S 10 U 306/00

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Gelsenkirchen (NRW)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 10 U 306/00
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid des Beklagten vom 12.05.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.11.2000 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, den Unfall des Klägers vom 20.01.1997 als.Arbeitsunfall zu entschädigen. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darum, ob ein Arbeitsunfall im Rahmen der Schülerunfallversicherung vorliegt.

Der Kläger zog sich am 20.01.1997 bei einem Verkehrsunfall einen Bruch des rechten Handgelenks zu. Der Unfall ereignete sich auf der Rückfahrt von einem "Döner" zur Berufsschule L-straße in S. Der Kläger befand sich damals in der Berufsausbildung und besuchte die gleiche Klasse der Berufsschule wie die ebenfalls im Fahrzeug befindlichen Mitschüler P und W. Die Drei hatten die durch das Ausbleiben des Deutschlehrers entstandene Pause von 9 Uhr bis 10.50 Uhr zu einem gemeinsamen Frühstück genutzt. Die Schule teilte dem Beklagten auf telefonische Anfrage am 27.05.1998 zunächst mit, daß der Kläger dort nicht bekannt sei. Mit Schreiben vorn 18.08.1998 wurde diese Angabe vom Schulleiter korrigiert und mitgeteilt, dass sich aus dem Klassenbuch ergebe, daß der Kläger am Unfalltag nicht in der Schule anwesend gewesen sei. Am 04.09.1998 teilte der Schulleiter erneut mit, daß der Kläger am Unfalltag während den gesamten Schulzeit nicht anwesend gewesen sei. Laut Klassenbucheintragung sei der 20.01.1997 ein ganz normaler Schultag, d. h. ohne Unterrichtausfall gewesen. Daraufhin lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 12.05.1999 Entschädigungsleistungen wegen eines Arbeitsunfalls ab. Im anschließenden Widerspruchsverfahren führte der Beklagte weitere Ermittlungen durch. Der Schulleiter teilte jetzt in einem Schreiben vorn 26.10.1990 mit, daß aus organisatorischen Gründen Vertretungsunterricht für das Fach Deutsch etwa 10 bis 15 Minuten verspätet von einem anderen Lehrer übernommen worden sei. Unter dem 04.08.2000 teilte der Schulleiter mit, daß die Schüler W und P am fraglichen Tag bis 10.30 Uhr am Unterricht teilgenommen hätten. Daraufhin wies der Beklagte den Rechtsbehelf des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 15.11.2000 zurück. Zur Begründung führte er aus, daß der Kläger am Unfalltag während der gesamten Schulzeit nicht anwesend gewesen sei. Da keine versicherte Tätigkeit ausgeübt worden sei, liege auch kein Arbeitsunfall vor. Außerdem sei der Zusammenhang mit der Schule dadurch verlorengegangen, daß der Kläger den schulischen Bereich verlassen habe.

Hiergegen richtet sich die am 15.12.2000 erhobene Klage. Der Kläger bestreitet, daß er eigenmächtig das Schulgelände verlassen habe.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

den Bescheid des Beklagten vom 12.05.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.11.2000 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, seinen Unfall vom 20.01.1997 als Arbeitsunfall zu entschädigen.

Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen W. Der Zeuge hat bekundet, dass der Kläger am Unfalltag am Unterricht in den beiden ersten Stunden teilgenommen hat. Den Schülern sei von einem Lehrer gestattet worden, bis zum Beginn des Sportunterrichts in der 5. Stunde außerhalb des Schulgeländes frühstücken zu gehen, weil ein Ersatzlehrer nicht komme. Wegen der Einzelheiten wird auf die Niederschrift vom 18.06.2001 verwiesen.

Neben den Gerichtsakten haben der Kammer die den Kläger betreffen den Verwaltungsakten der Beklagten vorgelegen. Sie sind Gegenstand der Beratung gewesen. Wegen des weiteren Vorbringens. der Beteiligten und der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Akteninhalt und die übrigen Unterlagen Bezug genommen.

Im Termin zur Beweisaufnahme am 18.06.2001 haben sich die Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte gemäß § 24 Absatz· 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, weil sich die Beteiligten mit dieser Vorgehensweise einverstanden erklärt haben.

Die statthafte Klage ist form- und fristgerecht erhoben und daher zulässig. Sie mußte auch in der Sache selbst zum Erfolg führen. Der Kläger hat Anspruch auf die Entschädigungsleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung, da er am 20.01.1997 einen Arbeitsunfall erlitten hat.

Gemäß § 8 Abs. 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle infolge einer der Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründen den Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Gemäߧ 2 Abs. 1 Nr. 8 b SGB VII sind kraft Gesetzes versichert Schüler während des Besuchs von allgemein- oder berufsbildenden Schulen. Versicherte Tätigkeit ist gemäߧ 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit unmittelbar zusammenhängenden Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit. Für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls ist in der Regel erforderlich, daß das Verhalten, bei dem sich der Unfall ereignet hat, einerseits der versicherte Tätigkeit zuzurechnen ist, und dass diese Tätigkeit andererseits den Unfall herbeigeführt hat (BSGE 61,127,12,8 = SozR § 548 Nr. 84). Zunächst muß also eine sachliche Verbindung mit der im Gesetz genannten versicherten Tätigkeit bestehen, der sogenannte innere Zusammenhang, der es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen (BSG SozR 2200 § 548 Nr. 82, 92 und 97). Der innere Zusammenhang ist wertend zu ermitteln, indem untersucht wird, ob die jeweilige Verrichtung innerhalb der Grenze liegt, bis zu welcher der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung reicht (BSGE 58, 76,77; 61, 127,128). Für die tatsächlichen Grundlagen dieser Wertentscheidung ist der volle Beweis zu erbringen, bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens muß der volle Beweis für das Vorliegen der versicherten Tätigkeit als erbracht angesehen werden können (BSGE 58,80,83 = SozR 2200 § 666a Nr. 1 mwN). Es muß also sicher feststehen, daß im Unfallzeitpunkt eine - noch - versicherte Tätigkeit ausgeübt wurde (BSGE 61, 127, 128 = SozR § 548 Nr. 84 mwN). Der innere Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit ist hier nach der Überzeugung der Kammer gegeben.

Zunächst einmal hält es die Kammer für voll bewiesen, daß der Kläger am Unfalltag in den ersten beiden Stunden am Unterricht teilgenommen und damit eine versicherte Tätigkeit i. S. v. § 2 Abs.1 Nr. 8 b SGB VI- ausgeübt hat. Die diesbezügliche Angaben des Klägers sind bestätigt worden durch die glaubhaften Bekundungen des vom Gericht als Zeugen vernommenen Mitschülers W. Die gegenteiligen Angaben des Schulleiters hält die Kammer nicht für glaubhaft. Denn dessen Auskünfte haben sich ansonsten allesamt als falsch herausgestellt. Offensichtlich hat die Schulleitung nur höchst unvollständige Kenntnisse über die Vorgänge in der Schule und die Anwesenheit von Lehrern und Schülern in den Klassenräumen. Es werden von ihr keine Fakten mitgeteilt, sondern es handelt sich um Schlußfolgerungen anhand von Eintragungen in das Klassenbuch. Zunächst wurde abgestritten, daß der Kläger überhaupt Schüler der Berufsschule sei. Dann wurde die unzutreffende Angabe gemacht, daß der 20.01.1997 ein normaler Schultag ohne Unterrichtausfall gewesen sei. Dann wurde behauptet, der Kläger habe den ganzen Tag nicht am Unterricht teilgenommen. Schließlich wurde dem , Beklagten mitgeteilt, daß die Schüler W und P am Unfalltag bis 10.30 Uhr am Unterricht teilgenommen hätten. Auch diese Auskunft muß falsch sein, denn die beiden Schüler können nicht gleichzeitig um 10.20 Uhr in einem Verkehrsunfall verwickelt gewesen sein. Bei dieser Fülle von Falschangaben mißt die Kammer den Auskünften des Schulleiters keinen Beweiswert bei. Sie sieht es vielmehr durch die Aussage des Zeugen W als erwiesen an, daß der Unterricht in der 3. und 4. Stunde ausgefallen ist und daß die Schüler mit Erlaubnis eines Lehrers das Schulgelände für eine Frühstückspause verlassen haben.

Im übrigen bestände aber auch Unfallversicherungsschutz bei einer eigenmächtig selbst bewilligten Pause, weil die Schüler auch dann nach wie vor unter der Obhutspflicht der Schule stehen (vgl. BSG SozR 3-2200 § 539 Nr. 42). Die Kammer hält die Rechtsprechung des BSG zum Kindergartenbesuch für übertragbar auf die Schülerunfallversicherung.

Bei der Fahrt dem "Döner " und zurück nahm der Kläger zwar nicht am Unterricht teil, aber es bestand auch während der Fahrt ein innerer Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit unter dem Gesichtspunkt der Nahrungsaufnahme. Das Bundessozialgericht hat in seiner jüngeren Rechtsprechung den Versicherungsschutz auf dem Weg zu und von der Werkskantine (BSG SozR 2200 § 548 Nr. 86 und 97) oder für die notwendigen Wege zur Besorgung von Nahrungsmitteln bzw. Erfrischungsgetränken auf dem Betriebsgelände oder , außerhalb während der Arbeitszeit oder der Arbeitspause (vgl. BSG SozR 2200 § 550 Nr. 28 und 54; SozR 2200 § 548 Nr. 97) angenommen. Grund hierfür ist, daß auch in den Fällen, in denen die Nahrungsaufnahme nicht aufgrund besonderer betrieblicher Einwirkungen erforderlich ist, sie nicht nur dem Stillen des natürlichen Hunger- und Durstgefühls, sondern im Regelfall auch der Erhaltung oder Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit und damit betrieblich n Belangen dient und das Zurücklegen der Wege notwendig ist, weil der Beschäftigte sich nicht zu Hause oder sonstwie im privaten Bereich aufhält, sondern seiner versicherten Tätigkeit nachgeht. Beide Gründe rechtfertigen es, das Zurücklegen der erforderlichen Wege zur Nahrungsaufnahme oder zur Besorgung von Nahrungsmitteln der versicherten Tätigkeit zuzurechnen, die Nahrungsaufnahme selbst aber nach wie vor grundsätzlich nicht (BSG SozR 3-2700 § 8 Nr. 2 m. w. N.).

Es ergibt sich aus der Akte der Beklagten kein Anhaltspunkt dafür, daß der Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit dadurch gelöst worden sein könnte, daß der von den Schülern aufgesuchte "Döner" unverhältnismäßig weit von der Schule entfernt lag oder weil sich die Schüler nicht auf dem direkten Rückweg zur Schule befanden, als sich der Unfall ereignete. Deswegen hatte die Kammer keine Bedenken, im vorliegenden Fall einen vom Beklagten zu entschädigen den Schulwegeunfall anzunehmen.

Die Kostenentscheidung beruht auf§ 193 SGG

Rechtsmittelbelehrung:

Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden.

Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beim

Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Zweigertstraße 54,

45130 Essen,

schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Monatsfrist bei dem

Sozialgericht Gelsenkirchen, Ahstraße 22,

45879 Gelsenkirchen,

schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.

Die Berufungsschrift muss innerhalb der Monatsfrist bei einem der vorgenannten Gerichte eingehen. Sie soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung der Berufung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

Auf Antrag kann vom Sozialgericht durch Beschluss die Revision zum Bundessozialgericht zugelassen werden, wenn der Gegner schriftlich zustimmt. Der Antrag auf Zulassung der Revision ist innerhalb , eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Sozialgericht Gelsenkirchen schriftlich zu stellen. Die Zustimmung des Gegners ist dem Antrag beizufügen.

Lehnt das Sozialgericht den Antrag auf Zulassung der Revision durch Beschluss ab, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Berufungsfrist von neuem, sofern der Antrag auf Zulassung der Revision in der gesetzlichen Form und Frist gestellt und die Zustimmungserklärung des Gegners beigefügt war.
Rechtskraft
Aus
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