L 14 R 53/20 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 24 R 528/19
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 14 R 53/20 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 06.01.2020 aufgehoben; der Klägerin wird Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren bewilligt und Rechtsanwalt E aus M beigeordnet.

Gründe:

I.

In der Hauptsache begehrt die Klägerin die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung.

Die am 00.00.1974 geborene Klägerin beantragte am 06.03.2018 bei der Beklagten die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung. Im Verwaltungsverfahren holte die Beklagte Befundberichte der behandelnden Ärzte der Klägerin ein und zog ein Gutachten der Fachärztin für Allgemeinmedizin, Zusatzbezeichnung Sozialmedizin, Q, Amtsärztlicher Dienst des L, vom 18.10.2017 bei. Zudem ließ sie die Klägerin von dem Facharzt für Orthopädie und Sozialmedizin Dr. G untersuchen, der unter dem 08.08.2018 ein Gutachten erstattete. Darin heißt es, auf seinem Fachgebiet seien folgende Diagnosen zu stellen:

1. Funktionseinschränkung (Minderbelastbarkeit) der Halswirbelsäule bei Bandscheibenvorfall C4/5 und C5/6 bei Zervikal- und Zervikobrachialsyndrom, Bewegungseinschränkung,
2. Funktionseinschränkung (Minderbelastbarkeit) der Lendenwirbelsäule (LWS) bei Protrusion L4/5 und L5/S1 mit Lumbalgien, Lumboischialgien, Bewegungseinschränkungen,
3. Funktionseinschränkung der Schultergelenke, insbesondere links, bei Schulterengpasssyndrom, Bewegungseinschränkung,
4. Funktionseinschränkung (Minderbelastbarkeit) der Fingermittel- und -endgelenke bei Hinweisen auf eine Polyarthrose,
5. Funktionseinschränkung (Minderbelastbarkeit) der Hüftgelenke bei Coxarthrose.

Des Weiteren leide die Klägerin unter einer Migräne, einer Depression (neurologische Behandlung) und chronischem Nikotinabusus. Das Leistungsvermögen reiche für die Verrichtung körperlich leichter bis mittelschwerer Arbeiten in überwiegend stehender oder gehender, zeitweise sitzender Haltung in Tagesschicht aus, wenn einige qualitative Einschränkungen berücksichtigt würden. Die Klägerin könne regelmäßig täglich sechs Stunden und mehr arbeiten, zusätzliche Pausen seien nicht erforderlich, die Wegefähigkeit sei nicht eingeschränkt.

Mit Bescheid vom 07.09.2018 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab. Den unter dem 14.09.2018 eingelegten Widerspruch wies sie mit Bescheid vom 21.05.2019 zurück.

Mit ihrer am 21.06.2019 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Am 30.09.2019 sind die Klagebegründung und der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe beim Sozialgericht Gelsenkirchen eingegangen und der Beklagten am 04.10.2019 zur Kenntnisnahme übermittelt worden. Die Klägerin trägt vor, sie habe erhebliche Beschwerden, insbesondere aufgrund von Nierensteinen. Auch habe sie Magen- und Darmprobleme; eine Laktose- und eine Fruktoseintoleranz seien diagnostiziert worden. Schmerzen und Einschränkungen bestünden zudem durch eingeklemmte Nerven im Bereich der Rippen.

Am 08.10.2019 ist die Erklärung zu den wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnissen bei Gericht eingegangen. Am 10.10.2019 ist ein Befundbericht des Chirurgen Dr. C eingegangen, in welchem dieser mitteilt, die Klägerin könne von Seiten seines Fachgebiets (nach derzeit bekannter Diagnose) noch sechs Stunden arbeitstäglich eine körperlich leichte Tätigkeit ohne besonderen Zeitdruck und in wechselnder Körperhaltung ausüben, jedoch sei dies ohne eine gutachterliche Untersuchung nicht sicher zu entscheiden. Am 12.12.2019 ist auch der zweite vom Sozialgericht angeforderte Befundbericht eingegangen. In diesem teilt der Internist M1 die von ihm zwischen dem 03.03.2017 und dem 15.11.2019 gestellten Diagnosen mit; die Frage, ob die Klägerin noch arbeitstäglich sechs Stunden und mehr körperlich leichte Arbeiten ohne Zeitdruck und in wechselnder Körperhaltung verrichten könne, bejaht er. Beide Befundberichte sind den Beteiligten am 13.12.2019, einem Freitag, zur Kenntnis- und Stellungnahme übersandt worden. Der Bevollmächtigte des Klägers hat mit Telefax vom 17.12.2019 mitgeteilt, er schließe sich der Einschätzung von Dr. C an, dass das Leistungsvermögen der Klägerin nur durch eine gutachterliche Untersuchung richtig eingeschätzt werden könne.

Am 06.01.2020 hat die Kammer die Beteiligten zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört und den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Zur Begründung heißt es in dem Beschluss, das Klageverfahren biete unter sämtlichen denkbaren Gesichtspunkten sowie unter Berücksichtigung des Klageantrags keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Der angegriffene Bescheid sei rechtmäßig, denn die Klägerin habe keinen Anspruch auf die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Weitere Ermittlungen von Amts wegen seien nicht geboten, da keine vernünftigen Zweifel an der Richtigkeit und Aktualität des Ergebnisses des Gutachtens von Dr. G bestünden. Die von Amts wegen durchgeführten Ermittlungen hätten die Richtigkeit und Aktualität der Ermittlungen der Beklagten und die darauf gestützten Annahmen in den angegriffenen Bescheiden bestätigt. Die behandelnden Ärzte hätten ausdrücklich angegeben, dass die Klägerin noch in der Lage sei, bei Beachtung gewisser qualitativer Leistungseinschränkungen mindestens sechs Stunden zu arbeiten. Dr. C habe seine Angabe, die Klägerin könne derzeit noch mindestens sechs Stunden täglich arbeiten, zudem in dem Wissen getätigt, dass sich der Gesundheitszustand der Klägerin im Laufe seiner Behandlung allmählich verschlechtert habe. Dies müsse so verstanden werden, dass nach seiner Ansicht auch bei Beachtung der allmählichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes in den Jahren 2005 bis 2019 ein Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr täglich zu bejahen sei. Soweit Dr. C einschränkend hinzugefügt habe, dass die Frage der Leistungsfähigkeit ohne eine gutachterliche Untersuchung nicht sicher beantwortet werden könne, sei eine solche durch Dr. G im Oktober 2018 erfolgt. Indem Dr. C der Klägerin im Oktober 2019 ein sechsstündiges Leistungsvermögen attestiere, bekräftigte er das Ergebnis des Gutachtens von Dr. G; umgekehrt teile er keinerlei Anhaltspunkte dafür mit, die Richtigkeit des Gutachtens in Frage zu stellen. Die Klägerin selbst habe weder im Widerspruchs- noch im Klageverfahren konkrete einzelfallbezogene Einwände gegen die Leistungsbeurteilung der Beklagten vorgebracht, sondern lediglich gemeint, die Einschätzung der Beklagten sei nicht leidensadäquat.

Am 08.01.2020 ist die Stellungnahme der Beklagten zu den übermittelten medizinischen Unterlagen eingegangen; in der ihr zugrunde liegenden Stellungnahme der Abteilung Sozialmedizin vom 20.12.2019 heißt es zusammenfassend, seit der gutachterlichen Untersuchung durch Dr. G seien keine wesentlich leistungsbeeinflussenden neuen medizinischen Fakten angeführt worden. Da Dr. C in seinem Befundbericht vom 07.10.2019 jedoch eine im Verlauf eingetretene allmähliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Klägerin angeführt habe, könne eine gutachterliche Untersuchung auf orthopädischem Fachgebiet in Betracht gezogen werden.

Gegen den ihr am 08.01.2020 zugestellten Beschluss hat die Klägerin am 16.01.2020 Beschwerde eingelegt. Sie meint, die Beurteilung ihres Leistungsvermögens sei ohne die Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht möglich; auch die Beklagte habe in ihrer Stellungnahme den entsprechenden Hinweis in dem Befundbericht von Dr. C aufgegriffen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen, der Gegenstand von Beratung und Entscheidung gewesen ist.

II.

Die Beschwerde der Klägerin hat Erfolg. Sie ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt; sie ist auch begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht den Antrag der Klägerin abgelehnt; sie hat Anspruch auf die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt Duits.

Gemäß § 73 a Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten für die Prozessführung nicht aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. An die hinreichende Erfolgsaussicht dürfen keine überspannten Anforderungen gestellt werden (BVerfG 04.02.2004, 1 BvR 1172/02, NJW-RR 2004, 1153). Sie liegt schon dann vor, wenn der Rechtsstandpunkt des Klägers vertretbar ist und die behaupteten anspruchsbegründenden Tatsachen nachweisbar erscheinen (vgl. VGH Baden-Württemberg 06.05.1998, 7 S 3090/97, NVwZ 1998, 1098). Eine hinreichende Erfolgsaussicht ist in der Regel dann gegeben, wenn das Gericht eine weitere Beweiserhebung von Amts wegen für notwendig hält und keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Antragstellers ausgeht.

Dies ist hier der Fall; entgegen der Auffassung des Sozialgerichts hat die Klage deshalb hinreichende Aussicht auf Erfolg.

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Erfolgsaussicht ist nicht der Zeitpunkt der Entscheidung, sondern der Zeitpunkt der Entscheidungsreife (BVerfG 22.08.2018, 2 BvR 2647/17; LSG Berlin-Brandenburg 06.04.2011, L 5 AS 397/10 B PKH; LSG Nordrhein-Westfalen 04.03.2010, L 6 B 158/09 AS; Bayerischer VGH 02.07.2007, 19 C 07.1311, alle zitiert nach juris). Die Entscheidungsreife tritt erst ein, wenn der vollständige Prozesskostenhilfeantrag in der durch § 117 Abs. 1 ZPO vorgegebenen Form einschließlich der gemäß § 117 Abs. 2 ZPO erforderlichen Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse und der nötigen Belege eingegangen ist und das Gericht dem Prozessgegner gemäß § 118 Abs. 1 Satz 1 ZPO angemessene Zeit zur Stellungnahme und erforderlichenfalls den Beteiligten gemäß § 118 Abs. 2 ZPO die Gelegenheit gegeben hat, ihre tatsächlichen Behauptungen glaubhaft zu machen (LSG Baden-Württemberg 27.04.2010, L 11 R 6027/09 B; Bayerisches LSG 19.03.2009, L 7 AS 64/09 B PKH, beide zitiert nach juris).

Danach war der Prozesskostenhilfeantrag der Klägerin im Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht entscheidungsreif, denn die Beklagte hatte noch keine Gelegenheit gehabt, zu dem Klagebegehren und gegebenenfalls bereits erfolgten Ermittlungen Stellung zu nehmen. Die am 30.09.2019 bei Gericht eingegangene Klagebegründung ist der Beklagten lediglich zur Kenntnisnahme übersandt worden; eine Äußerung ist dann auch nicht erfolgt. Die von der Kammer angeforderten medizinischen Unterlagen, insbesondere die beiden Befundberichte, sind am 13.12.2019 zur Kenntnis- und Stellungnahme übersandt worden, eine Frist, binnen derer der Eingang der Stellungnahme zu erfolgen hätte, wurde nicht gesetzt. Im Zeitpunkt der Beschlussfassung am 06.01.2020 konnte auch noch nicht mit der Stellungnahme der Beklagten gerechnet werden. Zwischen der Absendung der Unterlagen am 13.12.2019 und der Beschlussfassung am 06.01.2020 lagen infolge der diversen Feiertage nur insgesamt zehn Werktage. Stellungnahmen der Beklagten, die eine Beteiligung der sozialmedizinischen Abteilung voraussetzen, bedürfen, dies ist gerichtsbekannt, in aller Regel vier bis sechs Wochen, zuweilen auch mehr. Der Umstand, dass eine Stellungnahme am 06.01.2020 noch nicht eingegangen war, konnte mithin nicht so gedeutet werden, dass die Beklagte eine Äußerung für entbehrlich hielt oder aus anderen Gründen nicht beabsichtigte.

Hätte die Kammer der Beklagten zunächst rechtliches Gehör gewährt, so wäre möglicherweise auch ihre Entscheidung anders ausgefallen. Letztlich kann dies aber dahinstehen. Für die Entscheidung des Beschwerdegerichts ist grundsätzlich die Sach-und Rechtslage im Zeitpunkt seiner Entscheidung maßgeblich (Bayerisches LSG 29.07.2015, L 15 VG 19/15 B PKH, zitiert nach juris). Da die Stellungnahme der Beklagten am selben Tag eingegangen ist wie die Beschwerde der Klägerin, hat der Senat im Gegensatz zur Kammer eine für die Beurteilung der Erfolgsaussichten hinreichende Sachlage, der Antrag der Klägerin ist inzwischen entscheidungsreif.

Der Senat hält im Hinblick darauf, dass die Klägerin angegeben hat, ihre Leiden seien progredient, so dass sich auch ihr Zustand verschlechtert habe und verschlechtere, und Dr. C dies in seinem Befundbericht bestätigt, eine Begutachtung der Klägerin durch einen Sachverständigen für geboten, zumal das Gutachten von Dr. G vom August 2018 datiert und damit die Entwicklung der vergangenen fast zwei Jahre nicht mehr erfasst. Ein für die Klägerin - bezogen auf ihr Rentenbegehren - günstiges Beweisergebnis kann nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen dürften, da die Klägerin weiterhin im Bezug von Arbeitslosengeld II steht, auch noch heute erfüllt sein.

Die weiteren Voraussetzungen der Bewilligung von Prozesskostenhilfe sind ebenfalls gegeben. Die Rechtsverfolgung erscheint nicht mutwillig. Die Klägerin, die weiterhin laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II bezieht, kann nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht selbst aufbringen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO. Danach sind die Kosten eines Beschwerdeverfahrens im Verfahren über die Prozesskostenhilfe unabhängig von dessen Ausgang nicht zu erstatten.

Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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