L 1 KR 51/18

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 210 KR 1453/15
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 51/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 29. Januar 2018 sowie der Bescheid der Beklagten vom 8. April 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Mai 2015 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin mit einem Blindenführhund entsprechend der ärztlichen Verordnung v. 13. Februar 2013 zu versorgen. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Versorgung der Klägerin mit einem Blindenführhund.

Die bei der Beklagten versicherte 1954 geborene Klägerin legte am 24. Februar 2014 eine von der Augenärztin F-H am 13. Februar 2014 ausgestellte Verordnung eines Blindenführhunds vor. Die Beklagte teilte am 3. März 2014 mit, dass sie den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) beteiligen werde. Die Klägerin legte den Kostenvorschlag einer Blindenführhundschule vor, wonach für die Versorgung mit einem Blindenführhund Kosten in Höhe von 26.155,08 EUR entstehen würden.

Der MDK forderte von den behandelnden Ärzten und Krankenhäusern sowie von der Beklagten Unterlagen über die Klägerin an und kam in seinem Gutachten vom 7. April 2014 zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung nicht erfüllt seien. Die Klägerin sei in der Vergangenheit mit einem Blindenführhund versorgt gewesen, der ihr aber wegen Alkoholabhängigkeit und schlechter Tierhaltung wieder entzogen worden sei. Die eingeholten Krankenhausentlassungsberichte aus den Jahren 2013 und 2014 würden die Alkoholkrankheit dokumentieren. Das manifeste Suchtleiden stehe einer Tierhaltung ebenso entgegen wie das Vorliegen eines Wernicke Encephalopathiebedingten hirnorganischem Psychosyndrom. Auch würde die artgerechte Haltung eines Blindenführhunds über die artgerechte Haltung eines Hundes hinausgehen und mindestens 1 ½ Stunden tägliche Führarbeit verlangen, der die multimorbide Klägerin nicht gewachsen erscheine.

Durch Bescheid vom 8. April 2014 lehnte die Beklagte mit Hinweis auf das Gutachten des MDK die Versorgung der Klägerin mit einem Blindenführhund ab.

Die Klägerin legte Widerspruch ein. Der MDK habe sie nicht gesehen und nicht befragt. Sie sei nicht alkoholkrank, leide auch nicht an einem hirnorganischen Psychosyndrom und sei jeden Tag drei Stunden unterwegs. Sie verwies auf ärztliche Unterlagen, wonach es keine eindeutigen Hinweise auf eine Wernicke Encephalopathie gebe. Sie habe nie chronischen Alkoholmissbrauch betrieben. Auch gebe es nicht den Befund einer Leberzirrhose.

Die Beklagte befragte erneut den MDK. Dieser befand in seinem Gutachten vom 1. September 2014 nunmehr, dass unabhängig von anderen Fragen jedenfalls die sozialmedizinischen Voraussetzungen der Leistungsgewährung nicht vorliegen würden. Bei der mitgeteilten Mobilität von mehreren Stunden pro Tag sei ein Blindenführhund nicht notwendig. Es sei auch nicht erkennbar, in welchen Situationen der Langstock nicht ausreichend sein könnte. Auf Anfrage teile das Bezirksamt Spandau von Berlin der Beklagten mit Schreiben vom 16. Januar 2015 mit, dass das an die Klägerin gerichtete Verbot zum Halten und Betreuen von Wirbeltieren nicht aufgehoben sei. Einer erneuten Tierhaltung könne aktuell nicht zugestimmt werden.

Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 4. Mai 2015 zurück. Der MDK habe in seinen Gutachten vom 7. April 2014 und 1. September 2014 die medizinische Notwendigkeit für die Versorgung mit einem Blindenhund nicht bestätigt. Unabhängig davon sei die Eignung des künftigen Führhundhalters eine Grundvoraussetzung für die Kostenübernahme. Das Bezirksamt Spandau von Berlin habe am 16. Januar 2015 erklärt, einer erneuten Tierhaltung nicht zustimmen zu können. Die Klägerin solle ein auffrischendes Orientierungs- und Mobilitättraining mit dem Blindenstock besuchen, um Unsicherheiten bei der Alltagsbewältigung zu vermindern.

Dagegen richtet sich die am 26. Mai 2015 bei dem Sozialgericht Berlin eingegangene Klage. Sie – die Klägerin – könne sich nur innerhalb ihrer Wohnung, ihres Gartens sowie der ihr bekannten Umgebung sicher mit dem Langstock bewegen. Ein Blindenführhund erleichtere die Umweltkontrolle und könne auch vor Hindernissen wie herabhängenden Ästen, Bauschildern oder parkenden LKW mit herabgelassener Hebebühne warnen. Sie - die Klägerin - legte ein Attest ihres behandelnden Arztes Dr. G vom 14. Oktober 2015 vor, wonach sie sich seit 2014 gesundheitlich erholt habe. Die aktuellen Laborwerte würden dafür sprechen, dass seit Ende 2013 kein Alkoholabusus mehr betrieben werde. Vorgelegt wurde weiter ein Bescheid vom 15. Juni 2016, mit dem das Bezirksamt Spandau von Berlin der Klägerin ab sofort wieder die Haltung und Betreuung von Wirbeltieren gestattete.

Die Beklagte hat erneut den MDK befragt und ein weiteres Gutachten vom 4. März 2016 vorgelegt, das nach Untersuchung der Klägerin am 29. Februar 2016 erstattet worden ist. Schwere kognitive Beeinträchtigungen wurden nicht festgesellt, die Verneinung eines Alkoholabusus sei glaubhaft. Es sei aber trotz erheblicher Einschränkungen noch eine Restsehfähigkeit vorhanden, welche sich nachteilig auf den Blindenführhund auswirken könne. Die Klägerin sei auch ohne Langstock in der Lage, sich sicher fortzubewegen, was sich in der Untersuchungssituation gezeigt habe. Die zwingende Notwendigkeit eines Blindenführhunds zur Sicherung der Mobilität im Nahbereich könne nicht bestätigt werden.

Das Sozialgericht hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 29. Januar 2018 abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf die Versorgung mit einem Blindenhund. Nach der Rechtsprechung des BSG sei ein Blindenführhund als ein Hilfsmittel anzusehen, das unmittelbar auf den Ausgleich der Behinderung selbst gerichtet sei. Ein Blindenführhund ersetze die ausgefallene oder zumindest erschwerte Möglichkeit der Umweltkontrolle. Bei der Klägerin fehlten jedoch die medizinischen Voraussetzungen für die Versorgung mit einem Blindenhund. Dieser sei als Hilfsmittel weder erforderlich noch geeignet. Die Klägerin verfüge noch über ein Restsehvermögen, das gegen die Versorgung mit einem Blindenhund spreche. Das ergebe sich aus den Feststellungen des MDK und den eigenen Angaben der Klägerin. Es lägen ausreichend Anhaltspunkte dafür vor, dass die Klägerin ihr Restsehvermögen so einsetzen könne, um in der Lage zu sein, sich ohne Blindenhilfsmittel fortzubewegen. Die Gutachterin des MDK habe ausgeführt, dass die Klägerin den Untersuchungsraum alleine betreten und eine Sitzgelegenheit gefunden habe. Sie habe einzelne Gegenstände erkennen können. Auch habe die Klägerin sich in dem für sie unbekannten Gebäude ohne Unsicherheiten bewegt. Die Klägerin habe nur angegeben, dass mit einem Hund alles einfacher wäre, weil sie sich dann auf ein Lebewesen verlassen könne. Ein Blindenführhund sei auch keine geeignete Versorgung. In dem Gutachten des MDK vom 7. März 2016 werde überzeugend ausgeführt, dass eine Übersteuerung des Blindenhundes durch den Sehbehinderten ausgeschlossen werden müsse, widrigenfalls der Blindenhund das Erlernte wieder verlerne. Ein Blindenhund diene nur der Verbesserung der Mobilität, nicht der Aufhellung des Tagesablaufs des Behinderten oder als Anreiz für vermehrte körperliche Aktivität. Die artgerechte Haltung erfordere, dass als Minimum täglich ca. 1 ½ Stunden echte Führhundarbeit geleistet werde. Der Klägerin stehe mit einem Blindenlangstock ein gleichwertiges, aber günstigeres Hilfsmittel zur Verfügung. Zwar weise der Blindenlangstock wesentliche Gebrauchsnachteile auf, es sei aber auf die konkrete Versorgungsnotwendigkeit im Einzelfall abzustellen. Auch im Bereich des unmittelbaren Behinderungsausgleichs setze der Anspruch auf eine höherwertige Versorgung deutliche Gebrauchsvorteile im Alltagsleben voraus. Vorliegend sei die Versorgung mit einem Langstock ausreichend, um Mobilität und die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums zu gewährleisten. Ein Blindenführhund habe lediglich außerhalb des Nahbereichs Vorteile. Die Klägerin sei in der Lage, ihren nahen Bereich vollkommen selbständig zu erschließen. Sie könne öffentliche Verkehrsmittel benutzen, Einkäufe erledigen und sogar in das Ausland reisen. Auf ihren Wunsch, sich mit einem Blindenführhund sicherer zu fühlen und weniger konzentriert sein zu müssen, komme es nicht an.

Gegen den ihr am 2. Februar 2018 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 20. Februar 2018 bei dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg eingegangene Berufung der Klägerin. Sie – die Klägerin – verfüge nur noch über ein geringes Restsehvermögen. Sie sei nicht in der Lage, sich ohne Blindenhilfsmittel sicher fortzubewegen. Das Sozialgericht habe die Feststellungen der MDK-Gutachterin über die Fähigkeit, Aktenordner in Regalen und Bilder an den Wänden zu erkennen, völlig überbewertet. Sie habe solche Gegenstände mehr vermutet und habe ganz nahe herantreten müssen, um irgendetwas zu erkennen. Zudem habe sie noch Erinnerungen aus der früheren Zeit, in der sie sehend gewesen sei. Die Feststellungen stünden auch im Widerspruch zu den augenärztlichen Befunden aus dem Jahr 2014. Die Gefahr einer Übersteuerung des Blindenhundes bestehe nicht, weil sie – die Klägerin – schon einmal im Besitz eines solchen Tieres gewesen sei und damit umzugehen wisse. Die Versorgung mit einem Langstock sei nicht ausreichend. Längere Spaziergänge könne sie nur in Begleitung zurücklegen, sie könne sich keinesfalls alleine 15 km bewegen. Sie sei in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 1986 im Alter von 32 Jahren erblindet. Deswegen könne sie noch auf abgespeicherte Bilder zurückgreifen. Mit einem Blindenführhund fühle sie sich viel sicherer und geschützter als mit einem Blindenlangstock, der zudem stigmatisiere. Soweit sie in der Vergangenheit einen Elektrorollstuhl beantragt habe, sei dies eine Trotzreaktion gewesen. Auch nach Spanien könne sie nur in Begleitung verreisen. Ein Blindenführhund würde ihr wesentlich mehr Sicherheit im öffentlichen Raum geben. Auch die vom Senat beauftragte Gutachterin halte die Versorgung mit einem Blindenführhund für sinnvoll.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 29. Januar 2018 sowie den Bescheid der Beklagten vom 8. April 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Mai 2015 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, sie mit dem ärztlich verordneten Blindenführhund zu versorgen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts für zutreffend. Maßgebend für sie sei weiterhin die Stellungnahme des MDK vom 4. März 2016. Es sei nicht zweifelsfrei erwiesen, dass die Klägerin die erforderliche Eignung zum Umgang mit Hunden besitze und die damit verbundene Verantwortung tragen könne. Aus dem von der Gutachterin angenommenen Nutzen eines Blindenhundes für die Klägerin ergebe sich kein leistungsrechtlicher Anspruch. Die Klägerin könne alternativ mit einem Laserlangstock und einem Hindernismelder versorgt werden.

Der Senat hat bei der behandelnden Augenärztin Dr. F-H einen Befundbericht eingeholt. Anschließend hat er Frau Dr. T-T mit einem Sachverständigengutachten beauftragt. Frau T-T führt in ihrem Gutachten vom 21. Juli 2019 aus, dass die Ausprägung der bei der Klägerin vorhandenen Sehbehinderung die Versorgung mit einem Blindenführhund sinnvoll erscheinen lasse. Die Klägerin nutze den Langstock aufgrund schlechter Erfahrungen nicht mehr. Ein Blindenführhund gebe ihr mehr Sicherheit bei der Fortbewegung und erlaube ihr eine gefahrlose Orientierung. Eine geeignete Blindenführhundschule könne sicherstellen, dass ein Hund zu den Bedürfnissen der Klägerin passe. Ohne Hilfsmittel könne die Klägerin sich nicht sicher im Straßenverkehr bewegen. Ein Blindenführhund würde ihr ermöglichen, sich entspannter als mit einem Langstock im Straßenverkehr zu bewegen. Die Klägerin sei zur Versorgung eines Blindenhundes in der Lage. Entgegen der Einschätzung des MDK ergebe sich aus einem vorhandenen Restsehvermögen auch nicht zwangsläufig, dass dem Hund seine Führarbeit abgenommen werde. Aus dem vorliegenden Gespannprüferbericht aus dem Jahre 2004 würden sich solche bei der Klägerin vorhandenen Tendenzen nicht ergeben. Die artgerechte Haltung eines Blindenführhunds unterscheide sich nicht wesentlich von der eines anderen Hundes.

Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Klägerin hat Erfolg. Zu Unrecht hat das Sozialgericht in dem Gerichtsbescheid vom 29. Januar 2018 den Anspruch der Klägerin auf Versorgung mit einem Blindenführhund entsprechend der ärztlichen Verordnung vom 13. Februar 2013 abgelehnt.

Der Senat lässt ausdrücklich dahingestellt, ob sich der Anspruch der Klägerin auf Versorgung mit einem Blindenhund bereits aus § 13 Abs. 3a SGB V ergeben kann. Nach dieser mit Wirkung vom 26. Februar 2013 eingeführten Vorschrift hat die Krankenkasse über einen Antrag zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang, oder in Fällen, in denen eine gutachterliche Stellungnahme eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden. Erfolgt das nicht und wird dem Leistungsberechtigten dafür kein hinreichender Grund mitgeteilt, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt. Die Beklagte hat vorliegend über den Antrag auf Versorgung mit einem Blindenhund, der bei ihr am 24. Februar 2014 durch die Vorlage der Verordnung gestellt worden ist, erst mit Bescheid vom 8. April 2014 entschieden. Maßgebend war eine Frist von fünf Wochen, weil die Beklagte die Klägerin durch Schreiben vom 3. März 2014 darauf hingewiesen hatte, dass eine ergänzende ärztliche Einschätzung erforderlich sei und die Akten deshalb an den MDK versandt worden wären. Die am 25. Februar 2014 beginnende Frist von fünf Wochen endete aber bereits am 1. April 2014.

Nach § 13 Abs. 3a Satz 9 SGB V gelten indessen für medizinische Leistungen zur Rehabilitation die §§ 14 bis 24 SGB IX: Ob der Begriff der medizinischen Leistungen zur Rehabilitation nur die in § 40 SGB V ausdrücklich als solche bezeichneten Leistungen erfasst (so BSG v. 8. März 2016 - B 1 KR 25/15 R - juris Rn 17), oder auch Hilfsmittel, die nicht zur Krankenbehandlung, sondern zum Ausgleich einer Behinderung gewährt werden (so BSG v. 15. März 2018 - B 3 KR 18/17 R – juris Rn 21-38) war in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bisher nicht eindeutig entschieden. Nachdem nunmehr aber auch der 1. Senat des BSG seine frühere Rechtsprechung aufgegeben hat, dass sich aus der Genehmigungsfiktion ein eigener Anspruch auf die Sachleistung ergeben kann (BSG v. 26. Mai 2020 - B 1 KR 9/18 R – zitiert nach dem vom BSG herausgegebenen Terminbericht 19/20), steht grundsätzlich in Frage, ob § 13 Abs. 3a SGB V eine eigenständige Rechtsgrundlage für einen Sachleistungsanspruch sein kann. Im guten Glauben an eine Genehmigung hat die Klägerin keinen Blindenführhund angeschafft und sind ihr keine Kosten entstanden, so dass solche sich nach der neueren Rechtsprechung des BSG aus § 13 Abs. 3a SGB V noch ergebenden Ansprüche hier schon aus tatsächlichen Gründen nicht gegeben sein können.

Die Klägerin hat aber nach Maßgabe des § 33 SGB V Anspruch auf Versorgung mit einem Blindenführhund. Gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen.

Bei der Klägerin liegt eine Behinderung in der Form einer hochgradigen Sehbehinderung vor. Das Vorliegen einer Sehbehinderung ergibt sich aus den Befunden und Berichten ihrer Augenärztin und steht zwischen den Beteiligten zu Recht nicht im Streit. In Bezug auf die Ausprägung hat die behandelnde Augenärztin in ihrem Befundbericht vom 6. März 2019 eine hochgradige Sehbehinderung mitgeteilt. Dem ist die Beklagte nicht substantiiert entgegen getreten. Das MDK-Gutachten vom 4. März 2016 bestätigt nur eine "Restsehfähigkeit" der Klägerin aufgrund einer Beobachtung ihres Orientierungsverhaltens und ihrer eigenen Angabe, sich "komplett sicher" im Straßenverkehr bewegen zu können. Das Vorliegen einer hochgradigen Sehbehinderung als solche stellt die Beklagte jedoch trotzdem nicht in Abrede. Denn sie spricht sich für die Versorgung der Klägerin mit einem Blindenlangstock aus. Auch mit diesem Hilfsmittel sind nur Versicherte zu versorgen, die blind oder hochgradig sehbehindert sind. Aus dem Vortrag der Klägerin zu ihrem Bewegungsverhalten kann nicht auf eine bereits ohne Blindenhilfsmittel erreichte ausreichende Sicherheit geschlossen werden, weil die Klägerin auf Nachfrage des Senats angegeben hat, dass sie sich nur in Begleitung von Freunden und Bekannten hinreichend sicher bewegen kann. Schließlich hat auch die vom Senat beauftragte Gutachterin T-T unter Darlegung der vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen für die Versorgung mit einem Blindenführhund aufgestellten Kriterien ausgeführt, dass die Ausprägung der bei der Klägerin vorhandenen Sehstörung die Versorgung mit einem Blindenführhund sinnvoll erscheinen lasse.

Ein Blindenführhund ist ein Hilfsmittel im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Er gehört zu dem im Hilfsmittelverzeichnis (§ 139 SGB V) in der Produktgruppe 7 (Blindenhilfsmittel) gelisteten Hilfsmitteln. Blindenführhunde sind Sachen (Tiere), deren Zweckbestimmung es ist, den Ausgleich einer Sehbehinderung zu ermöglichen. Sie sind weder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen noch Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens. Der Hilfe eines Blindenführhundes bedienen sich üblicherweise nur sehbehinderte Personen, nicht auch nichtbehinderte Menschen in größerer Zahl.

Der Umfang des von der gesetzlichen Krankenversicherung durch Hilfsmittel zu gewährenden Behinderungsausgleichs bestimmt sich nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (Urt. v. 17. Dezember 2009 – B 3 KR 20/08 R) danach, ob eine Leistung des unmittelbaren oder des mittelbaren Behinderungsausgleichs beansprucht wird. Ein unmittelbarer Ausgleich der Behinderung wird bewirkt, wenn das Hilfsmittel die ausgefallene Körperfunktion ermöglicht oder ihren Verlust weitgehend ausgleicht. Im Rahmen des unmittelbaren Behinderungsausgleichs schuldet die gesetzliche Krankenversicherung einen möglichst vollständigen Ausgleich der Behinderung im Sinne eines Gleichziehens des behinderten Menschen mit den Fähigkeiten eines gesunden Menschen. Die Grenze der Leistungsverpflichtung wird erst erreicht, wenn weitere Gebrauchsvorteile zwar noch möglich sind, sie aber nicht mehr wesentlich erscheinen. Dagegen liegt ein nur mittelbarer Behinderungsausgleich vor, wenn die ausgefallene Körperfunktion nicht weitgehend ersetzt werden kann, sondern lediglich die Folgen des Ausfalls für den Betroffenen abgemildert werden. Insoweit ist die Krankenversicherung nur leistungspflichtig, wenn Auswirkungen der Behinderung beseitigt werden, welche Grundbedürfnisse des täglichen Lebens betreffen (vgl. zum Ganzen Pitz in: jurisPK SGB V, 4. Aufl., § 33 Rn 31-34).

Nach der Rechtsprechung des BSG (Urt. v. 25. Februar 1981 - 5a/5 RKn 35/78; v. 20. November 1996 - 3 RK 5/96) ist ein Blindenführhund ein Hilfsmittel, das dem unmittelbaren Behinderungsausgleich dient, da die ausgefallene Körperfunktion "Sehen" als solche weitgehend wiederhergestellt werden soll und nicht nur die Kompensation der Folgen des Ausfalls für den Versicherten in Frage steht. Die Grenze der Leistungspflicht der Beklagten wäre demnach erst erreicht, wenn die Versorgung mit einem Blindenführhund dem Versicherten keine wesentlichen Vorteile mehr verschaffen würde.

Ein Versorgung der Klägerin mit einem Blindenführhund ist nicht deswegen ausgeschlossen, weil Hindernisse entgegenstehen würden, die in der Person der Klägerin begründet sind. Der Senat hat keine Grundlage, die Klägerin nicht als geeignet zur Haltung eines Blindenführhunds anzusehen. Das Bezirksamt Spandau von Berlin hat das an die Klägerin gerichtete frühere Verbot der Haltung von Wirbeltieren mittlerweile aufgehoben. Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, bei der Klägerin eine fortbestehende Ungeeignetheit wegen Alkoholkrankheit oder einer Gehirnschädigung anzunehmen. Dagegen spricht bereits das Gutachten des MDK vom 4. März 2016, wo nach persönlicher Vorstellung der Klägerin festgestellt wird, dass keine alltagsrelevanten Beeinträchtigungen zu verzeichnen waren und ein (weiterer) Alkoholmissbrauch glaubhaft verneint wurde, was die vorliegenden Laborwerte bestätigten. Soweit die Bevollmächtigte der Beklagten in der mündlichen Verhandlung eingewandt hat, dass gegen die Klägerin mittlerweile Anzeige wegen einer Straftat erstattet worden sei, ist das zu unbestimmt, um daraus eine Nichteignung der Klägerin anzuleiten. Allein das Vorliegen einer Strafanzeige sagt nichts über die Berechtigung des Tatvorwurfs aus. Allerdings bleibt es der Beklagten unbenommen, die Eignung der Klägerin weiter zu beobachten. Der Anspruch auf Versorgung mit einem Blindenführhund fände sein Ende, wenn das Bezirksamt Spandau das an die Klägerin gerichtete Verbot der Tierhaltung erneuern würde. Gegenwärtig hat der Senat aber keine Anhaltspunkte, von der Einschätzung der von ihm beauftragten Gutachterin T-T abzuweichen, dass die Klägerin geeignet zum Halten eines Blindenführhunds ist.

Der Senat kann sich auch nicht der Auffassung des MDK in dem Gutachten vom 4. März 2016 anschließen, dass ein Blindenführhund keinen Nutzen für die Klägerin haben könne, weil sie ihn wegen ihres noch vorhandenen Restsehvermögens ohnehin übersteuern und der Hund dadurch seine Aufgabe und Funktion verlieren würde. Insoweit hält der Senat die Ausführungen der Sachverständigen T- für nachvollziehbar, dass eine Übersteuerung nicht zwangsläufig bei vorhandenem Restsehvermögen eintritt, sondern von dem jeweiligen Verhalten des Sehbehinderten abhängig ist. Wenn die Klägerin früher in der Lage war, sich trotz vorhandenen Restsehvermögens von einem Blindenführhund leiten zu lassen, wie durch ein Gespannprüfungsprotokoll aus dem Jahr 2004 belegt ist, kann das nicht für die Zukunft ausgeschlossen werden.

Der Anspruch auf Versorgung mit einem Blindenführhund hängt damit davon ab, ob dieser der Klägerin wesentliche Gebrauchsvorteile im Vergleich zu der von der Beklagten für ausreichend gehaltenen Versorgung mit einem Blindenlangstock verschaffen würde. Das kann nicht bereits deswegen verneint werden, weil die Klägerin auch ohne Blindenführhund in der Lage wäre, sich den räumlichen Nahbereich ihres Wohnumfelds zu erschließen. Denn die ausreichende Abdeckung ihrer Grundbedürfnisse steht hier gerade nicht in Frage.

Zwar liegt ein anzuerkennender Zusatznutzen nicht darin, dass die Klägerin durch einen Blindenführhund tierische Gesellschaft hätte. Denn Zweck der Versorgung mit einem Blindenführhund ist der Ausgleich der Sehbehinderung, nicht der von Einsamkeit. Es ist jedoch daran zu erinnern, dass ein Blindenhund von der Rechtsprechung des BSG (a.a.O.) als unmittelbarer Behinderungsausgleich eingestuft wird, was bedeutet, das er die ausgefallene Körperfunktion "Sehen" weitgehend ersetzen kann. Schon das belegt, dass zwischen der Versorgung mit einem Blindenlangstock und mit einem Blindenführhund ein qualitativer Unterschied besteht. In der bisherigen Rechtsprechung ist für die Überlegenheit gegenüber der Versorgung mit einem Blindenlangstock darauf hingewiesen worden, dass ein Blindenführhund auch vor einer Kollision mit Hindernissen schütze, die sich oberhalb des Radius des Stockes befänden. Zudem eröffne er die zusätzliche Möglichkeit, vorausschauend auf Hindernisse zu reagieren und sie zu umgehen. Auch gebe er dem Sehbehinderten durch die Übernahme der Gehrichtung und Steuerung die Möglichkeit, auch weitere Wege zurückzulegen (LSG Rheinland-Pfalz v. 2. Oktober 2013 – L 5 KR 99/13; LSG Niedersachsen-Bremen v. 21. November 2017 – L 16/1 KR 371/15). Speziell für die Klägerin führt die Gutachterin T-T aus, dass ein Blindenführhund der Klägerin eine entspanntere Fortbewegung ermöglichen und mehr Unabhängigkeit und Orientierung zurückgeben würde. Demnach ist auch für die Klägerin davon auszugehen, dass sie einen erheblichen Zusatznutzen im Rahmen des Behinderungsausgleichs durch Versorgung mit einem Blindenführhund haben würde.

Nach alledem waren der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts vom 29. Januar 2018 sowie der Bescheid der Beklagten vom 8. April 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Mai 2015 aufzuheben und die Beklagte zur Versorgung der Klägerin mit einem Blindenführhund entsprechend der ärztlichen Verordnung vom 13. Februar 2014 zu verurteilen.

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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