S 1 U 688/19

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 1 U 688/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Leitsätze
Die Abfindung einer Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung steht im Ermessen des Unfallversicherungsträgers.

Bei seiner Entscheidung hat der Unfallversicherungsträger die berechtigten Interessen des Versicherten, der Unfallversicherungsträger und der Allgemeinheit zu wahren und gegeneinander abzuwägen.

Die Prognoseentscheidung des Unfallversicherungsträgers über eine ausreichende Lebenserwartung des Versicherten im Hinblick auf den Abfindungszeitraum unterliegt die vollen gerichtlichen Überprüfung. Abzustellen ist insoweit auf den Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides (Anschluss an Hess. LSG vom 28.01.2020 – L 3 U 90/17 – und LSG Baden-Württemberg vom 10.02.2005 – L 6 U 2063/04 - ).
Der Bescheid vom 23. Oktober 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Februar 2019 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu verbescheiden. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die Beklagte erstattet dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Abfindung einer Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung umstritten.

Der am 10.05.1963 geborene Kläger erlitt am 07.08.2013 einen Arbeitsunfall. Die Beklagte bewilligte ihm zunächst Verletztenrente als vorläufige Entschädigung (Bescheid vom 19.03.2015) und sodann auf unbestimmte Zeit (Bescheid vom 04.07.2016), jeweils nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v.H. der Vollrente. Dem Widerspruch des Klägers gab die Beklagte teilweise statt und bewilligte ab dem 04.02.2015 Verletztenrente nach einer MdE um 50 v.H. der Vollrente. Als Unfallfolgen anerkannte sie:

&61630; Bewegungseinschränkung des Schultergelenkes sowie leichte Fehlstellung des Sternoklavikulargelenkes nach Bankartläsion an der linken Schulter. &61630; Bewegungseinschränkung der Brust- und Lendenwirbelsäule, röntgenologisch nachgewiesene Veränderungen im Sinne einer beginnenden Spondylarthrose sowie Muskelverspannungen im Bereich der Lendenwirbelsäule nach Fraktur des 1. Lendenwirbelkörpers sowie Querfortsatzfraktur des 2. Lendenwirbelkörpers mit nachfolgender Spondylodese im Bereich Th 12/L 1 bei noch einliegendem Material. &61630; Kompensierte neurogene Blasenfunktionsstörung.

Keine Unfallfolgen seien degenerative Veränderungen im Bereich der Halswirbelsäule mit Bandscheibenvorfall im Segment C 3/C 4 mit Einengung des Spinalkanales, degenerative Veränderungen im Bereich der unteren Brust- und Lendenwirbelsäule und eine Baastrup-Spondylose im Segment L 4/L 5; auch eine erektile Dysfunktion sei nicht ursächlich auf das Unfallereignis oder dessen Folgen zurückzuführen, weil auch unfallunabhängige Risikofaktoren für diese Gesundheitsstörung wie z. B. langjähriger exzessiver Nikotinabusus, Bluthochdruck, erhöhte Blutfettwerte und eine Zweigefäßerkrankung bei Zustand nach Herzinfarkt nachgewiesen seien (Bescheid vom 07.03.2017).

Am 11.04.2018 beantragte der Kläger die Abfindung seiner Verletztenrente. Die Beklagte leitete Ermittlungen zu seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen ein, zog die Schwerbehindertenakte des Landratsamts X, über die AOK Y das Gutachten der Pflegefachkraft K. vom September 2017 und über den Internisten B. Laborwerte bei. Danach ließ sie den Kläger durch den Internisten Dr. N. untersuchen und begutachten. Diesem gegenüber gab der Kläger anamnestisch u.a. an, er rauche seit 1984 mit kurzen Pausen von wenigen Wochen ca. 15 bis 20 Zigaretten täglich. Sein Vater sei mit 62 Jahren an einem Herzinfarkt verstorben, seine Mutter, die mit 75 Jahren an Altersschwäche verstorben sei, habe unter Durchblutungsstörungen gelitten. Seine beiden Brüder seien mit 72 Jahren an Durchblutungsstörungen bzw. mit 62 Jahren an einem plötzlichen Herztod verstorben. Dr. N. diagnostizierte auf internistischem Fachgebiet einen Zustand nach Nicht-ST-Hebungsinfarkt mit Stentversorgung bei aktuell kardialer Beschwerdefreiheit und echokardiographisch normaler linksventrikulärer Funktion und führte zusammenfassend aus, bei vorzeitigem Herzinfarkt im Alter von 48 Jahren, anhaltendem Nikotinabusus und Hinweisen auf eine familiäre Indisposition für koronare Herzkrankheiten sei die Lebenserwartung des Klägers gering eingeschränkt. In seiner beratungsärztlichen Stellungnahme erachtete der Internist Prof. Dr. L. die Lebenserwartung des Klägers als vermindert: Bei koronarer Herzerkrankung habe der Kläger bereits 2011 einen Herzinfarkt erlitten, aufgrund dessen eine Stentimplantation erfolgt sei. Bei fortgesetztem Nikontinabusus, fehlender Therapie einer Fettstoffwechselstörung und nicht optimal eingestelltem arteriellem Bluthochdruck sei von einem Fortschreiten der prognostisch ungünstigen Risikofaktoren, insbesondere auch unter Beachtung des genetischen Risikos, und somit auch von einer Progredienz der koronaren Herzerkrankung auszugehen. Es bestehe ein hohes Risiko für weitere Folgeerkrankungen und für einen erneuten Herzinfarkt in den nächsten Jahren wie auch ein Risiko, daran zu versterben.

Gestützt auf das Ermittlungsergebnis lehnte die Beklagte die Abfindung der Verletztenrente ab: Auf eine Rentenabfindung bestehe kein Rechtsanspruch; vielmehr entscheide der Unfallversicherungsträger hierüber nach pflichtgemäßem Ermessen im wohlverstandenen Interesse des Antragstellers. Sie könne einer Abfindung nicht zustimmen, wenn die Lebenserwartung des Antragstellers geringer sei als diejenige des Durchschnitts einer gleichaltrigen Person, wobei die Lebenserwartung die Zeit des Abfindungszeitraums unterschreiten müsse. Abzuwägen seien die Interessen des Leistungsträgers gegenüber dem Interesse des Versicherten. Nach dem Ergebnis der medizinischen Sachaufklärung leide der Kläger an verschiedenen internistischen Erkrankungen und bestehe eine familiäre genetische Disposition hierfür. Außerdem führe der Kläger seinen Nikotinabusus fort und habe trotz erhöhter Blutfettwerte die cholesterinsenkende Medikation abgesetzt. Dr. N. habe überdies Hinweise auf eine nicht optimale Blutdruckregulation objektiviert. Unter Berücksichtigung dieser Faktoren sei von einem weiteren Fortschreiten der koronaren Herzerkrankung auszugehen. Es besteht ein hohes Risiko für das Auftreten eines erneuten Herzinfarkts in den nächsten Jahren oder ein Versterben des Klägers innerhalb des Abfindungszeitraums von 10 Jahren. Auch wenn die bisherigen kardiologischen Kontrollen keine Einschränkung der linksventrikulären Funktion und keine belastungsindizierte Ischämie ergeben hätten, sei unter Abwägung der Risikofaktoren gegenüber dem Interesse des Klägers eine Abfindung der Verletztenrente nicht möglich (Bescheid vom 23.10.2018, Widerspruchsbescheid vom 13.02.2019).

Deswegen hat der Kläger am 22.02.2019 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben, mit der er sein Begehren weiterverfolgt. Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor, auch unter Berücksichtigung der Risikofaktoren sei die Prognose, er werde in den nächsten 10 Jahren versterben, nicht zutreffend. Dr. N. gehe überdies von einer allenfalls gering eingeschränkten Lebenserwartung aus und habe darauf hingewiesen, die bisherigen kardiologischen Kontrollen hätten keine Einschränkung der linksventrikulären Funktion oder eine belastungsinduzierte Ischämie ergeben. Seine statistische restliche Lebenserwartung betrage mehr als 25 Jahre.

Das Gericht hat den Orthopäden Dr. A. und den Internisten B. schriftlich als sachverständige Zeugen gehört: Dr. A. hat unter Beifügung zahlreicher weiterer Arztunterlagen, u. a. des Entlassungsberichts des SRH Gesundheitszentrums Z. vom Juli 2018, mitgeteilt, der Kläger leide unfallunabhängig an einem operierten Bandscheibenvorfall im Segment C 4/5 rechts. Die Einschränkungen auf seinem Fachgebiet "sollten nicht zwangsläufig zu einer eingeschränkten Lebenserwartung führen". Bezüglich der koronaren Herzkrankheit, eines Bluthochdrucks und eines ehemaligen Nikotinabusus könne er sich nicht äußern. Der Internist B. hat unter Beifügung eines Ausdrucks aus einer Patientendatei bekundet, die Lebenserwartung des Klägers könne allein durch die koronare Herzkrankheit reduziert sein; er könne jedoch keinen konkreten Zeitraum benennen.

Sodann hat die Kammer von Amts wegen ein internistisch-kardiologisches Sachverständigengutachten bei Dr. T. eingeholt. Dr. T. hat als Gesundheitsstörungen bei Zustand nach NSTEMI 2011 bei koronarer Zweigefäßerkrankung mit PCI und Stent eine gute Herzfunktion ohne Hinweise auf eine Progression der koronaren Herzkrankheit, einen Ex-Nikotinabusus mit leichtgradiger teilreversibler Atemwegsobstruktion und eine medikamentös eingestellte arterielle Hypertonie diagnostiziert. Zusammenfassend hat der Sachverständige ausgeführt, alle seit 2011 durchgeführten Untersuchungen hätten keinen Hinweis auf eine Progression der internistischen Grunderkrankung gegeben. Die Belastbarkeit des Klägers sei nicht eingeschränkt. Echokardiographisch und laborchemisch sei eine gute Pumpleistung beider Herzkammern zu verzeichnen. Eine relevante Lebenszeitverkürzung sei daher nicht realistisch. Auch die nur leicht ausgeprägte Atemwegsobstruktion bewirke keine relevante Lebenszeitverkürzung, sofern der Kläger das Zigarettenrauchen dauerhaft aufgebe. Bei konsequenter Medikation führe die Bluthochdruckerkrankung ebenfalls nicht zu einer relevant verkürzten Lebenszeit. Eine langjährig inadäquat eingestellte arterielle Hypertonie sei zu bezweifeln; denn dies hätte zu einer relevanten Linksherzhypertrophie geführt, die bei dem Kläger indes nicht zu objektivieren sei. Sein Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse innerhalb der nächsten 10 Jahre betrage laut PROCAM-score 2,2 % und laut ASCVD risk-score 6 %. Eine erbliche Vorbelastung sei hier nicht relevant, weil die kardiovaskulären Ereignisse bei den Verwandten ersten Grades erst nach dem 60. Lebensjahr eingetreten seien. Ein Ableben des Klägers innerhalb der nächsten 10 Jahre sei nicht sehr wahrscheinlich, sofern er nicht wieder zu Rauchen beginne und seine Hochdruckmedikamente konsequent einnehme.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 23. Oktober 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Februar 2019 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die wegen des Arbeitsunfalls vom 07. August 2013 gezahlte Verletztenente abzufinden, hilfsweise, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 23. Oktober 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Februar 2019 zu verurteilen, seinen Antrag auf Abfindung seiner Dauerrente nach einer MdE um 50 v.H. unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu verbescheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Unter Vorlage einer beratungsärztlichen Stellungnahme von Prof. Dr. L. erachtet sie die angefochtenen Bescheide für zutreffend.

Mit Schreiben vom 06.04.2020 hat das Gericht den Beteiligten mitgeteilt, es erwäge eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter durch Gerichtsbescheid, und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der vorliegenden Verwaltungsakten der Beklagten sowie den der elektronisch geführten Prozessakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1. Über die Klage entscheidet das erkennende Gericht gem. § 105 Abs. 1 S. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid, weil sie der Auffassung ist, dass die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist, und der Sachverhalt geklärt ist. Dem steht nicht entgegen, dass die Kammer zunächst Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt hatte und - nach Terminsaufhebung - von der erneuten Anordnung einer mündlichen Verhandlung abgesehen und das Verfahren nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG gewählt hat (vgl. BSG vom 30.11.2016 – B 6 KA 18/16 B -, Rn. 7 und BVerwG, NVwZ 1999, 1109). Denn es gibt keinen Grundsatz des Inhalts, dass ein Gericht an einer einmal getroffenen Entscheidung zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung gebunden ist (vgl. BSG, a.a.O. und Brink/Peters BeckOK VwGO, Stand 01.01.2020, § 84, Rn. 21).

2. Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG)) zulässig und im Hilfsantrag begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG). Denn die Beklagte ist bei der Prüfung des Abfindungsantrags von unzutreffenden Voraussetzungen ausgegangen. Da die Entscheidung über die Abfindung einer Verletztenrente jedoch im pflichtgemäßen Ermessen der Beklagten steht, kann das Gerichts sie nur dazu verurteilen, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu verbescheiden.

3. Versicherte, die Anspruch auf eine Rente wegen einer MdE von 40 v.H. oder mehr haben, können auf ihren Antrag durch einen Geldbetrag abgefunden werden (§ 78 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuchs – Gesetzliche Unfallversicherung – (SGB VII)). Eine Abfindung kann nach Abs. 2 der genannten Bestimmung nur bewilligt werden, wenn die Versicherten das 18. Lebensjahr vollendet haben (Nr. 1) und nicht zu erwarten ist, dass innerhalb des Abfindungszeitraums die MdE wesentlich sinkt (Nr. 2). Die Rente kann gemäß § 79 Satz 1 SGB VII (variabel) bis zur Hälfte für einen Zeitraum von 10 Jahren abgefunden werden. Als Abfindungssumme wird das Neunfache des der Abfindung zugrundeliegenden Jahresbetrages der Rente gezahlt (§ 79 Satz 2 SGB VII).

Die Grundvoraussetzungen einer Rentenabfindung (Anspruch auf eine Verletztenrente nach einer MdE um wenigstens 40 v.H. der Vollrente, Antrag des Klägers, Vollendung des 18. Lebensjahres sowie die Prognose, dass innerhalb des Abfindungszeitraums seine unfallbedingte MdE nicht wesentlich sinkt) sind vorliegend unstreitig erfüllt. Gegenteiliges macht auch die Beklagte nicht geltend.

Auf eine Rentenabfindung besteht nach dem Wortlaut des § 78 Abs. 1 Satz 1 SGB VII kein Rechtsanspruch des Versicherten; vielmehr "kann" die Rente auf seinen Antrag hin abgefunden werden. Hierbei handelt es sich nicht um ein bloßes "Kompetenz-Kann" (vgl. BSG SozR 4-2700 § 76 Nr. 2, Rn. 8 m.w.N.), sondern steht die Entscheidung des Unfallversicherungsträgers in dessen Ermessen (vgl. BSG a.a.O.; Jung in jurisPK–SGB VII, 2. Aufl. 2014, § 78 Rn. 10 und Kranig in Hauck/Noftz, SGB VII, Stand 08/18, § 78, Rn. 1 und 11 ff).

Soweit die Leistungsträger ermächtigt sind, bei der Entscheidung über Sozialleistungen nach ihrem Ermessen zu handeln, haben sie ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten (§ 39 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – (SGB I)). Der Versicherte hat Anspruch auf eine pflichtgemäße Ausübung des Ermessens (§ 39 Abs. 1 Satz 2 SGB I). Hingegen entsteht ein Anspruch auf eine bestimmte Sozialleistung nur aufgrund der Bewilligungsentscheidung (§ 40 Abs. 2 SGB I). Darüber hinaus kann im Einzelfall ein Rechtsanspruch auf eine Leistung ausnahmsweise bei einer "Ermessensreduzierung auf Null" bestehen, bei der es nur ein ermessensgerechtes Ergebnis gibt (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 54, Rn. 29 m.w.N.). Die gerichtliche Überprüfung einer Ermessensentscheidung ist gemäß § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG auf eine Rechtmäßigkeitsprüfung begrenzt: Das Gericht hat danach nur zu prüfen, ob der Träger sein Ermessen überhaupt ausgeübt, er die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder ob er von seinem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat.

4. Gemessen daran hat die Beklagte bei ihrer ablehnenden Entscheidung zwar Ermessen ausgeübt, wie sich aus den Begründungen des angefochtenen Bescheides und des Widerspruchsbescheides ergibt. Sie hat dabei indes nach Auffassung des erkennenden Gerichts ermessensfehlerhaft gehandelt.

a) Als Ermessensfehler kommt nur eine dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechende Ermessensausübung in Betracht. Ein Ermessensfehlgebrauch liegt zum einen vor, wenn die Behörde ein unsachliches Motiv oder einen sachfremden Zweck verfolgt (Ermessensmissbrauch). Zum anderen liegt der Fehlgebrauch als Abwägungsdefizit vor, wenn sie nicht alle Ermessensgesichtspunkte, die nach Lage des Falls zu berücksichtigen sind, in die Ermessensfindung einbezogen hat. Der Fehlgebrauch kann zudem als Abwägungsdisproportionalität vorliegen, wenn die Behörde die abzuwägenden Gesichtspunkte rechtlich fehlerhaft gewichtet oder wenn sie ihrer Ermessensbetätigung einen unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt zugrunde gelegt hat (vgl. BSG SozR 4-2700 § 76 Nr. 2 Rn. 12 und Hess. LSG vom 28.01.2020 – L 3 U 90/17 –, Rn. 24 (juris)). Wenn der eine Sozialleistung regelnde Verwaltungsakt wegen Ermessensnicht- oder –fehlgebrauchs rechtswidrig ist, darf das Gericht nur den Verwaltungsakt aufheben und den Träger zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts verurteilen, nicht jedoch eigene Ermessenserwägungen anstellen und sein Ermessen an die Stelle des Ermessens des Leistungsträgers setzen (vgl. u. a. BSG SozR 4-2700 § 101 Nr. 1, Rn. 14 ff und Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, a.a.O., Rn. 28). Im Fall einer Rentenabfindung beziehen sich die zulässigen Ermessensgesichtspunkte darauf, berechtigte Interessen des Versicherten, der Unfallversicherungsträger und der Allgemeinheit zu wahren und gegeneinander abzuwägen (vgl. Kranig a.a.O., Rn. 11). Die Ermessenserwägungen sind darauf zu erstrecken, ob der Antragsteller eine im Hinblick auf den Abfindungszeitraum von 10 Jahren ausreichende Lebenserwartung hat. Denn der Unfallversicherungsträger hat im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens auch die Interessen seiner Beitragszahler zu wahren und kann die Abfindung, bei der es sich um eine Rentenvorauszahlung (vgl. Streubel in LPK-SGB VII, 5. Aufl. 2018, § 79, Rn. 4) für 10 Jahre handelt, im Fall des vorzeitigen Ablebens nicht zurückfordern. Neben der finanziellen Leistungsfähigkeit des Unfallversicherungsträgers können zudem auch schutzwürdige, vom Unfallversicherungsträger zu wahrende Interessen der Allgemeinheit herangezogen werden, insbesondere, ob der Antragsteller ohne den abgefundenen Teil der Rente sofort oder wahrscheinlich in absehbarer Zeit sozialhilfebedürftig wird und damit der Bezug anderer steuerfinanzierter Sozialleistungen droht (vgl. Hess. LSG, a.a.O., Rn. 25 m.w.N. (juris)).

Die Beklagte hat die Ablehnung der Rentenabfindung damit begründet, dass bei dem Kläger das Risiko einer gesundheitsbedingten Lebenszeitverkürzung innerhalb des Abfindungszeitraums von 10 Jahren besteht. Diese Prognoseentscheidung hat die Kammer voll zu überprüfen (vgl. Hess. LSG, a.a.O. Rn. 26 (juris) und Kranig, a.a.O., m.w.N.) Hinsichtlich des Zeitpunkt der Prognose ist dabei auf den Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides abzustellen (vgl. Hess. LSG, a.a.O., Rn. 26 und LSG Baden-Württemberg vom 10.02.2005 – L 6 U 2063/004 – Rn. 35 (jeweils juris); ferner Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, a.a.O., § 54, Rn. 43a).

b) Daran orientiert hat die Beklagte in ihrer Ermessensentscheidung Erwägungen angestellt, die dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechen und sich damit als Ermessensmissbrauch darstellen. Denn sie hat ihre Entscheidung maßgebend damit begründet, dass die gesundheitliche Situation des Klägers ein hohes Risiko für eine eingeschränkte Lebenserwartung innerhalb des Abfindungszeitraums beinhaltet. Zwar kann die Beklagte als zulässigen Ablehnungsgrund auch eine unzureichende Lebenserwartung des Klägers mit in ihre Ermessenentscheidung einbeziehen. Sie kann den Antrag ablehnen, wenn die Lebenserwartung des Versicherten geringer als altersüblich ist. Maßgebend ist die Lebenserwartung aufgrund ermittelbarer medizinischer Daten (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, Breithaupt 1995, 613 ff). Die Abfindung kann versagt werden, wenn entgegen der vom Lebensalter gegebenen allgemeinen Lebenserwartung nach der besonderen Schwere des Gesundheitszustandes und der Entwicklungstendenz der Leiden des Berechtigten die ernstzunehmende Gefahr besteht, dass der Tod des Versicherten vor Ablauf von 10 Jahren eintreten kann. Eine Gewissheit oder "hohe Wahrscheinlichkeit" ist insoweit indes nicht zu fordern (vgl. Kranig, a.a.O. und Hess. LSG, a.a.O., Rn. 27 (juris)).

Zur Überzeugung des erkennenden Gerichts bestehen aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens hier keine solchen Gesichtspunkte, aufgrund derer die ernsthafte Gefahr eines Ablebens des Klägers innerhalb von 10 Jahren besteht.

aa) Im Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides im Februar 2019 stand der im Mai 1963 geborene Kläger im 56. Lebensjahr. Er hatte damit eine statistische Lebenserwartung von (noch) 21,7 Jahren (vgl. die vom Statistischen Bundesamt veröffentlichte Periodensterbetafel für 2016/2018, abrufbar im Internet unter https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Sterbefaelle-Lebenserwartung/Publikationen/Downloads-Sterbefaelle/periodensterbetafel-erlaeuterung-5126203187004.pdf? blob=publicationFile, Seite 13), und damit deutlich länger als der Abfindungszeitraum von 10 Jahren.

bb) Entgegen der Auffassung der Beklagten lassen auch die internistischen Gesundheitsstörungen keine ernsthafte Gefahr des Ablebens des Klägers innerhalb des Abfindungszeitraums erkennen. Dies entnimmt die Kammer den wohlbegründeten, kompetenten und widerspruchsfreien Darlegungen des Sachverständigen Dr. T ... Zwar hat der Kläger im Juni 2011 einen Herzinfarkt bei koronarer Zweigefäßerkrankung erlitten, weshalb er u.a. mit einem Stent versorgt wurde (vgl. Entlassungsberichte des Krankenhauses Mühlacker vom 04.07.2011 und vom 24.08.2011). Dr. T. hat indes zutreffend darauf hingewiesen, dass alle Ergebnisse nachfolgender Untersuchungen ohne Hinweis auf eine Progression der Grunderkrankung ausgefallen sind: So hat der behandelnde Internist Dr. S. im September 2011 eine gute Pumpfunktion des linken Ventrikels und keine signifikanten Wandbewegungsstörungen objektiviert, wie sich aus seinem Arztbrief vom 09.09.2011 ergibt. Der Internist Dr. M. erhob bei der weiteren kardiologischen Untersuchung im Mai 2014 gleichlautende Befunde wie Dr. S., eine normale Herzklappenseparation, kein Vitium und keine Rechtsherzbelastung und eine Ejektionsfraktion von ca. 74%, was einen völlig unauffälligen Wert darstellt (vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch online, Stichwort "Ejektionsfraktion"). Der sachverständige Zeuge B. hat bei den ambulanten Vorstellungen des Klägers seit Dezember 2014 bis zuletzt im Juni 2019 ebenfalls keine krankhaften Befunde am Herzen erhoben, wie sich aus dem Ausdruck aus seiner Patientendatei ergibt; vielmehr zeigte sich der Kläger durchgehend kardial stabil. Auch bei der Untersuchung und Begutachtung durch Dr. T. war die Herzleistungsfähigkeit des Klägers nicht eingeschränkt. Echokardiographisch und auch laborchemisch hat der Sachverständige eine gute Pumpleistung beider Herzkammern objektiviert. Dies belegt u.a. die echokardiographisch erhobene Ejektionsfraktion von 65%, die damit ebenfalls innerhalb des Referenzbereichs bei einem Erwachsenen von 60 bis 70% lag. Anhaltspunkte für eine wesentliche Einschränkung des Gehvermögens hat Dr. T. ebenfalls überzeugend verneint. Denn der Kläger konnte eine Gehstrecke von insgesamt 500 m innerhalb von knapp 9 Minuten bewältigen und war beim Treppensteigen auch nach der 38. Stufe nicht außer Atem. Die obstruktive Atemwegserkrankung ist mit Dr. T. nur leichtgradig ausgeprägt und stellt, nachdem der Kläger zwischenzeitlich auch das Rauchen eingestellt hat – auf einen früheren Nikotinabusus hatte auch der sachverständige Zeuge Dr. A. hingewiesen – keinen relevanten Faktor dar, eine mutmaßliche Lebenszeitverkürzung des Klägers ernsthaft anzunehmen. Gleiches gilt für die Bluthochdruckerkrankung des Klägers. Denn diese ist angesichts der von Dr. T. bei der arteriellen Doppler-Untersuchung gemessenen systemischen Blutdruckwerte von 140/80 mmHg nur leicht ausgeprägt und überdies medikamentös behandelt. Gegen die Annahme einer langjährig inadäquat eingestellten arteriellen Hypertonie spricht mit Dr. T. der Umstand, dass in diesem Fall regelmäßig eine relevante Linkherzhypertrophie zu erwarten ist, die bei dem Kläger indes nicht vorliegt. Weiter ist auch eine relevante Fettstoffwechselstörung nach den von Dr. T. erhobenen Laborwerten (Cholesterin: 167 mg/dl; Triglyceride: 101 mg/dl; HDL 60 mg/dl) nicht gegeben.

cc) Dr. T. weist schließlich zutreffend darauf hin, dass unter Berücksichtigung des ASCVD-risk-scores das Risiko des Klägers für kardiovaskuläre Ereignisse innerhalb der nächsten 10 Jahre knapp 6 % und unter Berücksichtigung des PROCAM-scores sogar nur 2,2 % einschließlich tödlicher oder nicht tödlicher Herzinfarktrezidive beträgt. Wenn deshalb der gerichtliche Sachverständige zusammenfassend ausführt, dass mit Blick auf die internistischen Gesundheitsstörungen ein Ableben des Klägers innerhalb der nächsten 10 Jahre nicht sehr wahrscheinlich ist, sofern er nicht wieder beginnt zu rauchen und seine Hochdruckmedikamente konsequent einnimmt, ist dies auch für das erkennende Gericht nachvollziehbar und überzeugend.

dd) Eine familiäre Disposition des Klägers aufgrund kardiovaskulärer Ereignisse bei seinen Eltern und seinen beiden Brüdern führt zu keinem anderen Ergebnis. Denn im Anschluss an die auch insoweit überzeugenden Darlegungen des Sachverständige Dr. T. gelten erbliche Vorbelastungen (nur) dann als relevant, wenn kardiovaskuläre Ereignisse bei Verwandten ersten Grades vor dem 60. Lebensjahr eingetreten sind. Bezogen auf die Eltern (Verwandte ersten Grades) und die beiden Brüder (Verwandte zweiten Grades: § 1589 S. 3 BGB) des Klägers liegen diese Voraussetzungen hier nicht vor.

ee) Bestätigt wird das Ergebnis des Gutachtens des Dr. T. zur Überzeugung des erkennenden Gerichts bereits durch das Gutachten des Dr. N. Denn dieser geht unter zusätzlicher Berücksichtigung hier nicht relevanter familiärer Indispositionen für eine koronare Herzerkrankung von einer nur "gering eingeschränkten Lebenserwartung" aus. Auch Dr. B. erachtet allein aufgrund der vormals bestehenden koronaren Herzerkrankung die Lebenserwartung des Klägers als nur möglicherweise ("kann") reduziert. Die ernsthafte Gefahr eines vorzeitigen Ablebens lässt sich hieraus nicht ableiten.

5. Anders ist auch nicht aufgrund der beratungsärztlichen Stellungnahmen des Prof. Dr. L. zu entscheiden. Denn dessen als qualifiziertes Beteiligtenvorbringen (vgl. BSG vom 06.10.2016 – B 5 R 45/16 B –, Rn. 19 (juris)) verwertete Ausführungen misst die Kammer gegenüber dem Gutachten des Sachverständigen Dr. T. schon deshalb einen geringeren Beweiswert zu, weil Prof. Dr. L. – anders als Dr. T. – den Kläger nicht untersucht und begutachtet hat und sich damit von dessen Gesundheitszustand auch keinen persönlichen Eindruck verschaffen konnte.

6. Damit hat die Beklagte in Überschreitung des ihr eingeräumten Ermessens eine unzulässige Prognoseentscheidung getroffen. Zur Überzeugung der Kammer durfte aus den beim Kläger unstreitig bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen insgesamt nicht auf ein ernsthaftes Risiko einer lebensbegrenzenden Wirkung geschlossen werden. Damit erweisen sich die angefochtenen Bescheide als rechtswidrig und ist die Beklagte verpflichtet, über den Abfindungsantrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Abs. 1 und 4 SGG.
Rechtskraft
Aus
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