L 14 R 717/18

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 30 R 2218/17
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 14 R 717/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
"Zur rückwirkenden Befreiung von der Rentenversicherungspflicht nach § 231 Abs. 4b SGB VI - Syndikusanwalt - Maßgeblichkeit des Zeitpunkts der Zahlung der "einkommensbezogenen Pflichtbeiträge" iS des § 231 Abs. 4b S 4 SGB VI"
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 27.09.2018 wird zurückgewiesen.

II. Die Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in der Berufungsinstanz.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die rückwirkende Befreiung der Klägerin als Syndikusanwältin von der Versicherungspflicht zur Rentenversicherung in der Zeit vom 01.01.2011 bis 31.03.2014 nach § 231 Abs. 4b Satz 4 SGB VI.

Die 1971 geborene Klägerin ist Volljuristin. Sie begann am 15.03.2004 eine Tätigkeit als Bereichsleiterin Legal Affairs bei der F. GmbH.

Am 05.03.2014 beantragte sie die Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI für die o.g. Tätigkeit. Der Antrag war mit Bescheid vom 30.04.2014 abgelehnt und der Widerspruch mit Bescheid vom 30.03.2015 zurückgewiesen worden. Das Klageverfahren zum Sozialgericht München (S 30 R 848/15) war wegen des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur Neuordnung des Rechts der Syndikusanwälte zum Ruhen gebracht worden. Daneben existiert auch noch ein Befreiungsbescheid vom 29.10.2001 hinsichtlich einer Tätigkeit der Klägerin als Rechtsanwältin.

Am 07.03.2016, Eingang bei der Beklagten am 09.03.2016, beantragte die Klägerin die rückwirkende Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung nach § 231 Abs. 4b Satz 4 SGB VI sowie die Erstattung zu Unrecht gezahlter Pflicht-beiträge an die berufsständische Versorgungseinrichtung für Syndikusanwälte auch für Zeiten vor dem 01.04.2014. Sie sei seit 11.06.2001 Mitglied der Rechtsanwalts- sowie der Versorgungskammer. Die Rechtsanwaltskammer München erteilte mit Bescheid vom 02.08.2016 antragsgemäß die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft als Syndikusrechtsanwältin.

Die Beklagte befreite die Klägerin mit Bescheiden vom 05.04.2017 für die Zeit vom 01.04.2014 bis 21.09.2016 sowie vom 15.03.2004 bis 31.12.2010 für ihre Beschäftigung bei der F. GmbH.

Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 05.04.2017 wurde jedoch die rückwirkende Befreiung für die Zeit vom 01.01.2011 bis 31.03.2014 abgelehnt, da die Klägerin in dieser Zeit keine einkommensbezogenen Pflichtbeiträge an das berufsständische Versorgungswerk gezahlt habe, so dass die Voraussetzungen für eine rückwirkende Befreiung nach § 231 Abs. 4b SGB VI nicht vorlägen.

In ihrem dagegen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin geltend, sie habe einkommensbezogene Pflichtbeiträge für den streitigen Zeitraum gezahlt. Diese seien damals an die bayerische Rechtsanwalts- und Steuerberaterversorgung (Versorgungskammer) gezahlt worden, bei der sie auch kraft Gesetzes Pflichtmitglied sei. Die Höhe der Beiträge sei aus ihrem Gehalt aus der Angestelltentätigkeit bezahlt worden. Allerdings seien die ursprünglich an die Versorgungskammer gezahlten Pflichtbeiträge aufgrund der Entscheidung des Bundessozialgerichts zur Befreiung von angestellten Rechtsanwälten von ihrem Arbeitgeber von der Versorgungskammer zurückgefordert worden und an die Rentenversicherung überwiesen worden. Dies auch, weil ihre Klage gegen den ursprünglichen Ablehnungsbescheid keine aufschiebende Wirkung entfaltete. Ihrer Meinung nach komme es bei der Anwendung des § 231 Abs. 4b Satz 4 SGB IV alleine auf den Zahlungszeitpunkt der Beiträge an und nicht darauf, wann der Antrag auf Befreiung gestellt werde. Sie verwies auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BvErfG) vom 19.07.2016, 1 BvR 2584/14.

Der Widerspruch wurde mit Bescheid vom 09.11.2017 zurückgewiesen. Die Beklagte führte aus, dass die Bayerische Versorgungskammer für den Zeitraum 01.01.2011 bis 31.03.2014 die Zahlung einkommensbezogener Pflichtbeiträge nicht ausdrücklich bestätigt habe. Außerdem habe die Klägerin in dem zu beurteilenden Zeitraum gleichzeitig Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet, was den Schluss rechtfertige, dass zur berufsständischen Versorgungseinrichtung lediglich geminderte Beiträge entrichtet worden seien. Diese Annahme werde durch die im Widerspruchsverfahren eingereichte Beitragskontoübersicht sowie die eigenen Ausführungen der Klägerin bestätigt. Hieraus gehe hervor, dass für die Zeit ab 01.01.2011 lediglich der Mindestbeitrag zum berufsständischen Versorgungswerk entrichtet worden sei, nicht aber einkommensbezogene Pflichtbeiträge. Das BVerfG habe mit seinen Beschlüssen vom 19.07.2016 und 22.07.2016 keine materiellrechtliche Entscheidung getroffen, die eine Bindungswirkung entfalten könnte.

Mit ihrer Klage zum Sozialgericht München verfolgte die Klägerin ihr Ziel, im Wesentlichen unter Berufung auf eine einkommensgerechte Zahlung in der Vergangenheit an die Versorgungskammer, weiter. Das BVerfG habe in seinem Beschluss, Az. 1 BvR 2584/14, ausgeführt, dass die auf der Grundlage des Einkommens geleisteten Zahlungen, die nachträglich nach Verkündung des mit der Verfassungsbeschwerde angefochtenen Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 03.04.2014 an den Rentenversicherungsträger ausgekehrt worden sind, rechtlich als einkommensbezogenen Pflichtbeiträge im Sinne von § 231 Abs. 4b Satz 4 SGB VI zu qualifizieren seien, weil es schon nach dem Wortlaut der Norm allein auf den Zahlungszeitpunkt ankomme.

Die Beklagte erwiderte darauf, dass mit dem zitierten Bundesverfassungsgerichtsbeschluss die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des BSG vom 03.04.2016 nicht zur Entscheidung angenommen worden sei, so dass eine materiellrechtliche Entscheidung nicht getroffen worden sei. Die Anmerkung zu § 231 Abs. 4b SGB VI könne somit auch nicht als obiter dictum qualifiziert werden. Es werde auch nicht deutlich, warum zu einem Gesetz aus dem Jahr 2016 Stellung bezogen werde, obwohl eine Entscheidung des BSG aus dem Jahr 2014 verfassungsrechtlich überprüft werden sollte. Auch der Sinn der Aussage: "ein Mindestbeitrag sei als einkommensbezogener Beitrag im Sinne des § 231 Abs. 4b SGB VI anzusehen" erschließe sich nicht. Das Bundesverfassungsgericht habe selbst darauf hingewiesen, dass die Auslegung des § 231 Abs. 4b SGB VI zunächst den Fachgerichten obliege, da es sich um eine Norm des einfachen Rechts handle. § 231 Abs. 4b SGB VI sei im Zusammenhang mit § 6 Abs. 1 Nr.1 SGB VI zu sehen, so dass die Notwendigkeit des Vorliegens von Beiträgen, die eine unmittelbare Relation zum Einkommen aufweisen, unbestritten sei. Die Klägerin habe lediglich Mindestbeiträge zur berufsständischen Versorgung entrichtet. § 231 Abs. 4b SGB VI erfülle den Zweck, den auf dem Feld der Tätigkeiten von Syndikusanwälten bis zu den Entscheidungen des BSG vom 03.04.2014 bestehenden Status quo weitestgehend wiederherzustellen. Bestrebungen, diese Regelungen auf Personen auszuweiten, für die nach der alten Rechtspraxis keine Befreiung möglich war oder die keine Befreiung angestrebt hatten, sei im Gesetzgebungsverfahren eine Absage erteilt worden.

Das Sozialgericht München hob mit Urteil vom 27.09.2018 den Bescheid der Beklagten vom 05.04.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 09.11.2017 auf und stellte fest, dass die Klägerin in der Zeit vom 01.01.2011 bis 31.03.2014 von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zu befreien ist. Die Klägerin habe entsprechend dem Wortsinn des § 231 Abs. 4b SGB VI einkommensgerechte Beiträge sogar bis zu dem durch die Beitragsbemessungsgrenze definierten Höchstbeitrag entrichtet. Das Gesetz verlange die Entrichtung der Beiträge, nicht jedoch deren noch gegenwärtige Präsenz im Beitragskonto. Entsprechend der 2014/15 bestehenden Unsicherheit habe man annehmen können, dass die Klägerin fortan bei der Beklagten versichert sei. Deshalb seien die Beiträge der Klägerin an die Beklagte weitergeleitet worden. Durch die den Syndikusrechtsanwälten entgegenkommende Rechtsänderung verbleibe die Klägerin jedoch wie schon seit 2004 in der Anwaltsversorgung. Die Ausführungen der Beklagten, wonach die Änderung des § 231 SGB VI keine Personen begünstigen solle, die schon nach der Rechtspraxis vor April 2014 nicht von der Versicherungspflicht befreit werden konnten, gehe an der Realität der Streitsache vorbei. Die Klägerin sei bereits seit 2004 befreit gewesen und gehöre somit genau zu dem Personenkreis, für den eine versorgungsrechtliche Kontinuität gewährleistet werden solle.

Gegen das Urteil des Sozialgerichts München legte die Beklagte Berufung ein. Sie beruft sich darauf, dass die in der streitigen Zeit von der Klägerin an die Bayerische Rechtsanwalts- und Steuerberaterversorgung gezahlten Beiträge aus der nebenher ausgeübten selbstständigen Tätigkeit als Rechtsanwältin stammten und daher keine einkommensbezogenen Pflichtbeiträge seien. Die Beklagte verwies auch auf ein beim BSG anhängiges Verfahren in einem ähnlich gelagerten Fall, so dass sie ein Ruhen des Verfahrens beantrage.

Die Klägerin stimmte einem Ruhen nicht zu, da sie die Rechtsfrage, ob in ihrem Fall Mindestbeiträge als einkommensbezogene Pflichtbeiträge gelten, als nicht einschlägig ansieht. Ihrer Meinung nach habe sie einkommensbezogene Beiträge gezahlt, die sich nur derzeit, wegen Umbuchung, nicht mehr bei der Versorgungskammer, sondern bei der Beklagten befinden.

Die vom Senat beigeladene Bayerische Rechtsanwalts- und Steuerberaterversorgung bestätigte mit Schreiben vom 08.02.2019, dass die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum zunächst einkommensbezogene Pflichtbeiträge aus Angestelltentätigkeit entrichtet habe. Nachdem festgestellt worden war, dass für den genannten Zeitraum keine Befreiung von der Versicherungspflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung vorliege, wurden diese Beiträge - nach Einverständniserklärung der Klägerin - vom Mitgliedskonto genommen und unter Einbehaltung des Grundbeitrags an den Arbeitgeber zurückbezahlt.

Die Klägerin erklärte mit Schreiben vom März 2019, dass es zur Beitragserstattung nur deshalb gekommen sei, da der Antrag des Arbeitgebers auf Aussetzung der Vollziehung von der zuständigen Einzugsstelle abgelehnt worden sei. Dabei habe die Einzugsstelle den Hinweis erteilt, dass ohnehin kein Nachteil für die Klägerin entstünde, wenn sie im weiteren Verfahren rechtskräftig von der Versicherungspflicht befreit werde, denn dann bestünde sowohl ein Anspruch der Klägerin als auch des Arbeitgebers auf Erstattung der zu Unrecht entrichteten Beiträge.

Es komme, so die Klägerin, bei § 231 Absatz 4b Satz 4 SGB VI darauf an, welchen Betrachtungszeitpunkt man für die Beitragszahlung der einkommensbezogenen Pflichtbeiträge annehme. Hierzu vertrete die Beklagte die Auffassung, dass es auf den Zeitpunkt der Antragstellung auf rückwirkende Befreiung ankomme. Nach ihrer Ansicht, komme es jedoch entsprechend des Wortlauts des § 231 Abs. 4b Satz4 SGB VI nicht auf den Antragszeitpunkt an, sondern auf den Zeitpunkt der Abführung der Beiträge. Würde man das so auslegen wie die Beklagte, könnte man der Intention des Gesetzgebers, die Lückenlosigkeit einer einkommensgerechten Versorgung sicherzustellen, nicht nachkommen. Auch die Gesetzesbegründung gehe davon aus, dass seinerzeit einkommensbezogene Pflichtbeiträge gezahlt worden seien. Ein bestandskräftig ablehnender Bescheid nach § 6 Abs. 1 SGB VI liege in Ihrem Fall nicht vor, da das Verfahren vor dem Sozialgericht München noch ruhe. Sie legte auch das Schreiben der Einzugstelle (AOK) vom 08.08.2014 an ihren Arbeitgeber vor. Darin wird die Aussetzung der Vollziehung abgelehnt und der Arbeitgeber aufgefordert, die Beiträge an die Rentenversicherung nachzuentrichten und die Meldungen zur Sozialversicherung zu korrigieren.

Die Beklagte legte dar, dass aus ihrer Sicht die Zahlung einkommensbezogener Pflichtbeiträge an ein berufsständisches Versorgungswerk nach ihrem Verständnis nicht nur bedeute, dass Beiträge entrichtet worden seien, sondern auch dort verbleiben. Dies entspreche dem allgemeinen Verständnis des Begriffs "Zahlung". Insbesondere werde auch nur diese Auslegung der Funktion der Vorschriften und der gesetzgeberischen Zielsetzung gerecht. Aus der Gesetzesbegründung sei zu entnehmen, dass es dem Gesetzgeber um Vertrauensschutz für diejenigen ginge, die Ihre Beiträge vor dem 01.04.2014 in der Annahme einer gültigen Befreiung ausschließlich zur berufsständischen Versorgung entrichtet hätten und nicht zur gesetzlichen Rentenversicherung. Nur für diese Fälle soll eine Rückabwicklung ausgeschlossen werden, indem die an das berufsständische Versorgungswerk gezahlten Beiträge nachträglich legalisiert würden. Der Begriff- "seinerzeit" in der Gesetzesbegründung zu § 231 Abs. 4 b SGB VI sei nicht geeignet, zu einer abweichenden Interpretation des Tatbestandsmerkmals "Zahlung einkommensbezogener Pflichtbeiträge an ein berufsständisches Versorgungswerk" zu gelangen, wenn zunächst Beiträge an das berufsständische Versorgungswerk gezahlt worden seien, diese später aber abgewickelt worden seien. "Seinerzeit" mache lediglich kenntlich, dass der Zahlungsvorgang in der Vergangenheit erfolgt sei. Einen weitergehenden Bedeutungsgehalt habe die Formulierung nicht. Insbesondere rechtfertige sie keine Interpretation dahingehend, das Merkmal der "Zahlung einkommensbezogener Pflichtbeiträge an ein berufsständisches Versorgungswerk" auch dann als erfüllt anzusehen, wenn zunächst Beiträge an die berufsständische Versorgung entrichtet worden waren, diese später aber abgewickelt worden seien. Denn unter diesen Umständen habe der Gesetzgeber gerade keinen Vertrauensschutz gewähren wollen. Die Klägerin gehöre als abhängig Beschäftigte zum Kernbereich der typisiert Schutzbedürftigen und deshalb auch zu den Pflichtversicherten in der gesetzlichen Rentenversicherung. Es sei darauf hinzuweisen, dass die Tatbestandsmerkmale der Vorschrift zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung vorliegen müssten. Eine erweiternde Auslegung wäre nicht nachvollziehbar, da bei der Klägerin ein schützenswertes Vertrauen in die Fortgeltung ihrer 2001 für einen anderen Arbeitgeber ausgesprochenen Befreiung nicht vorliege.

Die Klägerin beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgericht München vom 27.09.2018 aufzuheben sowie die Klage gegen den Bescheid vom 05.04.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.11.2017 abzuweisen.

Die Beigeladene stellte keinen Antrag.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Akten des Sozialgerichts und der Beklagten Bezug genommen, die sämtlich Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Das Urteil des Sozialgerichts München vom 27.09.2018 ist rechtmäßig ergangen. Die Klägerin hat Anspruch auf rückwirkende Befreiung auch für den Zeitraum 01.01.2011 bis 31.03.2014. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der dafür in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage des § 231 Abs. 4b Satz 4 SGB VI sind erfüllt. Die Vorschrift lautet:

"Eine Befreiung von der Versicherungspflicht als Syndikusrechtsanwalt oder Syndikuspatentanwalt nach § 6 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, die unter Berücksichtigung der Bundesrechtsanwaltsordnung in der ab dem 01.01.2016 geltenden Fassung oder der Patentanwaltsordnung in der ab dem 01.01.2016 geltenden Fassung erteilt wurde, wirkt auf Antrag vom Beginn derjenigen Beschäftigung an, für die die Befreiung von der Versicherungspflicht erteilt wird. Sie wirkt auch vom Beginn davor liegender Beschäftigungen an, wenn während dieser Beschäftigungen eine Pflichtmitgliedschaft in einem berufsständischen Versorgungswerk bestand. Die Befreiung nach den Sätzen 1 und 2 wirkt frühestens ab dem 01.04.2014 (Sätze 1- 3).

Die Befreiung wirkt jedoch auch für Zeiten vor dem 01.04.2014, wenn für diese Zeiten einkommensbezogene Pflichtbeiträge an ein berufsständisches Versorgungswerk gezahlt wurden (Satz 4). ( ...)"

Die Klägerin stellte rechtzeitig einen Befreiungsantrag nach neuem Recht, sodass der Antrag grundsätzlich vom Beginn derjenigen Beschäftigung an wirkt, für die die Befreiung von der Versicherungspflicht erteilt wird. Nachdem die Klägerin ihre Tätigkeit seit 2004 beim gleichen Arbeitgeber ausübt, sollte sie grundsätzlich für diese Tätigkeit rückwirkend befreit werden, bei Zahlung einkommensgerechter Beiträge auch für Zeiten vor dem 01.04.2014.

1. Die Norm des § 231 Abs. 4b SGB VI steht im Zusammenhang mit der Novellierung des Berufsrechts der Rechtsanwälte im Jahr 2016. Beschäftigte Syndici waren nach langjährig geübter Rechtspraxis der Beklagten entgegen § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI contra legem von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht befreit worden. Diese Rechtspraxis wurde durch die Verwaltung beendet, weil die Syndikustätigkeit keine rechtsanwaltschaftliche Tätigkeit sei. Nach divergierenden Entscheidungen der Instanzgerichte bestätigte das Bundessozialgericht die geänderte Verwaltungspraxis der Nichtbefreiung (BSG vom 03.04. 2014, BSGE 115, 267; B 5 RE 9/14 R und B 5 RE 3/14 R, Juris; siehe auch Bayer. LSG, Urt. v. 18.12.2013, L 14 R 816/12, Juris). Daraufhin wurde der Gesetzgeber berufsrechtsändernd tätig und erschuf den Typus des zugelassenen (angestellten) Syndikusrechtsanwalts, so dass ab erteilter Zulassung als Syndikusrechtsanwalt, die neben der Zulassung als (selbständiger) Rechtsanwalt bestehen kann, grundsätzlich nach § 6 Abs. 1 S. Nr. 1 SGB VI zu befreien ist. Dabei stellen die Änderungen der Bundesrechtsanwaltsordnung für Zeiten ab Inkrafttreten der Neuregelung die rechtlichen Maßstäbe im Ergebnis wieder her, die die Beklagte ehemals contra legem angewandt hatte (sog. vier Kriterien).

Da die auf der Grundlage des geänderten Berufsrechts erteilte Befreiung erst ab Syndikusanwaltszulassung erteilt werden kann, jedoch die Tätigkeiten der "neuen" Syndici meist in der Vergangenheit begonnen wurden und häuftig Beiträge zum berufsständischen Versorgunggswerk gezahlt worden waren, wurde vom Gesetzgeber die Übergangsregelung des § 231 Abs. 4b Sätze 1-3 SGB VI geschaffen. Danach wirkt die Befreiung bis zum Beginn derjenigen Beschäftigung zurück, in der eine Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung auf der Grundlage der geänderten Bundesrechtsanwaltsordnung erfolgt. Sie wirkt darüber hinaus für zeitlich unmittelbar davorliegende andere Beschäftigungen in den Fällen eines Beschäftigungswechsels. Voraussetzung ist in allen Fällen, dass während den Beschäftigungen zumindest eine Pflichtmitgliedschaft in einem berufsständischen Versorgungswerk - nicht unbedingt auch eine einkommensbezogene Beitragszahlung an das Versorgungswerk - bestand, mithin ein Bezug zur berufsständischen Versorgung - gegebenenfalls auch neben einer Pflichtbeitragszahlung zur gesetzlichen Rentenversicherung - gegeben war. Diese Rückwirkung gilt unabhängig davon, ob die Pflichtbeiträge für die Beschäftigung als Syndikus zur gesetzlichen Rentenversicherung oder zur berufsständischen Versorgung entrichtet wurden. Die Regelung hat, so die Begründung des Gesetzentwurfs, nur Bedeutung für diejenigen Personen, die für ihre zum Zeitpunkt der Urteile des Bundessozialgerichts vom 03.04.2014 ausgeübten Beschäftigungen keinen gültigen Befreiungsbescheid besaßen, stets Pflichtmitglieder einer berufsständischen Versorgungseinrichtung waren und nunmehr als Syndikusrechtsanwälte oder Syndikuspatentanwälte befreiungsfähig sind (siehe BT-Drs. 18/5201 vom 16.06.2015, Seite 46).

Jedoch setzte der Gesetzgeber einen Stichtag als zeitlichen Endpunkt der rückwirkenden Befreiung fest. Hiermit sollte im Interesse der Rechts- und Beitragssicherheit vermieden werden, dass in Fällen, in denen eine Befreiung zwar nach neuem Berufsrecht, nicht aber nach alter Rechtspraxis möglich war oder angestrebt wurde, unter Umständen eine langjährige, u. U. erwerbslebenslange Beitragszahlung zur gesetzlichen Rentenversicherung rückabzuwickeln wäre. Als zeitlichen Endpunkt der Rückwirkung der Befreiung setzte der Gesetzgeber den 01.04.2014 fest, weil das Bundessozialgericht mit Urteil vom 03.04.2014 (a. a. O.) hierzu grundlegend entschieden hatte. Aufgrund dessen hatten viele Arbeitgeber die bei ihnen beschäftigten Syndici zur gesetzlichen Rentenversicherung rückwirkend umgemeldet, um Nachforderungen der Beklagten zu vermeiden. (zum Ganzen: BT-Drs 18/5201 vom 16.06.2015, S. 46).

Als Ausnahme von dem festgesetzten Endpunkt einer rückwirkenden Befreiung bestimmt § 231 Abs. 4b Satz 4 SGB VI, dass die Begrenzung der Rückwirkung der Befreiung auf April 2014 nicht in den Fällen gelten solle, in denen (insbesondere in der Annahme des Bestehens einer gültigen Befreiung) für die schon vor dem Stichtag ausgeübte gleiche Beschäftigung seinerzeit nur einkommensbezogene Pflichtbeiträge zur berufsständischen Versorgung gezahlt wurden, nicht jedoch zur gesetzlichen Rentenversicherung (so BT-Drs. 18/5201, S. 47 oben). Die Vorschrift bezweckt damit, eine umfassende Rückabwicklung der zur berufsständischen Versorgung entrichteten Beiträge zu vermeiden und im Ergebnis die tatsächliche Beitragszahlung an das Versorgungswerk nachträglich zu legalisieren (Fichte, in: Hauck Noftz, SGB VI, § 231 Rn 46). Der Gesetzgeber wollte mit dieser Neuregelung weitestgehend den bisherigen Status quo aufrechterhalten bzw. wiederherstellen (vgl. BT-Drs aaO, Seite 22).

2. Die Tatbestandmerkmale "einkommensbezogene Pflichtbeiträge an ein berufsständisches Versorgungswerk gezahlt wurden" sind nach Überzeugung des Senats so auszulegen, dass es für den Zahlungszeitpunkt auf den Beschäftigungszeitpunkt ankommt.

Im vorliegenden Fall hat die Klägerin seit dem Beginn ihrer Tätigkeit im Jahr 2004 ausschließlich Beiträge aus ihrer Angestelltentätigkeit - beim gleichen Arbeitgeber - an das Versorgungswerk gezahlt. Die Beigeladene hat eine Beitragszahlung aus dem Einkommen aus der Angestelltentätigkeit in den streitigen Jahren auch bestätigt. Nur durch die rückwirkende Umbuchung der Beiträge an die Beklagte, die auf eine Veranlassung der Einzugsstelle und nicht auf eine Eigeninitiative des Arbeitgebers zurückging, befinden sich die Beiträge nicht mehr beim Versorgungswerk.

Die rückwirkende Umbuchung der noch nicht verjährten Beiträge an die Beklagte würde hier im Ergebnis dazu führen, dass die Klägerin für etwas über drei Jahre keine Anwartschaften in der Versorgungskammer, jedoch in der gesetzlichen Rentenversicherung hätte. Dieses Ergebnis spricht bereits nicht für die vom Gesetzgeber gewollte Aufrechterhaltung des Status quo. Typischerweise sind hier Personen betroffen, die in der Annahme einer gültigen Befreiung durchgehend Beiträge an die Versorgungskammer gezahlt hatten und dann von Ummeldungen für begrenzte Zeiträume erfasst wurden. Die Begründung des Gesetzentwurfs hatte die Fälle der Ummeldung zur Rentenversicherung im Zuge der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts explizit als Grund genannt, weshalb die rückwirkende Befreiung bis zum 01.04.2014 aus Vertrauensschutzgründen gewährt werden sollte. Nach Überzeugung des Senats wurde dabei aber nicht an diejenigen gedacht, bei denen nicht nur eine Ummeldung für Zeiten ab dem 01.04.2014 erfolgt ist, sondern - auf Veranlassung der Einzugsstelle - auch die Beiträge bis zur Verjährung rückwirkend umgebucht worden sind. Auch dieser Personenkreis bedarf aber wegen der Aufrechterhaltung einer möglichst einheitlichen Alterssicherung des besonderen Schutzes.

Nach Meinung des Senats lässt sich überdies aus den Redebeiträgen der Abgeordneten Dr. Silke Launert (CDU/CSU) und Johann Fechner (SPD) sowie des Justizministers Heiko Maas, wie sie sich aus den Plenarprotokollen zur 1. und 2./3.Lesung des Gesetzentwurfs (BT-Plenarprotokoll 18/113 vom 19.06.2015, Seite 10935 bis 10941 und BT-Plenarprotokoll 18/146 vom 17.12.2015, Seite 14418) ergeben, folgern, dass ein umfassender Vertrauensschutz gewollt war. Wer jahrzehntelang, im Vertrauen auf einen von der Rentenversicherung erteilten Befreiungsbescheid, Beiträge an das Versorgungswerk gezahlt hatte, sollte sich nach dem Willen des Gesetzgebers auf seine Alterssicherung bei den Versorgungswerken verlassen können.

So erklärte Bundesminister Maas: "der Gesetzentwurf schafft Vertrauensschutz: Wer bis zu den Urteilen des Bundessozialgerichts von der Versicherungspflicht befreit war und anschließend in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt hat, der kann seine Beiträge nun in die anwaltliche Versorgung zurückführen ... wir schützen das Vertrauen der Syndikusanwälte in ihre Alterssicherung, ..." Dr. Launert hob die besondere Wichtigkeit des Vertrauensschutzes für diejenigen Syndikusanwälte hervor, die schon einen Bescheid über eine Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht haben. Die weiteren Details werden wir im Gesetzgebungsverfahren noch ansprechen. Der Abgeordnete Fechner postulierte: "Die Syndikusanwälte hatten auf ihre Alterssicherung bei den Versorgungswerken vertraut und sich darauf eingestellt."

Der Arbeitgeber der Klägerin hat mit ihr zusammen auf den Befreiungsbescheid, der ihr von der Beklagten im Jahr 2001 als Rechtsanwältin erteilt worden war, vertraut. Damit wurden auch im Fall der Klägerin in der Annahme einer gültigen Befreiung Beiträge ausschließlich an das Versorgungswerk und nicht an die Beklagte entrichtet. Damit entspricht die Klägerin genau dem Personenkreis, der von der rückwirkenden Befreiung bis zum Beschäftigungsbeginn profitieren sollte.

3. Der Gesetzeswortlaut stützt die Auffassung der Beklagten, die Beiträge müssten sich zum Zeitpunkt des Befreiungsantrags noch beim Versorgungswerk befinden, nicht. In § 231 Absatz 4b Satz 4 SGB VI wird nur gefordert, dass für den Zeitraum vor dem 31.03.2014 einkommensbezogene Beiträge an die Versorgungskammer gezahlt wurden. Genau das lag hier vor. Weshalb die Beiträge zum Zeitpunkt der Antragstellung noch beim Versorgungswerk verblieben sein müssen, wie die Beklagte meint, ergibt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift nicht.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 19.07.2016, Az. 1 BvR 2584/14 ausgeführt, dass dann, wenn einkommensbezogene Pflichtbeiträge, deren Höhe nach dem vom Kläger erzielten Einkommen für jeden Monat individuell errechnet worden und an das Versorgungswerk gezahlt worden sind und die auf dieser Grundlage geleisteten zusätzlichen Zahlungen nachträglich nach Verkündung des mit der Verfassungsbeschwerde angefochtenen Urteils des Bundessozialgerichts vom 03.04.2014 an den Rentenversicherung ausgekehrt worden sind, ihre rechtlichen Qualifikation als einkommensbezogene Pflichtbeiträge im Sinne von § 231 Absatz 4b Satz 4 SGB VI nicht entgegenstehen, weil es schon nach dem Wortlaut der Norm allein auf den Zahlungszeitpunkt ankommt. Zudem sind diese Zahlungen auf Grundlage des vom Gesetzgeber in § 286f Abs. 1 SGB VI angeordneten internen Ausgleichs zwischen dem Rentenversicherungsträger auf der einen und den Versorgungswerken auf der anderen Seite nachträglich wieder auszugleichen. Daraus folgt, so das Bundesverfassungsgericht, dass dem Beschwerdeführer wegen der zwischenzeitlichen Erstattung der an das Versorgungswerk geleisteten Zusatzbeiträge kein Nachteil erwachsen kann.

Genau dieser Fall liegt auch bei der Klägerin im streitigen Verfahren vor. Der Arbeitgeber der Klägerin hatte seit dem Jahr 2004 bis zur Aufforderung durch die Einzugsstelle im Jahr 2015 die Beiträge aus der Beschäftigung der Klägerin, im Vertrauen auf eine bestehende Befreiung, an die Versorgungskammer gezahlt. Die Klägerin hatte einen Befreiungsbescheid aus dem Jahr 2001, der vom Arbeitgeber als gültiger Befreiungsbescheid angesehen wurde. Denn darin wurde die Klägerin als Rechtsanwältin, ohne Nennung eines Arbeitgebers, befreit. Erst im Zuge der nahenden Entscheidung des Bundessozialgerichts zur versicherungsrechtlichen Beurteilung von Syndikusanwälten wurde von der Klägerin ein Befreiungsantrag nach § 6 SGB VI gestellt. Dieser Antrag ist bis heute nicht rechtskräftig abgelehnt, so dass § 231 Absatz 4b Satz 5 SGB VI einer rückwirkenden Befreiung auch über den April 2014 hinaus nicht entgegensteht. Jedoch führte die Antragstellung dazu, dass die Einzugsstelle über die ablehnende Entscheidung der Beklagten informiert wurde und daher nach der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 03.04.2014 eine Abführung der Beiträge an die Beklagte forderte. Dies kann, in Übereinstimmung mit dem BVerfG, nicht zum Nachteil für die Klägerin erwachsen.

Auch die Einzugstelle wies darauf hin, dass die Beitragsumbuchung im Jahr 2014 noch keine abschließende Entscheidung darstellt, sondern eine Erstattung der Beiträge zur Rentenversicherung durchgeführt wird, wenn die Klägerin obsiegt. Daraus lässt sich ggf. auch ein Vertrauensschutz konstruieren. Es kann auch nicht sein, dass es vom Tätigwerden der jeweiligen Einzugstelle abhängt, ob die Beiträge rückwirkend umgebucht wurden oder nicht. Ein solches Ergebnis kann man nur vermeiden, wenn man das Wort "seinerzeit" so interpretiert, dass es auf den Zeitpunkt der Beitragszahlung und nicht auf den des Beitragserstattungsantrags ankommt. Nach dem Duden bedeutet "seinerzeit: "zu jener Zeit; damals". Der Wortgegensatz heißt: "heute, heutzutage, jetzt, gegenwärtig". Auch daraus ist zu erkennen, dass nur die vom Senat vorgenommen Interpretation der Vorschrift dem tatsächlich Gewollten entspricht.

4. Es ist der Beklagten zuzugestehen, dass aufgrund der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ein gültiger Befreiungsbescheid, der sich auch auf die Tätigkeit der Klägerin bei der Funkversorgung GmbH bezieht, nicht vorliegt. Gleichwohl kommt es darauf im Rahmen des § 231 Abs. 4b Satz 4 SGB VI nicht an. Denn wenn ein gültiger Befreiungsbescheid vorgelegen hätte, würde sich die Frage einer rückwirkenden Befreiung gar nicht erst stellen. Nur weil die Klägerin und der Arbeitgeber in der Annahme einer gültigen Befreiung die Beiträge in der Vergangenheit ausschließlich zur Versorgungskammer gezahlt haben, bedarf es überhaupt einer Entscheidung zu einer rückwirkenden Befreiung. Auch in der Begründung des Gesetzentwurfs wird immer wieder von der Annahme eines Bestehens einer gültigen Befreiung gesprochen. Damit ist der Vertrauensschutz der Klägerin auf die gültige Befreiung über den neu eingeführten § 231 Abs. 4b Satz 4 SGB VI auf die Zeit vor dem 01.04.2014 hinaus auszudehnen.

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG und berücksichtigt das Obsiegen der Klägerin auch in der Berufungsinstanz.

Soweit für den Senat erkennbar, wurde die vorgenommene Auslegung des § 231 Abs. 4b S. 4 SGB VI hinsichtlich der Zahlung einkommensabhängiger Pflichtbeiträge noch nicht höchstrichterlich geklärt, so dass die Revision zuzulassen war.
Rechtskraft
Aus
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