S 5 AS 361/20 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Wiesbaden (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 5 AS 361/20 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
keine
1. Der Antrag wird abgelehnt.

2. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin begehrt von der Antragsgegnerin Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch – Zweites Buch – (SGB II) nach Maßgabe der Härtefallregelung des § 27 SGB II.

Die 1987 geborene Antragstellerin nahm zum Sommersemester 2014 erstmals ein Hochschulstudium an der C-Universität auf. Derzeit studiert sie im zweiten Fachsemester angewandte Physik an der Hochschule D.

Die Antragstellerin erhält keine BAföG-Leistungen und (zumindest derzeit) auch keinen Studienkredit oder vergleichbare Leistungen. Ihren Lebensunterhalt bestritt sie bislang ausschließlich durch einen Nebenjob im Kulturzentrum E. in A-Stadt, der ihr zuletzt etwa 800,00 EUR monatlich einbrachte. Die Antragstellerin wohnt in einer WG und zahlt ca. 500,00 EUR monatlich an Miete. Sie verfügt über ein Depot bei F. mit einem Wert von derzeit EUR 3.196,12 (Bl. I 14 der Verwaltungsakte, [VA]). Wirtschaftlicher Wert und Verwertbarkeit des Depots im Einzelnen sind zwischen den Beteiligten dabei streitig geblieben.

Aufgrund der derzeit bestehenden Corona-Pandemie konnten Veranstaltungen im Kulturzentrum bis zuletzt nicht stattfinden. Die Antragstellerin schloss daher zum 31.03.2020 einen Aufhebungsvertrag mit ihrem Arbeitgeber (Bl. II 2 VA).

Ausweislich der Klageschrift zur zwischenzeitlich erhobenen Klage (S 5 AS 380/20) hat die Antragstellerin zum 18.05.2020 wieder eine Arbeit aufgenommen. Entgelt aus dieser Tätigkeit wird ihr erstmals Ende Juni 2020 zufließen.

Die Antragstellerin beantragte zum 01.04.2020 bei der Antragsgegnerin Leistungen nach dem SGB II. Die Antragsgegnerin lehnte den Antrag mit Bescheid vom 22.04.2020 ab (Bl. IV 27 VA) Ein hiergegen gerichtetes Widerspruchsverfahren blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid v. 13.05.2020, Bl. 57 d. A.)

Am 16.05.2020 stellte die Antragstellerin den vorliegenden Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Zur Begründung trägt sie vor, dass die Ablehnung der Leistungsgewährung durch die Antragsgegnerin rechtswidrig sei. Die Antragstellerin habe Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II nach Maßgabe von § 27 SGB II. Die Antragstellerin stellt sich dabei auf den Standpunkt, dass in ihrem Falle der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II eine unbillige Härte darstelle. Sie habe ihren Arbeitsplatz unverschuldet wegen der Corona-Pandemie verloren und sei dadurch in eine Notlage geraten. Weiter verweist sie auf eine Auskunft des Bundesministeriums für Bildung und Forschung vom 31.03.2020, in der es heißt, dass Studenten, die in der aktuellen Situation ihren Nebenjob verlieren, auch ohne Beurlaubung vom Studium Leistungen gemäß der Härtefallregelung des § 27 SGB II erhalten könnten. Sie verfüge über kein verwertbares Vermögen, das Depot bei F. könnte nur mit großem Wertverlust veräußert werden. Den Aufhebungsvertrag mit ihrem ehemaligen Arbeitgeber habe die Antragstellerin schließen müssen um die Kündigung abzuwenden; Kurzarbeit sei nicht möglich gewesen. BAföG-Leistungen oder einen Studienkredit könne die Antragstellerin nicht erhalten, weil sie jeweils die Förderungshöchstdauer überschritten habe. Ohne die beantragten Leistungen drohe "möglicherweise" der Abbruch des Studiums.

Die Antragstellerin beantragt,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin ab dem 16.05.2020 vorläufig Leistungen der Grundsicherung in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.

Die Antragstellerin habe keinen Anspruch auf Leistungen. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II stelle auch keine unbillige Härte dar. Insoweit sei die Antragstellerin darauf zu verweisen, sich eine andere Arbeitsstelle zu suchen. Auch bestehe ein Anordnungsgrund nicht. Es sei der Antragstellerin zuzumuten, ihren Lebensunterhalt bis zum Zufluss von Arbeitsentgelt durch den neuen Arbeitgeber selbst zu bestreiten; notfalls habe sie ihr Depot bei F. aufzulösen. Im Übrigen sei nicht zu erkennen, dass die Antragstellerin sich um anderweitige Lösungen bemüht habe, insbesondere habe sie keinen Förderkredit bei der KfW beantragt.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird verwiesen auf den Inhalt von Gerichts- und Verwaltungsakte, insbesondere die gewechselten Schriftsätze.

II.

Der zulässige Antrag ist unbegründet. Es bestehen weder Anordnungsanspruch (1.) noch Anordnungsgrund (2.) auf Seiten der Antragstellerin.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Voraussetzung für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs, also eines materiell-rechtlichen Anspruchs auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, und eines Anordnungsgrunds, nämlich eines Sachverhaltes, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet (Keller, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 86b Rn. 27 ff. m.w.N.). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind gemäß § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) i.V.m. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG glaubhaft zu machen. Dabei stehen sich Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert gegenüber. Vielmehr besteht zwischen ihnen eine funktionelle Wechselbeziehung dergestalt, als die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Eingriffs (Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Dabei dürfen keine zu hohen Anforderungen an die Glaubhaftmachung im Eilverfahren gestellt werden. Die Anforderungen haben sich vielmehr am Rechtsschutzziel zu orientieren, das der Antragsteller mit seinem Begehren verfolgt (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], v. 29.07.2003, 2 BvR 311/03 und v. 19.03.200, 1 BvR 131/04). Ist dagegen dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist anhand einer Folgenabwägung unter umfassender Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange aller Beteiligter zu entscheiden (BVerfG, v. 12.05.2005, 1 BvR 569/05; Keller, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 86b Rn. 27 f. m.w.N.).

1. Ein Anordnungsanspruch der Antragstellerin besteht nicht.

Die Antragstellerin kann als dem Grunde nach gemäß BAföG förderfähige Studentin Leistungen nach dem SGB II ausschließlich nach Maßgabe des § 27 SGB II erhalten. Demnach können Leistungen für Regelbedarfe, den Mehrbedarf nach § 21 Absatz 7, Bedarfe für Unterkunft und Heizung, Bedarfe für Bildung und Teilhabe und notwendige Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung als Darlehen erbracht werden, sofern der Leistungsausschluss nach § 7 Absatz 5 eine besondere Härte bedeutet. Eine besondere Härte ist auch anzunehmen, wenn Auszubildenden, deren Bedarf sich nach §§ 12 oder 13 Absatz 1 Nummer 1 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes bemisst, aufgrund von § 10 Absatz 3 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes keine Leistungen zustehen, diese Ausbildung im Einzelfall für die Eingliederung der oder des Auszubildenden in das Erwerbsleben zwingend erforderlich ist und ohne die Erbringung von Leistungen zum Lebensunterhalt der Abbruch der Ausbildung droht; in diesem Fall sind Leistungen als Zuschuss zu erbringen.

Die Antragstellerin hat nicht glaubhaft gemacht, dass in ihrem Fall der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II eine besondere Härte bedeutet.

Bei dem Begriff der besonderen Härte handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Ausfüllung bei der konkreten Anwendung in vollem Umfang der gerichtlichen Überprüfung unterliegt. Die Annahme einer besonderen Härte erfordert, dass die Folgen des Anspruchsausschlusses über das Maß hinausgehen, dass regelmäßig mit der Versagung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für Auszubildende verbunden ist. Die Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhalts für Auszubildende muss auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben (Gagel/Lauterbach, 77. EL März 2020, SGB II § 27 Rn. 12, mwN). Eine besondere Härte kann daher anzunehmen sein, wenn durch die Versagung der Leistungen der Abbruch eines kurz vor dem Abschluss stehenden Studiums droht, oder etwa das Studium den einzigen Zugang zum Arbeitsmarkt darstellt. Auch denkbar ist die Annahme eines Härtefalls, wenn etwa ein bereits weit fortgeschrittenes und bisher kontinuierlich betriebenes Studium auf Grund der konkreten Umstände des Einzelfalls wegen einer Behinderung oder Erkrankung unterbrochen wird und daher die Fördermöglichkeiten nach dem BAföG entfallen (zu diesen Beispielen vgl. BSG v. 06.09.2007, B 14/7b AS 36/06 R, BeckRS 2008, 50474, Rn. 24).

Eine derartige Härte kann die Kammer im Vortrag der Antragstellerin nicht erkennen. Soweit die Antragstellerin sich darauf beruft, sie habe unverschuldet und ungewollt ihren Arbeitsplatz und damit einzige Finanzierungsmöglichkeit des Studiums verloren, ist dem bereits schon nicht ohne weiteres zu folgen. Die Antragstellerin hat nämlich trotz ausdrücklicher Nachfrage des Gerichts nicht nachvollziehbar dargelegt, wieso sie gezwungen gewesen sein soll, einen Aufhebungsvertrag mit ihrem bisherigen Arbeitgeber schließen. Auch wenn es derzeit im Kulturzentrum keine Arbeit geben sollte, bedeutet gleichwohl nicht ohne Weiteres, dass die Antragstellerin zwingend einen Auflösungsvertrag hätte schließen müssen. Auch wenn man ihrem Vortrag folgt, dass der Aufhebungsvertrag zur Vermeidung einer ansonsten drohenden Arbeitgeberkündigung geschlossen wurde, hat die Antragstellerin nichts dazu vorgetragen, wie lange die Kündigungsfrist in ihrem Fall gewesen wäre.

Doch auch wenn man zugunsten der Antragstellerin davon ausgeht, dass der Verlust ihres Arbeitsplatzes unverschuldet und ungewollt erfolgt ist, folgt hieraus keine unbillige Härte unter Zugrundelegung der vorgenannten Maßstäbe. Denn die Gefahr des unfreiwilligen und unverschuldeten Arbeitsplatzverlustes besteht mit oder ohne Corona-Pandemie. Zwar mag es in diesem Zusammenhang sein, dass es während der Pandemie für Studenten schwieriger ist, im Falle des Arbeitsplatzverlustes in hierfür typischerweise geeigneten Branchen (insb. Gastronomie) einen Arbeitsplatz zu finden. Die Antragsgegnerin hält dem aber zu Recht entgegen, dass dafür alternative Beschäftigungsmöglichkeiten in anderen Sektoren (Supermärkte etc.) entstehen. Mithin führt die Arbeitsmarktsituation aufgrund der Pandemie nicht dazu, dass die Folgen des Leistungsausschlusses über das Maß hinausgehen, dass regelmäßig mit der Versagung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für Auszubildende verbunden ist. Die Folgen bleiben vielmehr dieselben, lediglich der Fall, dass Studenten ihre Arbeitsplätze verlieren und damit von dem Leistungsausschluss betroffen sind, kann möglicherweise häufiger auftreten. Hierauf zu reagieren bleibt indes dem Gesetzgeber vorbehalten.

Auch ansonsten hat die Antragstellerin eine unbillige Härte nicht glaubhaft gemacht. Sie hat insbesondere nicht konkret dargelegt, dass ohne die beantragten Leistungen der Abbruch ihres – im Übrigen nicht weit fortgeschrittenen – Studiums droht, oder etwa das Studium ihre einzige Zugangsmöglichkeit zum Arbeitsmarkt darstellt.

2. Die Antragstellerin hat daneben auch einen Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht.

Dabei kann offenbleiben, ob es der Antragstellerin zuzumuten ist, das Depot der Antragstellerin bei der F. aufzulösen. Die Antragstellerin hat jedenfalls trotz mehrfacher Aufforderung des Gerichts nicht vorgetragen welches Einkommen sie aus ihrer neuen Arbeitsstelle zu erwarten hat. Es ist vor diesem Hintergrund nicht nachzuprüfen, inwieweit es der Antragstellerin zumutbar und möglich gewesen wäre, durch Vorschüsse oder anderweitige Kreditaufnahme selbst für eine Überbrückung des überschaubaren Zeitraums von Antragstellung bei Gericht am 16.05.2020 bis zum erwarteten Zufluss Ende Juni zu sorgen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG analog und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.
Rechtskraft
Aus
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