S 30 AY 3/20 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
30
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 30 AY 3/20 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 AY 5/20 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und die Beiordnung einer Rechtsanwältin werden abgelehnt.

Gründe:

I

Der Antragsteller begehrt mit seinem beim hiesigen Sozialgericht am 12. Februar 2020 eingegangenen Antrag, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) nach § 2 jenes Gesetzes zu gewähren.

Der 1997 geborene Antragsteller ist äthiopischer Staatsangehöriger. Nachdem er als Asylbewerber am 22. Juli 2015 nach A-Stadt zugewiesen worden war, bewilligte ihm die Antragsgegnerin seit dem genannten Datum die Grundleistungen gemäß § 3 AsylbLG, allerdings mit Unterbrechung im Zeitraum vom 1. August 2016 bis 23. November 2016. Hierzu ergibt sich aus der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin, dass sich der Antragsteller in der Zeit vom 7. Juli 2016 bis 23. November 2016 im Kirchenasyl befunden und die Antragsgegnerin deshalb die Leistungen zum 31. Juli 2016 eingestellt hatte mit der Bemerkung "verschwunden".

Unter dem 14. Oktober 2019 beantragte der Antragsteller die Gewährung von Leistungen in besonderen Fällen auf der Grundlage des § 2 AsylbLG. Diesen Antrag lehnte die Antragsgegnerin durch Bescheid vom 25. Oktober 2019 mit der Begründung ab, der Antragsteller habe sich in der Zeit vom 9. November 2016 bis 19. Juni 2017 Kirchenasyl befunden. Nach den insoweit anzuwendenden Ausführungsbestimmungen (A-Stadter Richtlinien) sei dies als rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet zu werten. Ein Ausländer sei danach grundsätzlich dauerhaft von den Leistungen nach § 2 AsylbLG ausgeschlossen, insofern durch dessen eigenes Zutun oder Unterlassen die Dauer des Aufenthalts zu irgendeinem Zeitpunkt rechtsmissbräuchlich begründet oder verlängert werde.

Auf den dagegen am 21. November 2019 eingelegten Widerspruch des Antragstellers stellte die Antragsgegnerin aktenkundig fest, die Begründung des vorgenannten Bescheides sei insoweit fehlerhaft als das Kirchenasyl vom Antragsteller im Zeitraum vom 7. Juli 2016 bis 23. November 2016 in Anspruch genommenen worden und er sodann in den Räumlichkeiten der evangelischen Kirche lediglich untergebracht gewesen sei.

Mit seinem Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes trägt der Antragsteller vor, eine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer liege in seinem Fall nicht vor, da die Inanspruchnahme von Kirchenasyl keinen Rechtsmissbrauch darstelle und zudem nicht sittenwidrig sei. Dies habe das Sozialgericht Stade durch Beschluss vom 17. März 2016 entschieden (Az.: S 19 AY 1/17 ER) und hierzu ausgeführt, es solle nicht jedes zu missbilligende Verhalten die Leistungen nach § 2 AsylbLG ausschließen. Unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes führe im Einzelfall nur ein Verhalten zum Ausschluss, welches in Anbetracht der besonderen Situation des Ausländers im Sinne einer Sozialwidrigkeit unentschuldbar sei. Habe die Ausländerbehörde das Kirchenasyl tatsächlich beachtet und den Aufenthalt des Ausländers während der Dauer des Kirchenasyles geduldet, so könne in der Nutzung dieses Institutes kein Rechtsmissbrauch gesehen werden. Auch Sittenwidrigkeit liege bei der Nutzung des Kirchenasyls nicht vor, da dieses mit den Werten der Gesellschaft vereinbar sei. Im Übrigen dürfte § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG verfassungswidrig sein, so dass ihm die Leistungen nach Regelbedarfsstufe 1 zustünden.

Der Antragsteller beantragt sinngemäß,

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm die Leistungen nach § 2 AsylbLG unter Berücksichtigung der Regelbedarfsstufe 1 zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Er trägt vor, gemäß § 2 AsylbLG sei das Zwölfte Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB XII) nur auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhielten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich beeinflusst hätten. Dabei werde die Inanspruchnahme von Kirchenasyl von der Rechtsprechung und der Literatur als rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer gewertet. Das Kirchenasyl sei insoweit kein anerkanntes Rechtsinstitut.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten, der Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen ist.

II

Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist jedoch in der Sache unbegründet. Die Voraussetzungen für die begehrte Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 S. 2 des Sozialgerichtsgesetzes sind nicht erfüllt. Insoweit fehlt es bereits an der erforderlichen Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs. Denn der Antragsteller erfüllt nicht die Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung nach § 2 AsylbLG, da ihm vorzuwerfen ist, die Dauer seines Aufenthalts rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst zu haben. Dem unterfällt zur Überzeugung des Gerichts auch die Inanspruchnahme von Kirchenasyl. Im vorliegenden Fall konnte daher dahinstehen, ob § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG verfassungswidrig ist oder sein könnte.

Nach § 86b Abs. 2 S. 1 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechtes des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach S. 2 der vorgenannten Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, voraus, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet. Insoweit gilt die Regelungsanordnung der Abwendung wesentlicher Nachteile mit dem Ziel, dem Betroffenen die Mittel zur Verfügung zu stellen, die zur Behebung aktueller Notlagen notwendig sind. Eine solche Notlage ist bei einer Gefährdung der Existenz oder erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen zu bejahen. Dabei sind Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund gemäß § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) i.V.m. § 86b Abs. 2 S. 4 SGG glaubhaft zu machen. Sofern im Zusammenhang mit dem Anordnungsanspruch auf die Erfolgsaussichten abgestellt wird, sind die Sach- und Rechtslage aber gleichwohl nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen (vgl. Bundesverfassungsgericht - BVerfG - Beschluss vom 12. Mai 2005, Az.: 1 BvR 569/05).

Nach den vorstehenden Grundsätzen fehlt es im vorliegenden Fall bereits an der Glaubhaftmachung des erforderlichen Anordnungsanspruchs. Denn der Antragsteller erfüllt die Voraussetzungen für die Leistungsgewährung nach § 2 Abs. 1 S. 1 AsylbLG nicht. Nach dieser Vorschrift sind abweichend von den §§ 3 und 4 bzw. 6 und 7 AsylbLG das Zwölfte Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB XII) und Teil 2 des Neunten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB IX) auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.

Nach überwiegender Meinung in Rechtsprechung und Literatur ist der objektive Missbrauchstatbestand der vorgenannten Vorschrift auch dann erfüllt, wenn und solange sich der Ausländer im Kirchenasyl auffällt. Denn auch hier wird die Ausländerbehörde während des Aufenthalts im Kirchenasyl daran gehindert, gegebenenfalls die Ausreisepflicht nach § 50 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) zu vollstrecken, was mit einem Untertauchen des Ausländers vergleichbar ist. So nimmt die Ausländerbehörde bei Inanspruchnahme des Kirchenasyls durch einen Ausländer in der Regel zwar Rücksicht darauf, dass sich dieser an einem Ort aufhält, der aus Sicht der Kirchen vor staatlichen Eingriffen geschützt ist. Faktisch besteht aber gleichwohl ein Abschiebungshindernis, welches der Ausländer zu vertreten hat. Selbst wenn er für die Dauer des Kirchenasyls eine Duldung besitzt, so ist diese letztlich aus Gründen erteilt worden, die der Ausländer zu vertreten hat. Der subjektive Missbrauchstatbestand des § 2 Abs. 1 S. 1 AsylbLG ist in den Fällen des Kirchenasyls gleichfalls erfüllt, weil dem Ausländer freilich bekannt ist, dass er während des Kirchenasyls faktisch nicht abgeschoben wird. Damit wird auch durch ein Kirchenasyl die Dauer des Aufenthalts wegen des faktischen Abschiebungshindernisses durch den Ausländer selbst beeinflusst. Das Kirchenasyl ist deshalb in der Regel ein Umstand, der es ausschließt, Leistungen in besonderen Fällen zu gewähren (vgl. zum Vorstehenden: Karl-Heinz Hohm AsylbLG Gemeinschaftskommentar stand Januar 2020 § 2 Rn. 107 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung und Literatur). Das Kirchenasyl stellt in diesem Zusammenhang gerade kein anerkanntes Rechtsinstitut dar (vgl. mit Hinweisen auf die Rechtsprechung Korff in Beck online Sozialrecht, 55. Edition, Stand 1. Dezember 2019, zu § 2 Rn. 14).

Demgegenüber kann der vom Antragsteller ins Feld geführten Rechtsprechung des Sozialgerichts Stade (vgl. oben) nicht gefolgt werden. Denn soweit das Gesetz in § 2 Abs. 1 S. 1 AsylbLG den Begriff der Rechtsmissbräuchlichkeit verwendet, stellt es nicht auf die "Werte der Gesellschaft" ab, sondern auf konkrete Verstöße gegen einzelne Vorschriften des Asyl-, Ausländer-, oder Sozialrechts (Karl-Heinz Hohm a.a.O. § 2 Rn. 108).

Der Antragsteller war jedoch seinerzeit bei Eintritt in das Kirchenasyl am 7. Juli 2016 nicht im Besitz eines Aufenthaltstitels, sondern ihm war der Aufenthalt gemäß § 63 Asylgesetz lediglich gestattet, so dass er sich durch dieses tatsächliche Verhalten eventuellen aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Ausländerbehörde bewusst entzogen und mithin die Dauer seines Aufenthalts im Sinne des § 2 Abs. 1 S. 1 AsylbLG rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hat.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Regelungsanordnung war daher abzulehnen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung des § 193 SGG.

Die Rechtsmittelbelehrung folgt aus § 172 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG.

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe war abzulehnen, da dem Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gemäß § 73a SGG i.V.m. § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO) keine hinreichende Erfolgsaussicht zukam. Insoweit ist auf die vorstehenden Gründe zu verweisen.
Rechtskraft
Aus
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