L 4 AY 5/20 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
4
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 30 AY 3/20 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 AY 5/20 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Die Dauer des Aufenthalts wird nicht rechtsmissbräuchlich i. S. v. § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG durch ein Kirchenasyl beeinflusst, bei dem die Ausländerbehörde zu jeder Zeit den Aufenthaltsort des Ausländers kennt.

2. Das Kirchenasyl stellt dann weder ein tatsächliches noch ein rechtliches Abschiebehindernis dar; eine Abschiebung kann nötigenfalls unter Anwendung unmittelbaren Zwangs durchgesetzt werden. Verzichtet der Staat auf die Durchsetzung der Ausreisepflicht kann das Vollzugsdefizit nicht dem Leistungsberechtigten als rechtsmissbräuchlich angelastet werden.
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 12. März 2020 aufgehoben.

Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG i. V. m. SGB XII in Höhe der Regelbedarfsstufe 1 ab 20. Februar 2020 bis zur Entscheidung über den Widerspruch gegen den Bescheid vom 25. Oktober 2019 zu gewähren.

Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller seine notwendigen außergerichtlichen Kosten für beide Instanzen zu erstatten.

Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin B., B-Straße, A-Stadt für das Beschwerdeverfahren gewährt.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten über die vorläufige Gewährung von Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).

Der 1997 geborene Antragsteller ist äthiopischer Staatsangehöriger, der am 11. Juni 2015 in die Bundesrepublik Deutschland einreiste und zunächst in der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge (HEAE) in C-Stadt untergebracht war. Er bezog aufgrund Bescheids des HEAE vom 15. Juni 2015 Leistungen nach § 3 AsylbLG. Mit Bescheid des Regierungspräsidiums D-Stadt vom 22. Juli 2015 wurde der Antragsteller am 22. Juli 2015 der Antragsgegnerin zugewiesen. Mit Bescheid vom 22. Juli 2015 gewährte die Antragsgegnerin ihm für die Zeit vom 22. Juli 2015 bis 30. Juni 2016 Leistungen nach § 3 AsylbLG (Bl. 11 Verwaltungsakte).

Am 25. November 2015 stellte der Antragsteller beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BaMF) einen Asylantrag, den dieses mit Bescheid vom 19. Mai 2016 als unzulässig ablehnte, die Abschiebung nach Italien anordnete und das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) auf 6 Monate nach dem Tag der Abschiebung befristete. Italien sei gem. Art. 22 Abs. 7 i. V. m. Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig. Hiergegen erhob der Antragsteller am 27. Mai 2016 Klage beim Verwaltungsgericht Frankfurt am Main (Az. 5 K 1731/16.F.A(1)).

Mit Schreiben vom 6. Juli 2016 (Bl. 131 Ausländerakte) zeigte die Evangelische Gemeinde E., A-Stadt, am 8. Juli 2016 gegenüber der Ausländerbehörde der Antragsgegnerin an, dass sich der Antragsteller ab dem 7. Juli 2016 im Kirchenasyl befinde und gab dabei die konkrete Adresse an, unter der der Antragsteller aufzufinden war. Mit Schreiben vom 26. September 2016 stellte das BaMF fest, dass die Überstellungsfrist am 23. September 2016 abgelaufen sei und eine Entscheidung nun im nationalen Verfahren ergehe. Mit Bescheid vom 22. Februar 2017 (Bl. 139 Ausländerakte) hob das BaMF den Bescheid vom 19. Mai 2016 auf, die Flüchtlingseigenschaft wurde nicht zuerkannt, der Antrag auf Asylanerkennung abgelehnt, der subsidäre Schutzstatus nicht zuerkannt. Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen, und der Antragsteller aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe zu verlassen, die Abschiebung bei Nichteinhaltung der Ausreisefrist wurde angedroht und das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate nach dem Tag der Abschiebung befristet. Seit 27. Februar 2017 verfügte der Antragsteller über eine Aufenthaltsgestattung nach § 63 AsylG, zuletzt verlängert bis zum 2. September 2020 (Bl. 45 GA).

Zum 31. Juli 2016 stellte die Antragsgegnerin die Leistungsgewährung nach dem AsylbLG ein und vermerkte dies in den Akten mit der Bemerkung "verschwunden" (Bl. 54 Verwaltungsakte). Hierzu ergibt sich aus der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin (Bl. 62 und Bl. 72), dass sich der Antragsteller in der Zeit vom 7. Juli 2016 bis 23. November 2016 im Kirchenasyl befunden habe; für die Zeit ab 24. November 2016 wurde der Antragsteller als wohnhaft unter Anschrift der Evangelischen Gemeinde E. geführt. Mit Bescheid vom 24. November 2016 bewilligte die Antragsgegnerin für die Zeit vom 1. Dezember 2016 bis 31. Oktober 2017 Leistungen ach § 3 AsylbLG. Mit Schreiben vom 31. Mai 2017 (Bl. 95 Verwaltungsakte) teilte die Evangelische Gemeinde E. dem Antragsteller mit, dass das Kirchenasyl abgeschlossen sei, der Antragsteller wurde aufgefordert, sein Zimmer in den Räumen der Gemeinde bis 19. Juni 2017 zu räumen. Mit Bescheiden vom 28. September 2017 (Bl. 114 Verwaltungsakte), 23. November 2017 (B. 137, 139 Verwaltungsakte), 18. Dezember 2017 (Bl. 150 Verwaltungsakte), 6. März 2018 (Bl. 166 Verwaltungsakte), 16. April 2018 (Bl. 174 Verwaltungsakte) gewährte die Antragsgegnerin ihm Leistungen nach § 3 AsylbLG für die Zeit vom 1. Oktober 2017 bis 31. Mai 2018.

Unter dem 14. Oktober 2019 beantragte der Antragsteller die Gewährung von Leistungen nach § 2 AsylbLG (Bl. 282 Verwaltungsakte). Diesen Antrag lehnte die Antragsgegnerin durch Bescheid vom 25. Oktober 2019 (Bl. 288 Verwaltungsakte) mit der Begründung ab, der Antragsteller habe sich in der Zeit vom 9. November 2016 bis 19. Juni 2017 Kirchenasyl befunden. Nach den insoweit anzuwendenden Ausführungsbestimmungen (A-Stadter Richtlinien) sei dies als rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet zu werten. Ein Ausländer sei danach grundsätzlich dauerhaft von den Leistungen nach § 2 AsylbLG ausgeschlossen, insofern durch dessen eigenes Zutun oder Unterlassen die Dauer des Aufenthalts zu irgendeinem Zeitpunkt rechtsmissbräuchlich begründet oder verlängert werde.

Auf den dagegen am 21. November 2019 eingelegten Widerspruch des Antragstellers (Bl. 299 Verwaltungsakte) stellte die Antragsgegnerin aktenkundig fest (Bl. 316 Verwaltungsakte), die Begründung des vorgenannten Bescheides sei insoweit fehlerhaft als das Kirchenasyl vom Antragsteller im Zeitraum vom 7. Juli 2016 bis 23. November 2016 in Anspruch genommenen worden und er sodann in den Räumlichkeiten der evangelischen Kirche lediglich untergebracht gewesen sei.

Am 20. Februar 2020 hat der Antragsteller den Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht Frankfurt am Main beantragt und vorgetragen, eine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer liege in seinem Fall nicht vor, da die Inanspruchnahme von Kirchenasyl keinen Rechtsmissbrauch darstelle und zudem nicht sittenwidrig sei. Im Übrigen dürfte § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG verfassungswidrig sein, so dass ihm die Leistungen nach Regelbedarfsstufe 1 zustünden.

Die Antragsgegnerin hat vorgetragen, gemäß § 2 AsylbLG sei das Zwölfte Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB XII) nur auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhielten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich beeinflusst hätten. Dabei werde die Inanspruchnahme von Kirchenasyl von der Rechtsprechung und der Literatur als rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer gewertet. Das Kirchenasyl sei insoweit kein anerkanntes Rechtsinstitut.

Mit Beschluss vom 12. März 2020 hat das Sozialgericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt, der Anordnungsanspruch sei nicht glaubhaft gemacht. Der Antragsteller habe die Dauer des Aufenthalts rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst. Der Antragsteller sei bei Eintritt in das Kirchenasyl am 7. Juli 2016 nicht im Besitz eines Aufenthaltstitels gewesen, sondern ihm sei der Aufenthalt gemäß § 63 Asylgesetz lediglich gestattet gewesen, so dass er sich durch dieses tatsächliche Verhalten eventuellen aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Ausländerbehörde bewusst entzogen und mithin die Dauer seines Aufenthalts im Sinne des § 2 Abs. 1 S. 1 AsylbLG rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst habe.

Gegen den ihm am 13. März 2020 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 23. März 2020 Beschwerde über das Sozialgericht eingelegt.

Der Antragsteller trägt vor, ob die Inanspruchnahme von Kirchenasyl ein rechtsmissbräuchliches Verhalten darstelle, sei in Rechtsprechung und Literatur umstritten und höchstrichterlich bisher nicht geklärt. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 17. Juni 2008, B 8/9 AY 1/07 R) genüge – anders als bei § 1a – nicht, dass die Dauer des Aufenthalts auf Gründen beruhe, die in der Verantwortungssphäre des Hilfesuchenden lägen. In objektiver Hinsicht setze der Rechtsmissbrauch ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus. Der Ausländer solle danach von Analog-Leistungen ausgeschlossen sein, wenn die von § 2 Abs. 1 AsylbLG vorgesehene Vergünstigung andernfalls auf gesetzwidrige oder sittenwidrige Weise erworben worden wäre. Nur ein Verhalten, das unter der Berücksichtigung des Einzelfalles, der besonderen Situation des Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheit des AsylbLG unentschuldbar sei (Sozialwidrigkeit), führe zum Ausschluss der Analog-Leistung. Ausgehend hiervon sei nicht schon die zur Aufenthaltsverlängerung führende Nutzung der Rechtsposition ausreichend, die der Ausländer durch vorübergehende Aussetzung der Abschiebung erlangt habe, wenn es ihm möglich und zumutbar wäre, auszureisen. Sei die Abschiebung ausgesetzt, bleibe nach dem AufenthG die Ausreisepflicht zwar unberührt. Eine Pflicht im eigentlichen Sinn könne damit aber mangels Vollziehbarkeit der Abschiebung nicht verbunden sein. Es wäre widersprüchlich, den Aufenthalt des Ausländers vorübergehend zu dulden und ihm gleichzeitig den Aufenthalt als Rechtsmissbrauch vorzuwerfen, obwohl der Staat selbst zeitweise darauf verzichte, die Ausreisepflicht durchzusetzen. Die Ausländerbehörde sei darüber unterrichtet gewesen, dass er sich im Kirchenasyl befunden habe. Er sei nur deswegen nicht abgeschoben worden, weil die Ausländerbehörde das Kirchenasyl beachtet und seinen Aufenthalt während der Dauer des Kirchenasyls faktisch geduldet habe. Während des Kirchenasyls sei der Aufenthaltsort des Ausländers bekannt, so dass die Ausländerbehörde die Möglichkeit gehabt hätte, aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu ergreifen. Dass die Kirchen Ausländern, denen die Abschiebung drohe, Kirchenasyl anbiete, sei mit den Werten der Gesellschaft vereinbar. Es handele sich um eine Maßnahme der Kirchen, die auch von den Behörden respektiert werde. Die Inanspruchnahme von Kirchenasyl könne daher auch nicht als sittenwidriges Verhalten angesehen werden.

Der Antragsteller beantragt,

unter Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 12. März 2020 die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm vorläufig ab Antragstellung Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG i. V. m. SGB XII in Höhe der Regelbedarfsstufe 1 zu gewähren, und

ihm Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin B., B-Straße, A-Stadt für das Beschwerdeverfahren zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Die Antragsgegnerin nimmt zur Begründung auf den angegriffenen Beschluss und ihre Ausführungen im erstinstanzlichen Verfahren Bezug.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten, der Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen ist.

II.

Die Beschwerde ist zulässig.

Sie ist insbesondere am Maßstab von § 172 Abs. 3 Nr. 1 i. V. m. § 144 Abs. 1 Sozialgerichtgesetz (SGG) statthaft, denn im Streit steht der Unterschiedsbetrag zwischen den dem Antragsteller gegenwärtig bewilligten Leistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) i. H. v. 316 Euro monatlich und den begehrten Leistungen nach § 2 AsylbLG i. V. m. Zwölftes Sozialgesetzbuch (SGB XII) – Sozialhilfe - der Regelbedarfsstufe 1, die sich seit 1. Januar 2020 auf 432 Euro monatlich belaufen, mithin ein Betrag in Höhe von 116 Euro monatlich für mehr als ein Jahr (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG), nachdem weder der gerichtliche noch der behördliche Antrag des Antragstellers zeitlich befristet waren. Eine Befristung des Antrags ergibt sich insbesondere auch nicht aus der befristet bis zum 2. September 2020 ausgestellten Bescheinigung über die Aufenthaltsgestattung nach § 63 Asylgesetz (AsylG), denn dass die Bescheinigung wird befristet ausgestellt wird, bedeutet nicht, dass die Aufenthaltsgestattung selbst befristet wird; ihr Bestand ist unabhängig vom Lauf der Frist; das gestattete Aufenthaltsrecht endet erst nach Maßgabe des § 67 AsylG (Bergmann in: Bergmann/Dienelt, 13. Aufl. 2020, AsylG § 63 Rn. 3).

Die Beschwerde ist auch begründet.

Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) sind der Anordnungsanspruch und der Anordnungsgrund glaubhaft zu machen.

Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrunds sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage das Obsiegen in der Hauptsache wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage dagegen offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruchs der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu. Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist u.U. auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange der Antragsteller zu entscheiden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05, NVwZ 2005, 927; Nichtannahmebeschluss vom 15. Januar 2007 - 1 BvR 2971/06). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung muss für die Abwendung wesentlicher Nachteile nötig sein; d. h. es muss eine dringliche Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert (ständige Rechtsprechung des HLSG, bspw. Beschluss vom 29. Januar 2008, L 9 AS 421/07 ER m.w.N., juris). Eine solche Notlage ist bei einer Gefährdung der Existenz oder erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen zu bejahen (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 86b Rn. 29a).

Unter Anwendung dieser Maßstäbe hat der Antragsteller sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

Rechtsgrundlage für die geltend gemachten Leistungen ist § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG, wonach abweichend von den §§ 3 und 4 sowie 6 bis 7 das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch und Teil 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden sind, die sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.

Der Antragsteller hat zunächst glaubhaft gemacht, dass er aufgrund seiner Aufenthaltsgestattung nach § 63 AsylG zum leistungsberechtigten Personenkreis nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylbLG gehört. Weiterhin hat er sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufgehalten, nämlich seit 11. Juni 2015 also seit 59 Monaten. Für eine wesentliche Unterbrechung des Aufenthalts gibt es keine Anhaltspunkte und ist auch von den Beteiligten nicht vorgetragen.

Weiterhin hat der Antragsteller die Dauer seines Aufenthalts im Bundesgebiet nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst.

Der Begriff des Rechtsmissbrauchs wurzelt in dem auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben - § 242 Bürgerliches Gesetzbuch -. Als vorwerfbares Fehlverhalten beinhaltet er eine objektive - den Missbrauchstatbestand - und eine subjektive Komponente - das Verschulden -. Der Vorschrift des § 2 und damit dem - die Beeinflussung der Aufenthaltsdauer dienenden - Rechtsmissbrauch liegt der Gedanke zu Grunde, dass niemand sich auf eine Rechtsposition berufen darf, die er selbst treuwidrig herbeigeführt hat. Demgegenüber genügt nicht, dass die Dauer des Aufenthalts auf Gründen beruht, die in der Verantwortungssphäre des Hilfesuchenden liegen (BSG, Urteil vom 17. Juni 2008 – B 8/9b AY 1/07 R –, BSGE 101, 49-70, Rn. 32 m w. N, zitiert nach juris). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts setzt der Rechtsmissbrauch in objektiver Hinsicht unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus. Der Ausländer soll danach von Analog-Leistungen ausgeschlossen sein, wenn die von § 2 AsylbLG vorgesehene Vergünstigung andernfalls auf gesetzwidrige oder sittenwidrige Weise erworben wäre. Der Ausländer darf sich also nicht auf einen Umstand berufen, den er selbst treuwidrig herbeigeführt hat. Dabei genügt angesichts des Sanktionscharakters des § 2 AsylbLG nicht schon jedes irgendwie zu missbilligende Verhalten. Art, Ausmaß und Folgen der Pflichtverletzung wiegen für den Ausländer sowie über die Regelung des § 2 Abs 3 AsylbLG für dessen minderjährige Kinder so schwer, dass auch der Pflichtverletzung im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein erhebliches Gewicht zukommen muss. Daher führt nur ein Verhalten, das unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar ist (Sozialwidrigkeit), zum Ausschluss von Analog-Leistungen (BSG, Urteil vom 17. Juni 2008 – B 8/9b AY 1/07 R –, BSGE 101, 49-70, Rn. 33 m w. N, zitiert nach juris).

Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 17. Juni 2008 – B 8/9b AY 1/07 R –, BSGE 101, 49-70, SozR 4-3520 § 2 Nr. 2, Rn. 35) ist daher für die Annahme eines Rechtsmissbrauchs nicht schon die zur Aufenthaltsverlängerung führende Nutzung der Rechtsposition ausreichend, die der Ausländer durch vorübergehende Aussetzung der Abschiebung erlangt hat, wenn es ihm möglich und zumutbar wäre, auszureisen (so noch BSG SozR 4-3520 § 2 Nr. 1 Rn. 16). Nicht in dem Nichtausreisen des Ausländers trotz (formaler) Ausreisepflicht (Duldung) liegt ein Rechtsmissbrauch, sondern allenfalls in den Gründen, die hierzu geführt haben. Der Aufenthaltsstatus (Duldung) ist für die Beantwortung der Frage, ob der Ausländer seinen Aufenthalt rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hat, unerheblich. Hat der Ausländer diese Gründe zu vertreten, hat er also insoweit selbst Einfluss auf das Geschehen genommen, kann nur deshalb, nicht aber wegen bestehender Ausreisepflicht, ein Rechtsmissbrauch bejaht werden (BSG, Urteil vom 17. Juni 2008 – B 8/9b AY 1/07 R –, BSGE 101, 49, zitiert nach juris Rn. 35). Zwischen dem Verhalten des Ausländers und der Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes bedarf es nach dem Gesetzeswortlaut zwar einer kausalen Verknüpfung. Allerdings reicht grundsätzlich eine typisierende, also generell-abstrakte Betrachtungsweise hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen dem vorwerfbaren Verhalten und der Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes aus (BSG, Urteil vom 17. Juni 2008 – B 8/9b AY 1/07 R – juris Rn.42), es ist also kein Kausalzusammenhang im eigentlichen Sinn erforderlich.

Unter Berücksichtigung dieses Maßstabes ist bei generell-abstrakter Betrachtungsweise das Verhalten des Antragstellers typischer Weise geeignet, die Aufenthaltsdauer zu verlängern, denn das Kirchenasyl wird von den Verwaltungsbehörden ebenso wie von der Bundesregierung respektiert (s. BT-Drucks. 18/9894 S. 2). Jedenfalls in der Regel wird von Vollzugsmaßnahmen während des Kirchenasyls in den kirchlichen Räumen abgesehen (Bayer. LSG, Beschluss vom 11. November 2016 – L 8 AY 28/16 B ER –, Rn. 35, juris; SG Stade, Beschluss vom 17. März 2016 – S 19 AY 1/16 ER –, Rn. 15, juris; SG Regensburg, Urteil vom 30. Mai 2018 – S 7 AY 4/17 –, Rn. 24, juris; Cantzler, AsylbLG, § 2 Rn. 41; vgl. auch Diakonie Hessen – Diakonisches Werk in Hessen und Nassau Kurhessen-Waldeck e. V. (Hg), Aus gutem Grund, Kirchenasyle in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, S. 6 f) und auf die Abschiebung (§ 58 AufenthG) faktisch verzichtet.

Allerdings fehlt es nach Auffassung des Senats an der nach § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG geforderte Rechtsmissbräuchlichkeit (str. i. E. wie hier: SG Stade, Beschluss vom 17. März 2016 – S 19 AY 1/16 ER –, juris; a. A. SG Lüneburg, Urteil vom 22. Februar 2018, S 26 AY 26/17, Rn. 24, juris; SG Regensburg, Urteil vom 30. Mai 2018 – S 7 AY 4/17, Rn. 24, juris; Deibel in: Deibel/Hohm, AsylbLG akutell, § 2 Rn. 12; Cantzler, AsylbLG, § 2 Rn. 41; offen gelassen: Krauß in: Siefert, AsylbLG, § 2 Rn. 51), weil aufgrund des Kirchenasyls die Abschiebung weder rechtlich noch tatsächlich unmöglich ist (vgl. Heinhold, NZS 2017, 271, beck-online; VG München, Urteil vom 29. Oktober 2015 – M 2 K 15.50211 –, Rn. 25, juris; OLG München, Urteil vom 3. Mai 2018, 4 OLG 13 Ss 54/18, juris Rn. 40), wenn es sich – wie hier – um ein sog. "offenes Kirchenasyl" handelt, bei dem die Ausländerbehörde zu jeder Zeit der Dauer des Kirchenasyls den Aufenthaltsort des Ausländers kennt.

Das Aufenthaltsgesetz (AufenthG) kennt in § 60&8201;Abs. 2 Satz 1 nur tatsächliche oder rechtliche Gründe für eine Aussetzung der Abschiebung.

Ein rechtliches Abschiebungshindernis ist in dem gewährten Kirchenasyl aber nicht zu sehen, denn es stellt kein in der geltenden Rechtsordnung anerkanntes Recht dar (Heinhold, NZS 2017, 271, beck-online). Die Grundrechte werden durch den Staat garantiert. Zu diesen gehört die Gewährung staatlichen Asyls in seiner gesetzlich geregelten praktischen Anwendung. Niemand, auch nicht die Kirche oder sonstige gesellschaftliche Interessengruppen, kann hier oder in anderen Bereichen außerhalb dieser Ordnung Sonderrechte für sich beanspruchen und etwa Asyl gewähren, oder sonst Allgemeinverbindlichkeit für das beanspruchen, was er jeweils gerade für richtig oder falsch hält, noch kann er bestimmen, was erlaubt ist und was nicht. Auch die Kirchen selbst nehmen dies für sich nicht in Anspruch, denn Kirchen sind kein rechtsfreier Raum (Diakonie Hessen – Diakonisches Werk in Hessen und Nassau Kurhessen-Waldeck e. V. (Hg), Aus gutem Grund, Kirchenasyle in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau S. 6). Demzufolge besteht Kirchenasyl im historischem Sinne als gegenüber staatlichen Institutionen geltendes und zu beachtendes Recht nicht (OLG München, Urteil vom 03. Mai 2018 – 4 OLG 13 Ss 54/18 –, Rn. 37, juris m. w. N.). Das "offene" Kirchenasyl stellt auch kein tatsächliches Abschiebehindernis dar, denn den Ausländerbehörden ist der Aufenthaltsort des Ausländers in diesen bekannt, er ist weder unauffindbar noch flüchtig. Das Kirchenasyl ist aufenthaltsrechtlich gerade nicht einem Untertauchen gleichzusetzen (a. A. VG Bayreuth vom 13. November 2017 - B 3 K 17.50037, juris RdNr 37 mwN). Der Staatsgewalt ist damit der tatsächliche Zugriff auf die kirchlichen Räume nicht entzogen, sie kann vielmehr die Abschiebung einer sich im Kirchenasyl befindlichen Person nötigenfalls unter Anwendung unmittelbaren Zwangs durchsetzen und damit der staatlichen Ordnung Geltung verschaffen.

Es ist politischen und humanitären Gründen geschuldet, dass in den Kirchenasylfällen eine bestehende Ausreiseverpflichtung nicht durchgesetzt wird (Heinhold, NZS 2017, 271, beck-online). Verzichtet aber der Staat bewusst darauf, die Ausreisepflicht und damit staatliches Recht durchzusetzen, kann das Vollzugsdefizit nicht dem sich in das Kirchenasyl begebenden Ausländer angelastet werden (vgl. SG Stade, Beschluss vom 17. März 2016 – S 19 AY 1/16 ER –, Rn. 15, juris; VG München, Urteil vom 29. Oktober 2015 – M 2 K 15.50211 –, Rn. 25, juris), denn es wäre widersprüchlich, den Aufenthalt vorübergehend zu tolerieren und dem Ausländer gleichzeitig den Aufenthalt als Rechtsmissbrauch vorzuwerfen (vgl. BSG Urteil vom 17. Juni 2008 – B 8/9b AY 1/07 R –, BSGE 101, 49 ff, Rn. 35, juris, allerdings zur Aussetzung der Abschiebung nach § 60a AufenthG), auch wenn – anders als bei § 60a AufenthG keine Entscheidung der Behörde im Einzelfall vorliegt, sondern das nichtstaatliche Handeln bloß hingenommen wird.

So liegt auch der Fall des Antragstellers, denn die Evangelische Kirchengemeinde E., A-Stadt, die ihm Kirchenasyl gewährt hat, hat die Ausländerbehörde der Antragsgegnerin unmittelbar mit dem Eintritt in das Kirchenasyl über diesen Umstand und insbesondere unter Angabe der konkreten Adresse, unter der er im Kirchenasyl aufzufinden war, informiert. Damit lag weder ein rechtliches noch ein tatsächliches Abschiebungshindernis vor, denn die Antragsgegnerin hätte jederzeit die Möglichkeit gehabt, die ausländerrechtlich angeordnete Abschiebung nach Italien zu vollziehen. "Verschwunden" wie es sich aus den Leistungsakten der Antragsgegnerin ergibt, war der Antragsteller während des Kirchenasyls damit keinesfalls. Es sind den Ausländerakten auch keine Umstände zu entnehmen, die darauf hindeuten, dass es konkrete Vollstreckungsversuche gegen den Antragsteller gegeben hätte, die an dem Kirchenasyl gescheitert wären, vielmehr ist nach dem Akteninhalt nicht ersichtlich, dass die Ausländerbehörde überhaupt in der Zeit des Kirchenasyls vollstreckungswillig gewesen wäre. Entsprechendes hat die Antragsgegnerin auch nicht etwa dargetan. Dass die Antragsgegnerin keinen Abschiebeversuch unternommen hat, ist damit allerdings nicht dem Antragsteller vorzuwerfen.

Im Ergebnis offen lassen kann der Senat daher, ob beim Antragsteller Vorsatz sowohl hinsichtlich der tatsächlichen Umstände als auch der Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts vorliegt. Da aus typischem Fehlverhalten jedoch auf das Vorliegen der dem Missbrauch innewohnenden subjektiven Komponente geschlossen werden kann (Oppermann, jurisPK-SGB XII, § 2 AsylbLG Rn. 109; (Wahrendorf in: Grube/Wahrendorf, 6. Aufl. 2018, AsylbLG § 2 Rn. 39), liegen durchaus Indizien für ein vorsätzliches Handeln des Antragstellers vor. Nachdem teilweise aber gerade für das Kirchenasyl vertreten wird, dass Zweifel bestehen können, ob dem Leistungsberechtigten bewusst ist, dass er die Hilfe der Kirche nicht annehmen durfte, ohne (in unentschuldbarer Weise) gegen die Rechtsordnung zu verstoßen (s. Krauß in: Siefert, AsylbLG § 2 Rn. 51), wird ggf. in der Hauptsache zu ermitteln sein, ob dem Antragsteller die Beeinflussung der Aufenthaltsdauer subjektiv vorzuwerfen ist. Die Beweislast hier liegt bei der Behörde (Oppermann, jurisPK-SGB XII, § 2 AsylbLG Rn. 109).

Der Antragsteller hat weiterhin seine Bedürftigkeit im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG glaubhaft gemacht. Er bezieht laufend Leistungen nach dem AsylbLG.

Schließlich liegt auch ein Anordnungsgrund vor. Die Regelungsanordnung ist für die Abwendung wesentlicher Nachteile des Antragstellers erforderlich, da die Leistungseinschränkung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG wegen rechtsmissbräuchlicher Selbstbeeinflussung der Aufenthaltsdauer den Antragsteller von den höheren sog. Analogleistungen und damit von dem Niveau der Leistungen ausschließen würde, das nach der Einschätzung des Gesetzgebers erforderlich ist, um das nach Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG zu gewährende sozio-kulturelle Existenzminimum nach einem länger als 18 Monate andauernden Aufenthalt zu decken.

Die Kostengrundenscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 193 SGG.

Die Entscheidung über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beruht auf § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 114 Zivilprozessordnung (ZPO).

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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