. Aus § 2 Abs 1a SGB V resultiert eine Absenkung der Anforderungen, die ansonsten an den Evidenzgrad des Behandlungserfolgs zu stellen sind. Im vorliegenden Fall hat der Senat keinerlei Zweifel am Vorliegen ausreichender Hinweise für eine spürbar positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf, denn der GBA hat bereits das Potenzial der TES zur Behandlung der Retinitis pigmentosa bejaht und eine Erprobungsstudie beschlossen. Steht fest, dass die Behandlungsmethode Potenzial hat, liegen auch zugleich hinreichende Indizien für eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder spürbar positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf iSv § 2 Abs 1a SGB V vor. Die aktive Bereitschaft der Behandler, zum Abbau der (noch) vorhandenen Erkenntnisdefizite beizutragen, die unverzichtbarer Teil des auch der grundrechtsorientierten Auslegung und § 2 Abs 1a SGB V zugrundeliegenden medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses ist (vgl BSG 07.05.2013, B 1 KR 26/12 R, SozR 4-2500 § 18 Nr 8), liegt hier ebenfalls vor. Der Hersteller selbst hat die Durchführung einer Erprobungsstudie beantragt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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