L 3 R 358/19

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 11 R 1475/16
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 3 R 358/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten über eine Rente wegen Erwerbsminderung nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (Gesetzliche Rentenversicherung - SGB VI).

Die am ... 1961 geborene Klägerin begann ihre berufliche Ausbildung im September 1979, dem ersten belegten Monat in ihrem Versicherungsverlauf, und schloss im Juli 1981 erfolgreich ihre Ausbildung zum Kellner ab. Von Mai bis Dezember 1992, von November 1994 bis April 1995 und von Mai bis Dezember 2002 nahm sie an aus Mitteln der Arbeitsförderung getragenen Weiterbildungsmaßnahmen teil. Der Versicherungsverlauf vom 28. Januar 2020 enthält Pflichtbeitragszeiten auf Grund einer geringfügigen versicherungspflichtigen Beschäftigung bis zum 20. Februar 2013 aus einem nach Angaben der Klägerin fortbestehenden Arbeitsverhältnis in einem Kiosk-Imbiss. Die Klägerin war seit dem 1. Juli 2012 über ihren Ehemann im Rahmen der Familienversicherung, d.h. ohne eigene Beitragszahlung, krankenversichert. Eine Arbeitslosmeldung erfolgte durch die Klägerin nicht.

Nach Angaben der Klägerin von November 2018 und Juli 2019 ist bei ihr ein Grad der Behinderung (GdB) von 20 anerkannt.

Die Klägerin beantragte am 20. Juni 2014 bei der Beklagten die Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Die Beklagte lehnte den Rentenantrag zunächst mit Bescheid 29. Januar 2015 mit der Begründung ab, zum Zeitpunkt des möglichen Eintritts der Erwerbsminderung am 20. Juni 2014 seien im maßgebendem Fünf-Jahres-Zeitraum vom 20. Juni 2009 bis zum 19. Juni 2014 nur 31 Monate mit Pflichtbeiträgen belegt. Daher erfülle die Klägerin die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die beantragte Rente nicht. In dem beigefügten Versicherungsverlauf sind Pflichtbeitragszeiten für Kindererziehung/Schwangerschaft/Mutterschutz vom 1. Januar 1985 bis zum 31. Dezember 1986, vom 1. September 1988 bis zum 31. August 1990 und vom 1. Oktober 1998 bis zum 30. September 2001 und Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung im Beitrittsgebiet vom 30. Dezember 1984 bis zum 6. August 1998 und vom 27. September 1998 bis zum 26. September 2008 gespeichert.

Mit ihrem Widerspruch machte die Klägerin geltend, seit Mai 2009 ihre Enkeltochter zu erziehen und seit 2013 durchgehend arbeitsunfähig wegen Krankheit zu sein. Sie beantragte als Ergänzung ihres Widerspruchsvorbringens am 17. Februar 2015 die Feststellung von Kindererziehungszeiten/Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung für das am ... 2008 geborene Kind L. und gab in diesem Zusammenhang an, das Kind seit dem 28. Mai 2010 durchgehend als "Pflegekind" erzogen zu haben. L. sei ihrem am ... 1988 geborenen Sohn N. als Vater "vom Jugendamt zugesprochen" worden. Da dieser ab 2010 eine Ausbildung mit Schichten angefangen habe, sei das Kind überwiegend von ihr - der Klägerin - erzogen worden. Das Sorgerecht für L. hätten beide Eltern, nur das Recht der Aufenthaltsbestimmung liege bei dem Vater. Die am ... 1991 geborene, d.h. bei der Geburt von L. minderjährige, Mutter habe keinen Kontakt mit dem Kind. Hierzu wurden Urkunden über die Anerkennung der Vaterschaft durch N. und über die gemeinsame Sorge vom 28. Mai 2010 bei der Beklagten eingereicht. Nach den Anmeldebestätigungen der Meldebehörde der Stadt S. vom 28. Mai 2010 waren L. ab diesem Datum und N. ab dem 28. Mai 2010 unter derselben Adresse wie die Klägerin gemeldet. Vorausgehend war L. mit beiden Eltern, d.h. auch mit ihrer Mutter, schon bis zum 16. Januar 2009 ebenfalls unter der Adresse der Klägerin und dann bei ihrem Vater N. (unklar ob auch dort mit ihrer Mutter) in einer anderen Wohnung in S. gemeldet (W. Straße ...). Ausweislich der erweiterten Melderegisterauskunft der Stadt S. vom 30. März 2015 waren ab dem 22. Februar 2014 L. und ihr Vater unter nicht mit der Adresse der Klägerin übereinstimmenden Wohnadressen in S. (erst H. Straße ..., dann M. Straße ...) gemeldet. Die Mutter von L. wohnt nach der Auskunft aus dem Melderegister vom 9. Dezember 2015 zumindest seit dem 1. August 2015 wieder in S ... Nach den Angaben der Klägerin im Klageverfahren waren die Eltern von L. im Übrigen zumindest zeitweise verheiratet.

Die Beklagte speicherte nachfolgend mit Feststellungsbescheid vom 13. April 2016 (nach Aktenlage nach Anhörung, aber ohne Einverständnis der Kindesmutter) im Versicherungskonto der Klägerin weitere Pflichtbeitragszeit für Kindererziehung vom 1. Juni 2010 bis zum 30. November 2011 und Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung im Beitrittsgebiet vom 1. Juni 2010 bis zum 28. Februar 2014.

Die Klägerin legte eine von der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dipl.-Med. Wo. ausgestellte und als Folgebescheinigung gekennzeichnete Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auf dem Vordruck zur Vorlage beim Arbeitgeber vom 30. Januar 2015 für den Zeitraum seit dem 10. Januar 2013 mit Geltung bis zum 28. Februar 2015 bei der Beklagten vor.

Die Beklagte zog im Übrigen die Unterlagen aus dem vorausgegangenen Rehabilitationsverfahren bei. Nach dem Entlassungsbericht der Rehabilitationsklinik E. vom 21. Oktober 2013 wurde die Klägerin nach der am 10. September 2013 durchgeführten Implantation einer Hüft-Total-Endoprothese (Hüft-TEP) rechts aus der vom 25. September bis zum 16. Oktober 2013 durchgeführten stationären Rehabilitationsmaßnahme als arbeitsunfähig entlassen. In der zum Zeitpunkt der Entlassung aus der Maßnahme noch bestehenden Beschäftigung als Kioskverkäuferin sei die Klägerin nicht mehr, in körperlich leichten Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes sechs Stunden und mehr täglich einsetzbar. Psychische oder soziale Belastungen seien von der Klägerin nicht beschrieben worden.

Die Beklagte holte im Übrigen das auf der Grundlage der ambulanten Untersuchung am 22. März 2016 erstattete Gutachten von der Fachärztin für Orthopädie Dr. Sc. vom 24. März 2016 ein. Bei der adipösen Klägerin bestünden persistierende Coxalgien. Die klinische Untersuchung habe eine Insuffizienz der pelvitrochantären Muskulatur rechts bei guter Gelenkfunktion ergeben. Die Röntgenaufnahmen des rechten Hüftgelenkes zeigten einen deutlichen Resorptionsraum im Pfannenbereich mit Verdacht auf Pfannenlockerung. Zur Diagnosesicherung sollte eine Kontrollszintigrafie erfolgen und ggf. bei Bestätigung ein Pfannenwechsel veranlasst werden. Des Weiteren bestehe ein chronisches lumbales Schmerzsyndrom bei degenerativen Veränderungen des lumbosakralen Übergangs und erstgradiger rechtskonvexer lumbaler Torsionsskoliose. Signifikante funktionelle Defizite oder sensomotorische Ausfälle hätten sich nicht nachweisen lassen. Es bestünden auch muskuläre Dysbalancen. Die von der Klägerin geklagten Beschwerden seien durchaus glaubhaft. Es bestehe eine dauerhafte Einschränkung der statisch-mechanischen Belastbarkeit sowohl des rechten Hüftgelenkes als auch der Lendenwirbelsäule (LWS). Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt komme die Ausübung einer körperlich leichten bis mittelschweren Tätigkeit in Betracht. Zu vermeiden seien Zwangshaltungen der Wirbelsäule, das ständige oder gehäufte Besteigen von Leitern und Treppen oder Bewegen und Heben von Gegenständen mit mehr als 10 kg Gewicht. Ggf. komme vor Wiederaufnahme einer beruflichen Tätigkeit die Sanierung der Hüft-TEP-Pfanne rechts in Betracht. Die Klägerin verfüge über eine Fahrerlaubnis und könne eine Wegstrecke von mehr als 500 m innerhalb von 20 Minuten viermal täglich zurücklegen.

Mit Bescheid vom 15. April 2016 lehnte die Beklagte unter Hinweis darauf, dieser Bescheid werde nach § 86 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zum Gegenstand des anhängigen Widerspruchsverfahrens, den Rentenantrag vom 20. Juni 2014 erneut ab. Zwar habe die Klägerin die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen einer Rente wegen Erwerbsminderung zum Zeitpunkt der Antragstellung am 20. Juni 2014 erfüllt. Die Kläger sei aber nicht erwerbsgemindert, da bei ihr ein Leistungsvermögen für mindestens sechs Stunden und mehr täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes vorliege. Die Klägerin teilte hierzu mit, ihren Widerspruch aufrechtzuerhalten.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 2. November 2016 als unbegründet zurück. Bei der Klägerin liege ein Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr täglich für leichte bis mittelschwere Arbeiten in wechselnder Arbeitshaltung - ohne häufiges Bücken, Ersteigen von Leitern und Gerüsten, Heben, Tragen und Bewegen von Lasten, Zwangshaltungen, Kälte, Nässe, Erschütterungen, Vibrationen, Absturzgefahr - vor.

Mit ihrer am 5. Dezember 2016 vor dem Sozialgericht Magdeburg erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt. Ihr Gesundheitszustand habe sich verschlechtert. Sie leide dauerhaft unter Schmerzen. Die Bewegungseinschränkung habe massiv zugenommen. Ohne Pausen könne sie sich maximal zehn Minuten ohne erheblichen weiteren Schmerz bewegen. Sie hat sich auf eine Bescheinigung der AOK Sachsen-Anhalt vom 21. August 2017 über gemeldet Zeiten der Arbeitsunfähigkeit (mit den Diagnoseschlüsseln nach ICD-10) gestützt: 24. bis 25. Mai 2013 (M51.2), 9. bis 20. September 2013 (M51.2), seit dem 25. März 2014 (Z 96.6) und seit dem 11. Januar 2016 (N 39.42). Das Schreiben enthält handschriftliche Zusätze mit ungeklärter Urheberschaft. Zu der Bescheinigung wird auf Blatt 66 Bd. I der Gerichtsakten Bezug genommen.

Das Sozialgericht hat durch Einholung von Befundberichten ermittelt. Die Fachärzte für Chirurgie und Unfallchirurgie Li. und R. haben im November 2017 eine gering geminderte Leistungsfähigkeit der Klägerin mitgeteilt. Die Fachärztin für Orthopädie Dr. Rö. hat unter dem 21. November 2017 eine einmalige Behandlung der Klägerin am 1. November 2016 angegeben. Es bestünden ein Funktionsdefizit nach Implantation der Hüft-TEP rechts bei Dysplasiecoxarthrose rechts und eine Lumboischialgie. Die klinische Untersuchung habe ein gutes postoperatives Ergebnis gezeigt. Es würden jedoch starke Schmerzen im rechten Hüftgelenk beklagt. Objektiv könnten größere Funktionseinschränkungen im Alltag vermutet werden. Von Seiten der Fachärztin für Anästhesie Dr. K. ist in ihrem Befundbericht vom 18. Dezember 2017 insbesondere auf eine andauernde Persönlichkeitsänderung bei chronischem Schmerzsyndrom verwiesen worden. Es zeichne sich ab, dass sich bei nur geringer Mehrbeanspruchung sofort wieder eine deutliche Verschlechterung der Beschwerden einstelle. Die Leistungsfähigkeit der Klägerin betrage weniger als drei Stunden täglich. Es handele sich um eine psychische Überlagerung der Schmerzen durch eine depressive Verstimmung. Dipl.-Med. Wo. hat unter dem 8. Januar 2018 ausgeführt, sie habe der Klägerin seit dem 13. Oktober 2013 eine ununterbrochene Arbeitsunfähigkeit bescheinigt. Die Leistungsfähigkeit der Klägerin sei auf Dauer gemindert. Aus ihrer Sicht sei die Klägerin auf Grund der Gehbehinderung, des chronischen Schmerzsyndroms und der Depression nicht fähig, acht Stunden zu arbeiten. Bezüglich der Einzelheiten wird im Übrigen auf Blatt 78 bis 83, 84 bis 86, 88 bis 91, 93 bis 108 und 110 bis 136 Bd. I der Gerichtsakten Bezug genommen.

Aus dem Verfahren über den Widerspruch gegen die zunächst von Seiten der Beklagten erfolgte Ablehnung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation ist der Entlassungsbericht des A. Klinikums As. vom 18. April 2018 über die Behandlung vom 11. Januar bis zum 22. März 2018 in der psychiatrischen Tagesklinik As. vorgelegt worden. Als Diagnose auf psychiatrischem Fachgebiet liege eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, vor.

Während der daraufhin vom 21. November bis zum 24. Dezember 2018 durchgeführten stationären Rehabilitationsmaßnahme in der Rehabilitationsklinik G. sind nach dem Entlassungsbericht vom 1. Februar 2019 bei der Klägerin die Diagnosen folgende Diagnosen gestellt worden:
1. Anhaltende Schmerzstörung mit psychischen und somatischen Faktoren.
2. Mittelgradige depressive Episode.
3. Kombinierte (abhängig-vermeidende) Persönlichkeitsstörung.
4. Schmerzhafte Funktionsstörung der Hüftgelenke bds. bei Zustand nach (Z.n.) Hüft-TEP-Implantation rechts 2013 und Coxarthrose links.
5. Schmerzhafte Funktionsstörung rechtes Kniegelenk bei Verdacht auf (V.a.) degenerative Veränderungen.
6. LWS-Syndrom bei degenerativen Veränderungen, chronische Schmerzstörung Stadium III nach Gerbershagen.
7. Arterielle Hypertonie.

Die Klägerin habe angegeben, unter chronischen Hüftschmerzen bei jeder Bewegung zu leiden. Dazu habe sie Schlaf- und Konzentrationsstörungen sowie durch die Schmerzen depressive Symptome, sodass sie Anfang des Jahres 2018 mit Tabletten einen Suizidversuch unternommen habe. L. lebe inzwischen ganz bei ihr und werde von ihr und ihrem noch im Haushalt lebenden jüngsten Sohn betreut. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestehe ein Leistungsvermögen von unter drei Stunden täglich für körperlich leichte Arbeiten. Die Gehfähigkeit der Klägerin sei eingeschränkt. Die psychische Belastbarkeit sei dahingehend eingeschränkt, dass Schichtdienste, Mehrarbeit, permanente Kundenkontakte, Expositionen gegenüber Konfliktsituationen sowie Leid anderer und erhöhte Verantwortung für Menschen und Maschinen bei deutlich eingeschränkter Abgrenzungsfähigkeit, Stressresistenz, Umstellfähigkeit und Konfliktbewältigungskompetenz sowie auf Grund ihrer Grundpersönlichkeit langfristig nicht zuzumuten seien. Regelmäßige Pausen seien erforderlich.

Das Sozialgericht hat sodann Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens von dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie St. vom 19. Juli 2019, das auf der Grundlage der ambulanten Untersuchung der Klägerin am 17. Juli 2019 erstattet worden ist. Die Klägerin habe angegeben, Depressionen und Ängste, Fehler zu machen, seien bei ihr "eigentlich schon immer drin gewesen". Verschiedentlich habe sie auch lebensmüde Gedanken gehabt. Kurz vor Weihnachten 2017 habe sie einen Suizidversuch mit der Einnahme von zehn Schlaftabletten unternommen. Ein Sohn und ihre Tochter hätten dann ein Erbrechen eingeleitet. Die psychiatrische Klinik habe sie trotz Einweisung durch die Hausärztin nicht aufgenommen. Sie habe gelegentlich immer wieder "die Nase voll", jedoch keine konkreten Suizidideen oder weitere Suizidversuche unternommen. Von der fachspezifisch erstmals im Rahmen der Tagesklinik von Januar bis März 2018 erfolgten Behandlung habe sie profitiert. Mit der medikamentösen Behandlung sei die Stimmung zunächst besser, dann aber schleichend wieder schlechter geworden. Zur Tagesklinik sei sie selbst mit dem Auto gefahren, dass sie zu dem Zeitpunkt noch gehabt habe. Seit der tagesklinischen Behandlung sei sie in psychiatrischer Behandlung in der Institutsambulanz in S ... Eine ambulante Psychotherapie finde nicht statt. Die Klägerin befinde sich in einem guten, gepflegten Allgemeinzustand und übergewichtigen Ernährungszustand. Aus den Angaben der Klägerin ließen sich ein pathologisches Vermeidungsverhalten oder eine phobische Symptomatik nicht ableiten. Es handele sich um eine wache und bewusstseinsklare, allseits orientierte Probandin. Im Kontaktverhalten sei sie direkt und offen, freundlich zugewandt. Die Stimmungslage sei zunächst leicht ins Depressive verschoben mit eingeschränkter affektiver Schwingungsfähigkeit, im weiteren Gesprächsverlauf dann deutlich aufgelockert und ansatzweise humorvoll/aufheiterbar gewesen. Der Antrieb erscheine leicht reduziert. Psychomotorisch sei der Befund unauffällig. Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit seien auch während der länger dauernden Exploration in ausreichendem Maß vorhanden. Kurz- und Langzeitgedächtnis seinen intakt. Die Intelligenz liege vom klinischen Eindruck her im Durchschnittsbereich. Formales Denken und Wahrnehmung seien unauffällig. Es bestünden keine Hinweise auf hirnorganische Beeinträchtigungen. Die Fortbewegung sei in der Praxis mit rechtsseitigem Hinken erfolgt. Während der länger dauernden Exploration habe die sitzende Position ohne erkennbare Probleme und Beeinträchtigungen beibehalten werden können. Auch nach längerem Sitzen seien keine Anlaufprobleme erkennbar gewesen. Das An- und Auskleiden sowie Hinlegen und Aufrichten aus liegender Position seien etwas beeinträchtigt durch die Hüftgelenksbeschwerden rechts, ansonsten ohne erkennbare schmerzbedingte Beeinträchtigung. Als Gesundheitsstörungen lägen bei der Klägerin vor:
1. Wiederkehrende depressive Störung, gegenwärtig leichte bis mittelgradige Episode.
2. Chronisches Schmerzsyndrom im Bewegungsapparat mit Betonung der LWS bei MRT-gesicherter Bandscheibenvorwölbung L5/S1.
3. Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren.
4. Anamnestisch V.a. ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung.
5. Fortbestehende Hüftgelenksbeschwerden bds. bei Z.n. TEP-Versorgung rechts 2013 und anamnestisch beginnender Hüftgelenksarthrose links.
6. Belastungsabhängige Kniegelenksbeschwerden bei Z.n. Arthroskopie des rechten Kniegelenks 2011.
7. Arterieller Bluthochdruck, medikamentös eingestellt.
8. V.a. Polyarthrose der Hände.

Es bestünden keine Anhaltspunkte für Simulation oder Aggravation. Aus psychiatrischer Sicht bestehe eine wiederkehrende depressive Störung, gegenwärtig leicht bis allenfalls mittelgradig ausgeprägt, sowie ein psychosomatischer/somatischer Anteil der chronischen Schmerzen im Bewegungsapparat. Die Klägerin könne solche Störungen nicht bei zumutbarer Willensanspannung sofort oder alsbald (innerhalb von sechs Monaten) überwinden. Diese seien jedoch nicht so ausgeprägt, dass sie eine quantitative Leistungsminderung begründet würden. Die Klägerin könne noch regelmäßig körperlich leichte Arbeiten zumindest für noch mehr als sechs Stunden täglich ausüben. Aus den während der Begutachtung erhobenen Befunden und der Aktenlage ergäben sich keine Erkenntnisse, die eine quantitative Leistungsminderung begründeten. Insoweit bestehe auch keine Übereinstimmung mit den Einschätzungen von Dipl.-Med. Wo., Dr. K. und der Rehabilitationsklinik G ... Die Gehfähigkeit der Klägerin sei aus Sicht des psychiatrischen Fachgebiets nicht eingeschränkt. Einschränkungen könnten sich allenfalls im Hinblick auf die Hüft- und Kniegelenksarthrosen ergeben und müssten orthopädisch beurteilt werden. Diesbezüglich werde auf das orthopädische Fachgutachten von Dr. Sc. verwiesen. Aus psychiatrischer Sicht könne die Klägerin auch öffentliche Verkehrsmittel benutzen und sei bei der Benutzung eines Kfz aus medizinischen Gründen nicht wesentlich eingeschränkt. Es bestehe eine regelmäßige antidepressive Medikation, die jedoch nicht dämpfend wirke und damit, zumal sie schon seit über einem Jahr bestehe, auch nicht zu einer Aufhebung der Fahrtauglichkeit führe. Ein exakter Punkt der Leistungsminderung sei nicht angebbar, da es sich um eine chronische Entwicklung handele. Auf jeden Fall bestehe diese aber bereits seit Rentenantragstellung im Juni 2014. Es sei mit einer dauerhaften Einschränkung zu rechnen, da es sich um chronische Entwicklungen handele. Weitere Fachgutachten seien entbehrlich.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 14. November 2019 abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens, dem eingeholten Gutachten und den Befundberichten stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerin noch über ein mehr als sechsstündiges tägliches Leistungsvermögen verfüge. Das Gericht folge insoweit den überzeugenden Feststellungen des Gutachters St. in seinem Gutachten vom 19. Juli 2019.

Die Klägerin hat gegen das ihr am 26. November 2019 zugestellte Urteil am 5. Dezember 2019 Berufung bei dem Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingelegt. Das Sozialgericht habe sich mit der Einschätzung ihres Leistungsvermögens durch die Rehabilitationsklinik G. und ihre behandelnden Ärzte nicht auseinandergesetzt. Ihr Gesundheitszustand habe sich während des langen Sozialgerichtsverfahrens gerade in der letzten Zeit vor der Berufungsbegründung mit Schriftsatz vom 13. Januar 2020 "intensiv verschlechtert".

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 14. November 2019 und den Bescheid der Beklagten vom 29. Januar 2015 in der Gestalt des Bescheides vom 15. April 2016 und des Widerspruchsbescheides vom 2. November 2016 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab dem 1. Juni 2014 Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Sie hat den Versicherungsverlauf vom 28. Januar 2020 übersandt und mitgeteilt, dass die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung letztmalig bei einem fiktiven angenommenen Leistungsfall der rentenrelevanten Minderung der Erwerbsfähigkeit am 31. Juli 2015 erfüllt seien. Ein rentenrelevant gemindertes Leistungsvermögen der Klägerin sei für den Zeitraum bis zu diesem Zeitpunkt nicht festzustellen.

Die Beteiligten sind mit richterlichem Schreiben vom 3. Februar 2020 zu einer Entscheidung des Senats durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 SGG angehört worden. Die Beteiligten haben sich hierzu nicht geäußert.

Im Übrigen wird zu dem Sach- und Streitstand auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen ist.

II.

Die Berufung ist unbegründet.

Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung. Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin deshalb nicht in ihren Rechten (§§ 153 Abs. 1, 54 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Bei der Klägerin sind die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung nach Auffassung der Beklagten letztmalig bei einem Leistungsfall am 31. Juli 2015 erfüllt, da nach der Berechnung der Beklagten bis zum diesem Zeitpunkt im vorausgegangenen verlängerten Fünf-Jahres-Zeitraum noch 36 Monate mit Pflichtbeiträgen belegt sind. Der Senat ist an diese Beurteilung nicht gebunden (vgl. zu Verlängerungstatbeständen z.B. Bundessozialgericht, Urteil vom 24. Oktober 2013 - B 13 R 83/11 R -, juris, RdNr. 19 ff.). Im Ergebnis hat diese Frage indes keine maßgebenden Auswirkungen auf die Entscheidung, da zumindest bis zum 31. Juli 2015 ein Leistungsfall der Erwerbsminderung nicht eingetreten ist. Dass - zumindest - für den nachfolgenden Zeitraum bis zur Entscheidung des Senats die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung nicht mehr erfüllt sind, entspricht der Regelung in § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 4 SGB VI.

Nach § 43 Abs. 1 und 2 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser bzw. voller Erwerbsminderung, wenn sie teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. 36 Monate innerhalb von fünf Jahren weist der Versicherungsverlauf der Klägerin nur bei einem Leistungsfall bis zum 1. April 2007 auf.

Nach § 43 Abs. 4 SGB VI verlängert sich der Zeitraum von fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung auch um Zeiten, die nicht mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit belegt sind, in Form von (Nr. 2) Berücksichtigungszeiten und (Nr. 3) Zeiten, die nur deshalb keine Anrechnungszeiten sind, weil durch sie eine versicherte Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit nicht unterbrochen ist, wenn in den letzten sechs Kalendermonaten vor Beginn dieser Zeiten wenigstens ein Pflichtbeitrag für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit oder eine Zeit nach Nummer 1 oder 2 liegt.

Nach Auffassung des Senats beruht diese Berechnung der Beklagten auf einer für die Klägerin zu Unrecht erfolgten Annahme von Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung. Die im Widerspruchsverfahren von der Klägerin geltend gemachte Betreuung ihrer Enkelin L. führt nicht zu Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung nach § 57 SGB VI. Die Zeit der Erziehung eines Kindes bis zu dessen vollendetem zehnten Lebensjahr ist nach § 57 Satz 1 SGB VI bei einem Elternteil eine Berücksichtigungszeit, soweit die Voraussetzungen für die Anrechnung einer Kindererziehungszeit auch in dieser Zeit vorliegen. Auf Grund der Geburt von L. am ... 2008 endet der Zeitraum der Kinderberücksichtigungszeit nach § 57 Satz 1 SGB VI am 9. November 2018. Indes ist auch für den vorausgehenden Zeitraum die Zuordnung einer Berücksichtigungszeit zu der Klägerin ausgeschlossen, weil die Voraussetzungen einer Kindererziehungszeit im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VI nicht erfüllt sind. Diese Regelung definiert den anspruchsberechtigten Elternteil unter Verweisung auf § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 3 Nr. 2 und 3 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (Allgemeiner Teil - SGB I), nimmt also die Regelung über die sonstigen Verwandten in gerade aufsteigender Linie im Sinne des § 56 Abs. 3 Nr. 1 SGB I aus. Die Klägerin ist auch nicht Pflegemutter im Sinne des § 56 Abs. 3 Nr. 3 SGB I. Pflegeeltern sind in dieser Regelung als Personen, die mit dem Berechtigten durch ein auf längere Dauer angelegtes Pflegeverhältnis mit häuslicher Gemeinschaft wie Kinder mit Eltern verbunden sind, definiert. Das würde voraussetzen, dass L. von ihren beiden Eltern überhaupt nicht erzogen wurde, d.h. kein Obhuts- und Pflegeverhältnis mit auch nur einem Elternteil bestand (vgl. BSG, Urteil vom 12. September 1990 - 5 RJ 45/89 -, juris, RdNr. 17). Die von der Klägerin dargelegte nicht ausreichende Erziehung durch den Vater von L. führt nicht zu dieser vollständigen Lösung des Eltern-Kind-Verhältnisses in diesem Sinne. Das Vorbringen der Klägerin hätte möglicherweise zur Zuordnung der Kindererziehung zu N., nicht aber zu ihr selbst führen können.

Auch die der Klägerin - bei einem nach ihren Angaben fortbestehendem Arbeitsverhältnis - attestierte Arbeitsunfähigkeit (nach Mitteilung von Dipl.-Med. Wo. ununterbrochen seit dem 13. Oktober 2013, nach Bescheinigung der Krankenkasse vom 24. bis zum 25. Mai 2013, vom 9. bis zum 20. September 2013 und seit dem 25. März 2014) führt nicht zu einer Verlängerung des Fünf-Jahres-Zeitraumes, weil es sich insoweit nicht um Anrechnungszeiten im Sinne des § 43 Abs. 4 Nr. 3 SGB VI handelt. Da die Übergangsregelungen in § 252 SGB VI hier nicht einschlägig sind, muss eine Anrechnungszeit hier die Voraussetzungen des § 58 SGB VI (mit der in § 43 Abs. 4 Nr. 3 SGB VI geregelten Einschränkung) erfüllen, um zu einer Verlängerung des Fünf-Jahres-Zeitraums zu führen. In Betracht kommen als Anrechnungszeiten hier nur Zeiten im Sinne des § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI, in denen Versicherte wegen Krankheit arbeitsunfähig gewesen sind oder Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben erhalten haben. Anrechnungszeiten wegen Arbeitsunfähigkeit oder der Ausführung der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation liegen nach § 58 Abs. 3 SGB VI indes bei Versicherten, die nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB VI versicherungspflichtig werden konnten, erst nach Ablauf der auf Antrag begründeten Versicherungspflicht vor. Auf Antrag versicherungspflichtig in der gesetzlichen Rentenversicherung sind nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB VI Personen, die nur deshalb keinen Anspruch auf Krankengeld haben, weil sie nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind oder in der gesetzlichen Krankenversicherung ohne Anspruch auf Krankengeld versichert sind, für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit oder der Ausführung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben, wenn sie im letzten Jahr vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit oder der Ausführung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben zuletzt versicherungspflichtig waren, längstens jedoch für 18 Monate. Die Klägerin war seit dem 1. Juli 2012 über die Familienversicherung gegen Krankheit abgesichert, d.h. ohne Anspruch auf Krankengeld krankenversichert, und hätte damit auf Grund der vorausgehend bestehenden versicherungspflichtigen Beschäftigung während ihrer Arbeitsunfähigkeit auf Antrag ihre weitere Versicherungspflicht in der Rentenversicherung bewirken können. Damit greift hier der Ausschlusstatbestand für Anrechnungszeiten aus § 58 Abs. 3 SGB VI ein. Es kann damit dahinstehen, dass Anrechnungszeiten wegen Arbeitsunfähigkeit nach § 58 SGB VI nicht unbegrenzt bestehen (vgl. zu einer bei einem ruhenden Arbeitsverhältnis spätestens nach drei Jahren endenden Anrechnungszeit: BSG, Urteil vom 25. Februar 2010 - B 13 R 116/08 R -, juris, RdNr. 12 ff.).

In Bezug auf das Leistungsvermögen der Klägerin für den hier maßgebenden Zeitraum - nach Auffassung der Beklagten bis zum 31. Juli 2015, nach Auffassung des Senats bereits bis zur Rentenantragstellung - wird nach § 153 Abs. 2 SGG auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts Bezug genommen, die sich der Senat nach eingehender Prüfung zu eigen macht. Soweit die Klägerin im Berufungsverfahren eine wesentliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustands geltend gemacht hat, stützt dies die Entscheidung des Senats, dass während des Zeitraums, in dem die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung noch erfüllt waren, keine rentenrelevante Leistungsminderung vorlag.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage, ohne dass der Senat von einer Entscheidung der in § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte abweicht.
Rechtskraft
Aus
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