L 1 KR 196/20 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 28 KR 6/20 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 196/20 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 9. März 2020 wird zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin hat auch die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin für das Beschwerdeverfahren zu tragen.

Gründe:

Der am 17. April 2020 erhobenen zulässigen Beschwerde gegen den genannten, am 25. März 2020 zugestellten, Beschluss des Sozialgerichts (SG) bleibt Erfolg versagt.

Nach § 86b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Entscheidungen dürfen dabei grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden.

Mit Beschluss vom 14. November 2019 (Az. L 1 KR 306/19 B ER) hat der hiesige Senat bereits entschieden, dass es eine Folgenabwägung gebietet, die Antragsgegnerin zu verpflichten, der Antragstellerin eine Beobachtungspflege über 24 Stunden täglich zu gewähren, nachdem eine Stellungnahme des Behandler F zur jederzeitigen Gefahr des Verschluckens und deren Folgen ohne pflegerische Reaktion vorgelegt worden ist. Auf die den Beteiligten bekannte Entscheidung wird verwiesen. Zu Recht hat das SG nunmehr ausgeführt, dass sich aus der hier vorzunehmenden Folgenabwägung für die Folgezeit die Voraussetzungen für den Erlass der einstweiligen Anordnung ergeben. Der Senat verweist entsprechend § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG auf die entsprechenden Ausführungen und macht sie sich zu Eigen.

Die Antragsgegnerin hat mit ihrer Beschwerde nichts vorgetragen, das geeignet wäre, eine andere Entscheidung in der Sache herbeizuführen. Soweit sie auf das Urteil des BSG vom 22. April 2015 (B 3 KR 16/14 R –, Rdnr. 25) verweist, hilft ihr dies nicht weiter. Zwar haben die Richtlinien des GBA normativen Charakter und sind für die Beteiligten verbindlich. Ob eine 24h-Beobachtungspflege im vorliegenden Fall im Einklang mit der Nr. 24 der Anlage Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege (Häusliche Krankenpflege-Richtlinie (HKP-RL) in der Fassung vom 17. September 2009 veröffentlicht im Bundesanzeiger BAnz. Nr. 21a vom 9. Februar 2010, in Kraft getreten am 10. Februar 2010, zuletzt geändert am 27. März 2020, veröffentlicht im Bundesanzeiger BAnz AT 07.04.2020 B3 in Kraft getreten am 9. März 2020), verordnet werden konnte, kann jedoch nicht im gerichtlichen Eilschutzverfahren geklärt werden. Dass vorliegend sicher keine Situation vorliegt, in der nicht – wie in dieser Vorschrift gefordert – mit hoher Wahrscheinlichkeit sofortige pflegerische/ärztliche Intervention bei lebensbedrohlichen Situationen täglich erforderlich ist und nur die genauen Zeitpunkte und das genaue Ausmaß nicht im Voraus bestimmt werden können, ist auszuschließen. Ob der Einschätzung des MDK in seiner neuesten Stellungnahme vom 30. Oktober 2019 zu folgen ist, hier sei nur die Aspirationsgefahr von Relevanz und ein Verschlucken gebe es nur im Rahmen der Nahrungsaufnahme und der Medikamenteneinnahme, kann im Eilverfahren nicht geklärt werden. Der behandelnde Neurologe F geht in seiner Stellungnahme vom 11. Oktober 2019 von der jederzeitigen Gefahr des Verschluckens und einer Verlegung der Atemwege aus, zumal die notwendige Einnahme starker Schmerzmedikamente die Aspirationsgefahr erhöhe. Der Sachverhalt unterscheidet sich somit erheblich von demjenigen, welcher dem von der Antragsgegnerin angeführte Beschluss des Bayerischen LSG vom 4. Oktober 2010 (L 4 KR 387/10 B ER, juris-Rdnr. 27) zu Grunde gelegen hat. Der dortige Senat war aufgrund der Einlassungen der dort behandelnden Ärzte überzeugt, dass zwar eine sorgfältige Beobachtung der Vitalfunktionen erforderlich sei, nicht aber innerhalb von Minuten ein lebensbedrohlicher Zustand auftreten könne.

Hinzu kommt, dass in rechtlicher Hinsicht nicht ersichtlich ist, dass die Verordnung von 24h-Beobachtungspflege stets ausscheidet, wenn die Voraussetzungen der Nr. 24 der Anlage zur HKP-RL, nicht erfüllt sind. Das Argument der Antragsgegnerin, der Verordnungskatalog der HKP habe die Beobachtungspflege abschließend geregelt, greift nicht, weil die HKP-Richtlinie in dem durch den Beschluss des GBA vom 15. März 2007 (in Kraft getreten am 27 Juni 2007, BAnz. Nr. 115 S. 6395) eingeführten (heutigen) § 1 Abs. 4 HKP-RL regelt, dass die verordnungsfähigen Maßnahmen zwar grundsätzlich dem als Anlage beigefügten Leistungsverzeichnis zu entnehmen sind und dort nicht aufgeführte Maßnahmen grundsätzlich nicht verordnungs- und genehmigungsfähig sind. Letztere sind jedoch dann in medizinisch zu begründenden Ausnahmefällen verordnungs- und genehmigungsfähig, wenn sie Bestandteil des ärztlichen Behandlungsplans sind, im Einzelfall erforderlich und wirtschaftlich sind und von geeigneten Pflegekräften erbracht werden sollen. Die Vorbemerkungen zum Leistungsverzeichnis machen zudem deutlich, dass dieses fortgeschrieben wird, sofern sich zukünftig weiterer Versorgungsbedarf ergibt (vgl. Luthe in: Hauck/Noftz, SGB, 06/18, § 37 SGB V, Rdnr. 178).

Dass der Richtliniengeber die Nr. 24 der Anlage als eine generell abschließende Regelung der Verordnungsfähigkeit der Beobachtungspflege verstanden wissen wollte, lässt sich weiter nicht feststellen. Der GBA nimmt im Gegenteil in den "Tagenden Gründen" Nr. 2. 2 (zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Änderung der Häusliche Krankenpflege-Richtlinien: Redaktionelle Änderung/Krankenbeobachtung/Kompressionsverbände vom 17. September 2009/17. Dezember 2009) auf den § 1 Abs. 4 HKP-RL Bezug: Eingeführt wurde die Nr. 24 der Anlage in der heutigen Fassung durch die Neufassung der HKP vom 17. September 2009 (veröffentlicht im BAnz. vom 9. Februar 2010, in Kraft getreten am 10. Februar 2010.) Der neuformulierte Verordnungsfähigkeitstatbestand der Anlage Nr. 24 ("wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit sofortige pflegerische/ärztliche Intervention bei lebensbedrohlichen Situationen täglich erforderlich ist und nur die genauen Zeitpunkte und das genaue Ausmaß nicht im Voraus bestimmt werden können") orientiert sich stark an der BSG-Entscheidung vom 10. November 2005 (– B 3 KR 38/04 R juris-Rdnr. 16: "Es kann dahinstehen, unter welchen Umständen eine allgemeine Krankenbeobachtung eine Leistung der häuslichen Krankenpflege sein kann, wenn ärztliche oder pflegerische Maßnahmen zur Abwendung von Krankheitsverschlimmerungen eventuell erforderlich, aber konkret nicht voraussehbar sind. Denn hier sind pflegerische Interventionen nicht nur möglicherweise, sondern mit Gewissheit täglich erforderlich. Lediglich die genauen Zeitpunkte und das genaue Ausmaß lassen sich im Voraus nicht bestimmten.") Dies ist kein Zufall: Zur Begründung der Neuregelung bezieht sich der GBA nur auf die Rechtsprechung des 3. Senats des BSG. Eigene Erwägungen zur Notwendigkeit einer Beobachtungspflege rund-um-die-Uhr im Spannungsfeld zwischen medizinischer Notwendigkeit, berechtigten Interessen und Rechten des Versicherten und der Wirtschaftlichkeit fehlen. Das BSG selbst formuliert in der Entscheidung vom 10. November 2005 keine Mindestanforderungen, sondern lässt dies ausdrücklich offen und stellt nur fest, dass in dem von ihm entschiedenen Fall pflegerische Interventionen mit Gewissheit täglich erforderlich seien (BSG, a. a. O. Rdnr. 18).

Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved