L 5 AS 197/20 B PKH

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 103 AS 8936/19
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 5 AS 197/20 B PKH
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 16. Dezember 2019 aufgehoben. Der Klägerin wird für das Verfahren vor dem Sozialgericht Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Herrn Rechtsanwalt Siegfried Eidinger mit der Maßgabe bewilligt, dass die Vergütung des beigeordneten Rechtsanwaltes bis zum Betrag der vereinbarten Selbstbeteiligung bei der HUK-Coburg iHv 500,00 EUR übernommen wird. Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I. Die Klägerin wendet sich gegen die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe durch das Sozialgericht Berlin (SG). In der Hauptsache begehrt sie die Auszahlung eines Betrages i.H.v. 2.135,15 EUR von dem Beklagten. Der Klägerin wurden von dem Beklagten im Zeitraum 1. April 2016 bis 31. Januar 2017 Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch – Zweites Buch (SGB II) bewilligt. Durch Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 29. Juni 2017 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 17. November 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. November 2017 hob der Beklagte die Leistungsbewilligung im Zeitraum 1. April 2016 bis 31. Januar 2017 teilweise unter Berufung auf § 45 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch – Zehntes Buch (SGB X) auf und forderte die Erstattung überzahlter Leistungen i.H.v. insgesamt 2.135,15 EUR gem. § 50 SGB X, da die Klägerin bei Antragstellung unrichtige Angaben zu ihren Vermögensverhältnissen gemacht habe. Hiergegen hat die Klägerin beim Sozialgericht Berlin (SG) zum Aktenzeichen S 100 AS 16122/17 Klage erhoben, über die noch nicht entschieden wurde. In dem von dem Beklagten initiierten Strafverfahren vor dem Amtsgericht Tiergarten zum Aktenzeichen erging am 9. August 2018 ein rechtskräftiger Strafbefehl, wonach die Klägerin zu einer Gesamtgeldstrafe von 900,00 EUR verurteilt wurde. Gleichzeitig wurde die Einziehung des Wertes des Erlangten i.H.v. 2.135,15 EUR angeordnet. Nach Zahlung durch die Klägerin kehrte die Staatsanwaltschaft Berlin diesen Betrag an den Beklagten aus (Aktenzeichen ). Am 23. September 2019 hat die Klägerin vor dem SG die vorliegende Klage erhoben, mit welcher sie die Verurteilung des Beklagten zur Rückzahlung von 2.135,15 EUR, mindestens bis zur Bestandskraft des Bescheides des Beklagten vom 29. Juni 2017 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 17. November 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. November 2017, begehrt. Zur Begründung hat die Klägerin vorgetragen, die gegen den Erstattungsbescheid erhobene Klage habe aufschiebende Wirkung. Obwohl dieser Bescheid weder bestandskräftig noch vollziehbar sei, sei der Betrag iHv 2.135,15 EUR von der Klägerin eingezogen und an den Beklagten ausgekehrt worden. Dieser Betrag stehe jedoch für die Dauer des Klageverfahrens der Klägerin zu. Denn die strafrechtliche Entscheidung ändere nichts an der aufschiebenden Wirkung der Klage. Mit Schreiben vom 14. November 2019 hat die Klägerin die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) für das Klageverfahren unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten beantragt. Ausweislich des Schreibens der HUK-Coburg vom 23. September 2019 wurde der Klägerin für das vorliegende Verfahren von ihrer Rechtsschutzversicherung eine Deckungszusage mit einer Selbstbeteiligung von 500,00 EUR erteilt. Durch Beschluss vom 16. Dezember 2019 hat das SG die Bewilligung von PKH für das Klageverfahren abgelehnt. Für das Klagebegehren sei bereits ein Anspruch nicht ersichtlich. Denn der Beklagte habe den streitgegenständlichen Betrag nicht von der Klägerin, sondern von der Staatsanwaltschaft erhalten. Es liege damit keine Vollstreckungsmaßnahme des Beklagten vor. Rechtsgrund für die Zahlung durch die Klägerin und das Behaltendürfen des Beklagten seien § 73 c Strafgesetzbuch (StGB) i.V.m. §§ 459 g, 459 Strafprozessordnung (StPO). Eine etwaige Rechtswidrigkeit der Einziehung betreffe allein das strafrechtliche Verfahren, nicht jedoch das Sozialrechtsverhältnis. Gegen den am 28. Dezember 2020 zugestellten Beschluss hat die Klägerin am 24. Januar 2020 beim SG Beschwerde eingelegt. Sie meint, der Beklagte missachte die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Erstattungsbescheid, indem er den von der Klägerin eingezogenen Betrag nicht an diese zurücküberweist. Denn bis zur Bestandskraft des Erstattungsbescheides stehe der Betrag der Klägerin zu. Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen, die Klägerin betreffenden Verwaltungsvorgänge verwiesen. II. Die Beschwerde (§§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG-) ist zulässig; sie ist insbesondere gemäß § 173 Satz 1 SGG binnen eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung des SG eingelegt worden. Sie ist auch begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Bewilligung von PKH für das erstinstanzliche Verfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt SE. Gemäß § 73a SGG i. V. m. 116 Satz 1 Nr. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält auf Antrag eine bedürftige Partei Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Bei Verständiger Würdigung ihres Gesamtvorbringens (vgl. § 123 SGG) wendet sich die Klägerin der Sache nach mit einem Eilantrag gegen die Vollziehung des angefochtenen Aufhebungs- und Erstattungsbescheides des Beklagten vom 29. Juni 2017 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 17. November 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. November 2017 und begehrt zudem einstweilen die Rückzahlung des von der Staatsanwaltschaft an die Klägerin ausgekehrten Betrages i.H.v. 2.135,15 EUR. Der so verstandene Antrag ist mithin als ein gegen einen sog. faktischen Vollzug gerichteter Antrag auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung analog § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/ Keller/ Leitherer/ Schmidt, SGG – Kommentar, 12. Aufl. 2017, § 86b Rn. 15) in Verbindung mit einem sog. Annexantrag auf Anordnung der Aufhebung des Vollzugs nach § 86b Abs. 1 S. 2 SGG (sog. Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch) anzusehen. Missachtet eine Behörde die aufschiebende Wirkung eines Rechtsmittels oder ist diese umstritten, oder ist eine Vollziehung durch die Behörde trotz der aufschiebenden Wirkung zu erwarten (sog. faktischer Vollzug), kann das Gericht die aufschiebende Wirkung analog § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG deklaratorisch feststellen (Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen [LSG NRW], Beschluss v. 27.5.2013, L 11 KR 16/13 B ER, juris, m. w. N.; Keller, ebd.). Voraussetzung hierfür ist, dass der Widerspruch aufschiebende Wirkung hat (§ 86a Abs. 1 SGG). In diesem Fall ist als Minus zur Anordnung der aufschiebenden Wirkung der feststellende Ausspruch mit umfasst (LSG NRW, Beschluss v. 27. Mai 2013, a.a.O. m.w.N.). Soweit die Klägerin von dem Beklagten die Auszahlung des streitigen Betrages begehrt, ist dies als Antrag auf Vollzugsfolgenbeseitigung i.S.d. § 86b Abs. 1 Satz 2 SGG auszulegen. Dieser erfasst als unselbständiger Folgenbeseitigungsanspruch auch die Rückgängigmachung bereits erfolgter Vollziehungshandlungen (Keller, a.a.O., Rn. 10 m. w. N.). Das so verstandene Begehren der bedürftigen Klägerin hat im Sinne des § 73a Abs. 1 Satz 1 des SGG in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 der ZPO hinreichende Erfolgsaussicht und erscheint nicht mutwillig. Bei der Prüfung der hinreichenden Erfolgsaussicht im Sinne des § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist das aus Art. 3 Abs. 1, 19 Abs. 4, 20 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) abzuleitende verfassungsrechtliche Gebot zu beachten, die Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes weitgehend anzugleichen. Daher dürfen die Anforderungen an die Erfolgsaussicht nicht überspannt werden. Die Gewährung von Prozesskostenhilfe kann jedoch verweigert werden, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist. Insbesondere darf die Prozesskostenhilfe dann nicht versagt werden, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhängt. Zwar braucht Prozesskostenhilfe nicht schon gewährt zu werden, wenn die entscheidungserhebliche Rechtsfrage höchstrichterlich noch nicht geklärt ist. Das setzt allerdings voraus, dass ihre Beantwortung im Hinblick auf die einschlägige gesetzliche Regelung oder die durch die bereits vorliegende Rechtsprechung gewährten Auslegungshilfen nicht in dem genannten Sinne als schwierig erscheint. Ist das nicht der Fall, so läuft es dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit zuwider, dem Unbemittelten wegen fehlender Erfolgsaus-sicht seines Begehrens die Gewährung von Prozesskostenhilfe vorzuenthalten (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 13. März 1990, 2 BvR 94/88, juris, Rn. 28 ff.). Auch wenn eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht kommt und keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Mittellosen ausgehen wird, ist es mit dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit nicht vereinbar, dem Unbemittelten wegen fehlender Erfolgsaussicht die Prozesskostenhilfe zu verweigern (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 14. April 2003, 1 BvR 1998/02, juris, Rn. 11; Beschluss vom 12. Januar 1993, 2 BvR 1584/92, juris, Rn. 10). Für die Beurteilung der hinreichenden Erfolgsaussicht ist der Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Antrages auf Prozesskostenhilfe maßgeblich (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 5. Dezember 2018, 2 BvR 1122/18, juris, Rn. 16; Beschluss vom 29. November 2018, 2 BvR 2513/17, juris, Rn. 16; Beschluss vom 23. Oktober 2018, 2 BvR 2374/17, juris, Rn. 15), Gemessen an diesen Maßstäben liegt eine hinreichende Erfolgsaussicht vor, denn der Rechtsstandpunkt der Klägerin ist zumindest vertretbar und es besteht in tatsächlicher Hinsicht auf der Grundlage einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage eine gewisse Wahrscheinlichkeit für das Bestehen des geltend gemachten Anspruchs. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung ist auch nicht mutwillig. Nach § 39 Nr. 1 SGB II haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufhebt, zurücknimmt, widerruft oder herabsetzt, keine aufschiebende Wirkung. Die Vorschrift greift im Hinblick auf die von der Klägerin im Verfahren vor dem SG zum Aktenzeichen S 100 AS 16122/17 klageweise angegriffenen Bescheide, soweit sie über die Rücknahme der an den Antragsteller im Zeitraum vom 1. April 2016 bis zum 31. Januar 2017 erfolgten Leistungsbewilligungen entscheiden. Insoweit hat der Beklagte die Leistungen i.S. der Vorschrift aufgehoben bzw. zurückgenommen. Widerspruch und Klage gegen die im Bescheid enthaltene Rücknahme haben kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung. Soweit mit den angefochtenen Bescheiden auch die Erstattung der gezahlten Leistungen gemäß § 50 SGB X gefordert wird, greift indes § 39 SGB II nicht. Insoweit hat die von Klägerin beim SG zum Aktenzeichen S 100 AS 16122/17 erhobene Klage nach § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG aufschiebende Wirkung. Einer der in § 86a Abs. 2 SGG geregelten Ausnahmefälle, in denen die aufschiebende Wirkung entfällt, liegt insoweit nicht vor. Der Erfolg des auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die Erstattungsforderung gerichteten Antrags der Klägerin hängt damit auch davon ab, ob die Beklagte den Erstattungsbescheid dadurch im Sinne des § 86a SGG vollzieht, indem sie den ihr überwiesenen Betrag nicht an die Klägern zurücküberweist. Hierbei handelt es sich um eine die Gewährung von PKH rechtfertigende, im weiteren Verfahren zu klärende Frage, wobei der Begriff der "Vollziehung" weit zu verstehen ist (BSG, Urteil vom 11. März 2009, B 6 KA 15/08 R, juris, Rn. 12; BFH, Urteil vom 31. August 1995, VII R 58/94, juris, Rn. 14). Die aufschiebende Wirkung ist Ausprägung der Garantie des effektiven Rechtsschutzes aus Artikel 19 Abs. 4 Grundgesetz und damit ein fundamentaler Grundsatz des öffentlich-rechtlichen Verfahrens, weil verhindert werden soll, dass vollendete Tatsachen geschaffen werden. Aufschiebende Wirkung bedeutet, dass während des durch die aufschiebende Wirkung bedingten Schwebezustands keine rechtlichen oder tatsächlichen Folgerungen aus dem angefochtenen Verwaltungsakt gezogen werden dürfen. Die Behörde ist verpflichtet, während dieses Schwebezustandes alle Maßnahmen zu unterlassen, die seiner Vollziehung dienen und den Betroffenen belasten, sofern diese Maßnahmen den Bestand und die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes voraussetzen. Bei der Entscheidung, ob eine ggf. bereits erfolgte Vollziehung aufzuheben ist und der geltend gemachte Betrag von dem Beklagten auszuzahlen ist, ist das öffentliche Interesse an dem Fortbestand des Vollzuges gegen das Interesse des Antragstellers an der Aufhebung der Vollziehung abzuwägen. Allerdings folgt nicht bereits aus der Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs, dass auch die bereits eingetretenen Vollzugsfolgen zwingend zu beseitigen sind. Vielmehr ist insoweit eine eigenständige Abwägung erforderlich (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. September 2009, L 20 AS 1061/09 B ER; juris; LSG NRW, Beschluss vom 29. November 2010, L 6 AS 981/10 B ER; juris). Auch insoweit liegt eine erst noch zu entscheidende Rechtsfrage vor. Der Klägerin war nach alledem PKH für das Verfahren vor dem SG zu gewähren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Klägerin aufgrund der Deckungszusage ihrer Rechtsschutzversicherung für das vorliegende Verfahren maximal Kosten iHv 500,00 EUR entstehen können. Der Klägerin ist darüber hinaus gemäß § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 121 Abs. 2 ZPO ihr Prozessbevollmächtigter beizuordnen, da die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO.

Dieser Beschluss kann gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden.
Rechtskraft
Aus
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