S 40 AS 644/16

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Gelsenkirchen (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
40
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 40 AS 644/16
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Kläger wenden sich gegen einen Ersatzanspruch, den der Beklagte nach Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) geltend macht.

Die 1983 geborene Klägerin zu 1) und der 1979 geborene Kläger zu 2) und ihre beiden 2009 und 2011 geborenen Kinder reisten erstmals am 19.10.2015 aus Polen in die Bundesrepublik. Die Klägerin zu 1) und ihre beiden Kinder sind deutsche Staatsangehörige. Der Kläger zu 2) ist polnischer Staatsangehöriger. In Polen hatten die Klägerin zu 1) und der Kläger zu 2) über unbefristete Arbeitsverträge verfügt, die sie aufgrund ihrer Ausreise gekündigt hatten.

Am 21.10.2015 beantragten die Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bei dem Beklagten. Sie gaben in Begleitung des Zeugen Q an, ihre jeweiligen Beschäftigungen in Polen zum 16.10.2015 wegen der Ausreise nach Deutschland gekündigt zu haben.

Am 26.10.2015 erfolgte eine weitere Vorsprache durch den Kläger zu 2) in Begleitung des Zeugen Q. Hierzu fertigte die Mitarbeiterin des Beklagten, die Zeugin T (geb. U), eine Erklärungsniederschrift, die von ihr, dem Zeugen Q als Übersetzer und von dem Kläger zu 2) unterschrieben wurde, mit folgendem Inhalt:

"[ ] In Polen hatten ich und meine Frau eine Arbeitsstelle. Der letzte Lohn betrug zirka 1.500 Sloty jeweils für den ganzen Monat (also insgesamt ca. 700,00 EUR). Diese Stelle habe ich jedoch aus ökonomischen Gründen gekündigt und bin deshalb nach Deutschland eingereist, um Leistungen zu beantragen. Das Geld in Polen hat nicht gereicht um unseren Lebensunterhalt zu finanzieren. Deshalb sind wir hier eingereist. Eine Arbeitsstelle habe ich hier noch nicht in Aussicht. Die Einreise erfolgte mit der Absicht hier einen verbesserten Lebensstandard zu erreichen. [ ]

Hiermit bestätige ich, dass mir die Erklärungsniederschrift vollständig übersetzt wurde und dass ich den Inhalt komplett verstanden habe."

Am 23.11.2015 sprachen die Kläger in Begleitung des Zeugen R, einem Inhaber eines Übersetzungsbüros, erneut vor. Hierzu fertigte die Zeugin Schneider folgende Erklärungsniederschrift:

"[ ] Mir wurde heute erklärt, dass eine Kostenersatzpflicht geprüft wird. Mir wurde das Verfahren hierzu erläutert. Sowohl meine Frau als auch ich haben unsere Arbeitsstellen in Polen gekündigt um nun hier Leistungen zu beantragen.

Ich habe die Erklärungsniederschrift verstanden. Sie wurde mir vollständig übersetzt."

Die Erklärungsniederschrift wurde von den Zeugen T und R sowie von den Klägern unterschrieben.

Zudem reichten die Kläger u.a. eine Kopie des Arbeitsvertrages der Klägerin zu 1), eine Bescheinigung über den Arbeitsvertrag des Klägers zu 2) in polnischer Sprache sowie die durch den Zeugen R gefertigte Übersetzungen ein. Danach verfügte die Klägerin zu 1) seit dem 01.10.2015 über eine unbefristete Anstellung als Verkäuferin/Kassiererin mit einem monatlichen Grundgehalt von 2.100,00 Zloty, und der Kläger zu 2) über eine zum 31.10.2015 aufgelöste Anstellung als Kraftfahrzeugführer mit einem monatlichen Gehalt von 1.900,00 Zloty.

Mit Bescheid vom 01.12.2015 bewilligte der Beklagte den Klägern und ihren Kindern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Bewilligungsabschnitt 19.10.2015 bis 31.03.2016.

Mit jeweils getrennten Schreiben vom 09.12.2015 hörte der Beklagte die Kläger zu einer Geltendmachung eines Ersatzanspruches bei sozialwidrigem Verhalten an. Nach seiner Kenntnis hätten die Kläger ihre und die Hilfebedürftigkeit ihrer Kinder möglicherweise vorsätzlich oder grob fahrlässig sowie ohne wichtigen Grund herbeigeführt. Die Kläger hätten ihre Arbeitsplätze in Polen gekündigt, um nach Deutschland einzureisen und Sozialleistungen zu beziehen. Die Klägerin zu 1) habe eine Arbeitsstelle bei der Firma K, die sie gekündigt habe, ausgeübt. Der Kläger zu 2) habe seit dem Jahr 2012 eine Beschäftigung bei der Firma U gehabt. Auch diese Beschäftigung sei gekündigt worden, um nach Deutschland einzureisen. Dass die Beschäftigungen gekündigt worden seien, um nach Deutschland einreisen zu können, habe der Kläger zu 2) bereits bei dem ersten Gespräch am 21.10.2015 angegeben. Dies habe er in einem zweiten Gespräch am 26.10.2015 bekräftigt. Er habe angegeben, die Arbeitsstellen seien aus ökonomischen Gründen gekündigt worden. Zudem sei die Einreise ohne eine konkrete Aussicht auf eine neue Arbeitsstelle erfolgt. Die Einreise sei mit der Absicht erfolgt, in Deutschland einen verbesserten Lebensstandard zu erreichen. Die Klägerin zu 1) sowie die Kinder besäßen die deutsche Staatsangehörigkeit, so dass lediglich auf den Tatbestand der eigenen Kündigung der Arbeitsstelle abgestellt werde.

Mit Schreiben vom 16.12.2015 teilten die Kläger mit, dass sie aufgrund der deutschen Staatsangehörigkeit der Klägerin zu 1) und der Kinder nach Deutschland eingereist seien, in dem Bewusstsein, dass sie nicht umgehend einen Arbeitsplatz finden würden und somit auf die Inanspruchnahme von Sozialleistungen angewiesen seien. Inwieweit es ihnen verwehrt sein soll, nach Deutschland einzureisen, einen Wohnsitz zu nehmen und zu versuchen, in ein Arbeitsverhältnis zu gelangen, erschließe sich den Klägern nicht. Es müsse zudem berücksichtigt werden, dass die Kläger über einen Zeitraum von fast sechs Jahren notwendige Unterlagen besorgen mussten, um im Ergebnis einen deutschen Personalausweis ausgestellt zu bekommen. Am 15.07.2015 sei der Klägerin zu 1) im Konsulat Oppeln der Personalausweis ausgestellt und ausgehändigt worden. Erst danach sei die Ausreise nach Deutschland durchgeführt worden. Sofern in der Erklärungsniederschrift vom 26.10.2015 aufgeführt werde, dass die Arbeitsstelle aus ökonomischen Gründen gekündigt worden sei, um in Deutschland Leistungen zu beantragen, so sei dies nicht richtig. Möglicherweise habe der Zeuge Qden Sachverhalt nicht deutlich genug wiedergegeben. Deutsche Staatsangehörige seien nicht verpflichtet, ihren Lebensunterhalt durch Beibehaltung eines Arbeitsplatzes im Ausland sicherzustellen. Gerade weil die deutsche Staatsangehörigkeit für die Klägerin und die gemeinsamen Kinder gegeben sei, sei es selbstverständlich, dass die Familie vollständig nach Deutschland übersiedele, hier ihren Lebensmittelpunkt nehme und in absehbarer Zeit versuche, durch Aufnahme einer Tätigkeit keine staatliche Unterstützung mehr in Anspruch zu nehmen.

Mit jeweils getrennten Bescheiden vom 27.01.2016 verfügte der Beklagte gegenüber den Klägern unter Wiederholung der Ausführungen in den Anhörungsschreiben, dass sie zum Ersatz der gezahlten Leistungen verpflichtet seien. Im Anhörungsverfahren seien weder Gründe vorgetragen noch ergäben sich nach Aktenlage Anhaltspunkte, die gegen eine Ersatzpflicht sprechen würden. Ein wichtiger Grund läge nicht vor. Die Schreiben waren mit Rechtsbehelfsbelehrungen versehen.

Hiergegen erhoben die Kläger mit Schreiben vom 16.02.2016 Widerspruch. Die Klägerin zu 1) habe mit den Kindern mehr als sechs Jahre um die deutsche Staatsangehörigkeit gekämpft. Nach Erhalt sei die Ausreise nach Deutschland erfolgt. Der Kläger sei bemüht, so schnell wie möglich einen Arbeitsplatz zu erhalten, müsse jedoch noch die entsprechenden Deutschkurse besuchen. Es sei nicht nachvollziehbar, aus welchem Grunde die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II grob fahrlässig herbeigeführt worden sein sollen. Insbesondere sei zu berücksichtigen, dass die Klägerin zu 1) sich immer als deutsche Staatsangehörige gefühlt habe und von daher den Kampf um die Anerkennung in Polen auf sich genommen hatte und nach Erhalt der deutschen Staatsangehörigkeit und der Ausweisdokumente sofort nach Deutschland übergesiedelt sei.

Mit Widerspruchsbescheiden vom 22.02.2016 wies der Beklagte die Widersprüche der Kläger als unbegründet zurück. Es liege ein sozialwidriges Verhalten vor. Die Kläger hätten ihre Beschäftigungen in Polen aufgegeben, um in Deutschland staatliche Leistungen in Anspruch zu nehmen. Ihnen sei bewusst gewesen, dass sie aufgrund ihrer Sprachprobleme in Deutschland nicht direkt einer Beschäftigung nachgehen könnten. Damit sei das sozialwidrige Verhalten ursächlich für den Leistungsbezug nach dem SGB II. Die Kläger hätten zumindest grob fahrlässig gehandelt. Ihnen sei nach eigenen Angaben bei der Aufgabe ihrer Beschäftigungen in der Absicht der Einreise nach Deutschland durchaus bewusst gewesen, dass der Kläger zu 2) und seine Familie zumindest in absehbarer Zeit auf staatliche Leistungen angewiesen sein würden. Ein objektiv wichtiger Grund habe nicht vorgelegen. Für die Kläger habe seit längerer Zeit festgestanden, dass sie nach Deutschland ziehen werden. Es habe die Gelegenheit bestanden, sich erst dahingehend abzusichern, in Deutschland den Lebensunterhalt zunächst aus eigenen Mitteln (z.B. durch Ersparnisse bzw. eigenes Einkommen) bestreiten zu können. Auch hätte der Kläger zu 2) zunächst versuchen müssen, seine Deutschkenntnisse derart zu verbessern, dass er eine Chance auf dem deutschen Arbeitsmarkt hat. Insofern habe es nahegelegen, das in Polen bestehende Beschäftigungsverhältnis und den dortigen Lebensmittelpunkt erst aufzugeben, wenn in Deutschland eine Grundlage für ein dortiges Leben geschaffen worden wäre. All dies hätten die Kläger aber unterlassen. Vielmehr hätten sie sich auf die Sozialleistungen in Deutschland verlassen. Ein objektiv wichtiger Grund habe nicht zur Seite gestanden.

Hiergegen haben die Kläger am 08.03.2016 Klage erhoben. Das Familieneinkommen in Polen sei gerade so hoch gewesen, um die monatlichen Lebenshaltungskosten bestreiten zu können. In Polen habe man in beengten Verhältnissen mit insgesamt 5 Personen in der Wohnung der Mutter der Klägerin zu 1) gewohnt. Zudem würden in Polen keine Deutschkurse angeboten werden. Grob fahrlässiges Verhalten liege nicht vor. Sie seien nach Deutschland gekommen, weil sich die Klägerin zu 1) als Deutsche fühle und auch in ihr Land kommen wollte, um zu arbeiten und zu leben. Der Zeuge Q sei selbst der deutschen Sprache nicht so mächtig, so dass er die Erklärungsniederschrift vom 26.10.2015 nicht wörtlich habe übersetzen können. Bei der Vorsprache am 23.11.2015 habe sich die Klägerin zu 1) vor dem Büro der Sachbearbeiterin aufgehalten. Sie sei dann hereingerufen und aufgefordert worden, die Erklärungsniederschrift zu unterschreiben. Eine Übersetzung sei nicht erfolgt. Sie habe einfach unterschrieben. Die Äußerungen seien dahingehend zu verstehen, dass die Kläger die Beantragung von Leistungen für den Neustart in Deutschland benötigt hätten.

Die Kläger beantragen,

die Bescheide vom 27.01.2016 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 22.02.2016 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hält an seiner Auffassung fest.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung der Zeugen T, L, Q und R. Hinsichtlich der Aussagen der Zeugen wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage hat keinen Erfolg.

Die Klage ist zulässig, jedoch unbegründet.

Die Kläger haben keinen Anspruch auf Aufhebung der angefochtenen Bescheide vom 27.01.2016 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 22.02.2016. Die Bescheide beschweren die Kläger nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da sie rechtmäßig sind.

Rechtsgrundlage für die Ersatzpflicht der Kläger ist § 34 Abs. 1 S. 1 und 2 SGB II in der vom 01.04.2011 bis zum 31.07.2016 geltenden Fassung (a.F.). Danach ist derjenige, der nach Vollendung des 18. Lebensjahres vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II an sich oder an Personen, die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben, ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat, zum Ersatz der deswegen gezahlten Leistungen verpflichtet. Der Ersatzanspruch umfasst auch die geleisteten Beiträge zur Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung.

Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.

Die volljährigen Kläger und ihre Kinder haben in der Zeit ab dem 19.10.2015 rechtmäßig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II erhalten. Die Voraussetzungen für den Bezug von Leistungen nach dem SGB II nach § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 2 und S. 4 SGB II haben vorgelegen, da die Kläger seit dem 19.10.2015 das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze des § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik haben und erwerbsfähig sind. Zudem sind die Kläger seit dem 19.10.2015 hilfebedürftig i.S.d. § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 9 SGB II, da ihnen kein Einkommen zugeflossen ist und sie seitdem über kein zu berücksichtigendes Vermögen i.S.d. § 12 SGB II verfügen.

Das Verhalten der Kläger ist für das Entstehen der Hilfebedürftigkeit kausal gewesen. Die Kläger haben durch die Kündigung ihrer unbefristeten Arbeitsverträge in Polen und durch die Verlegung ihres Wohnsitzes nach Deutschland die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II und damit ihre Hilfebedürftigkeit nach § 9 Abs. 1 SGB II für die Zeit ab Oktober 2015 herbeigeführt. Denn durch Aufgabe ihrer Beschäftigungen haben die Kläger kein Einkommen mehr erzielt. Und durch die Verlegung ihres Wohnsitzes von Polen nach Deutschland haben die Kläger ihren gewöhnlichen Aufenthalt i.S.d. § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II begründet. Zur Überzeugung der Kammer stellen die Beschäftigungsaufgabe und die Verlagerung des Wohnsitzes von Polen nach Deutschland einen einheitlichen Sachverhalt dar, der dem Prüfungsmaßstab des § 34 SGB II a.F. zu Grunde zu legen ist.

Die Herbeiführung der Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II geschah nach Auffassung der Kammer auch sozialwidrig und ohne wichtigen Grund.

Ein Ersatzanspruch des § 34 SGB II setzt voraus, dass das Verhalten des Ersatzpflichtigen objektiv sozialwidrig gewesen ist (vgl. BSG, Urteil vom 02.11.2012, Az.: B 4 AS 39/12 R).

Sozialwidrig ist ein Verhalten, wenn das Tun oder Unterlassen desjenigen, der zum Ersatz verpflichtet werden soll, von der Gemeinschaft, die die Mittel für die Grundsicherungsleistungen aufbringen muss, missbilligt wird (vgl. LSG NRW, Urteil vom 22.04.2013, Az.: L 19 AS 1303/12). Es muss ein spezifischer Bezug zwischen dem Verhalten selbst und dem Erfolg bestehen, um das Verhalten nach den Wertungen des SGB II als "sozialwidrig" bewerten zu können (vgl. BSG, Urteil vom 02.11.2012, Az.: B 4 AS 39/12 R; LSG NRW, Urteil vom 22.04.2013, Az.: L 19 AS 1303/12). Entscheidend ist, ob ein Verhalten mit Blick auf die im SGB II verankerten Wertungsmaßstäbe als missbilligenswert erscheint. Maßgebliche Grundlage hat dabei nicht ein generelles Urteil über ein bestimmtes Verhalten oder Unterlassen zu sein. Vielmehr sind die Umstände des Einzelfalles von ausschlaggebender Bedeutung (vgl. LSG NRW, Urteil vom 22.04.2013, Az.: L 19 AS 1303/12).

Das Verhalten der Kläger – die Aufgabe ihrer unbefristeten Beschäftigungsverhältnisse, um ihren Wohnsitz nach Deutschland zu verlagern – ohne Aussicht auf einen Anschlussarbeitsplatz ist zur Überzeugung der Kammer nach den Wertungsmaßstäben des SGB II zu missbilligen und damit sozialwidrig.

Die Aufgabe eines Arbeitsplatzes ohne wichtigen Grund und die dadurch verursachte Hilfebedürftigkeit kann grundsätzlich als sozialwidrig gewertet werden (vgl. Link, in: Eicher, SGB II, 3. Aufl. 2013, § 34 Rn. 44 m.w.N.).

Nach Durchführung der Beweisaufnahme steht für die Kammer fest, dass die Kläger ihre unbefristeten Arbeitsplätze in Polen aufgegeben haben, um ihren Lebensmittelpunkt nach Deutschland zu verlegen und um Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II zu beziehen. Zwar steht für die Kammer auch fest, dass die Kläger die in den von der Zeugin Schneider angefertigten Erklärungsniederschriften vom 26.10.2015 und vom 23.11.2015 enthaltenen Äußerungen in Bezug auf die Hintergründe des Umzuges nach Deutschland nicht selbst getätigt haben, sondern vielmehr am 26.10.2015 der Zeuge Q für sie gesprochen hat. Insbesondere haben die Kläger nicht am 23.11.2015 gegenüber den Zeuginnen T und L angegeben, dass sie ihre beiden Arbeitsstellen in Polen gekündigt hätten, um nun in Deutschland Leistungen zu beantragen. So hat der Zeuge Q gegenüber dem Gericht erklärt, dass eine derartige Äußerung nicht abgegeben worden sei. Zudem hat die Zeugin Schneider gegenüber dem Gericht eingeräumt, dass die Kläger diese Erklärung nicht aktiv geäußert hätten und sie diesen Satz von sich aus in die Erklärungsniederschrift aufgenommen habe. Gleichwohl steht für die Kammer fest, dass die Kläger in erster Linie ihre unbefristeten Arbeitsverhältnisse beendet haben, um nach Deutschland zu ziehen und um hier - auch durch den Leistungsbezug - ihren Lebensstandard zu verbessern. Dies steht für die Kamer insbesondere aufgrund der Angaben des Zeugen Q fest. Die in der Erklärungsniederschrift vom 26.10.2015 enthalten Angaben, die in Bezug auf die Hintergründe des Umzuges nach Deutschland vom Zeugen Q getätigt wurden, sind den Klägern zuzurechnen, auch wenn die vom Kläger zu 2) unterschriebene Erklärungsniederschrift nicht wörtlich übersetzt worden ist. Der Zeuge Q hat gegenüber der Kammer eingeräumt, gegenüber dem Beklagten für die Kläger angegeben zu haben, dass die Einreise der Kläger aus ökonomischen Gründen erfolgt sei. Dass er sich bezüglich dieser Äußerung nicht bei den Klägern vergewissern musste, lag nach seinen Angaben daran, dass im Vorfeld ausreichend über die Gründe des Umzugs nach Deutschland gesprochen wurde und er damit die Beweggründe der Kläger für ihren Umzug kannte. Zudem hat der Zeuge Q gegenüber der Kammer erklärt, dass er den Klägern in mehreren Gesprächen, die er mit ihnen vor dem Umzug nach Deutschland geführt hat, auch über die Möglichkeit der Beantragung von Leistungen nach dem SGB II aufgeklärt hat. Schließlich wird an der Aussage des Zeugen Q, der offensichtlich mit den Klägern vor ihrem Umzug nach Deutschland im regelmäßigen Austausch stand, deutlich, dass die wirtschaftliche Situation der Kläger im Vordergrund stand und sie nach Deutschland gekommen sind, um hier ein "besseres Leben" zu führen. Auch wenn der Zeuge Q angegeben hat, dass er mit den Klägern nicht besprochen habe, dass sie nach Deutschland kommen sollen, um von Sozialleistungen zu leben, geht aus seinen Angaben hervor, dass sich die Kläger vor ihrer Einreise nach Deutschland über den Bezug von Leistungen informiert haben und er sie sogar auf die Möglichkeit des aufstockenden Leistungsbezuges aufgeklärt hat. Das deckt sich mit der Einlassung der Kläger, wonach sie sich dessen bewusst gewesen waren, dass sie auf die Inanspruchnahme von Sozialleistungen angewiesen waren.

Bestätigt fühlt sich die Kammer zudem durch den Umstand, dass insbesondere die Klägerin zu 1) seit ihrer Einreise im Oktober 2015 kaum Deutschkenntnisse erworben hat, obwohl sie nach ihren eigenen Angaben sich als Deutsche fühle und ihr Land kommen wollte. Die von der Klägerin zu 1) erlangte deutsche Staatsbürgerschaft stellt aus Sicht der Kammer lediglich eine untergeordnete Rolle dar und ermöglichte den Klägern und ihren Kindern lediglich die Einreise und den Verbleib in der Bundesrepublik, ohne dass sie sich auf ihr Freizügigkeitsrecht nach § 2 Freizügigkeitsgesetz/EU berufen mussten.

Ein wichtiger Grund für das Verhalten der Kläger hat nicht vorgelegen. Den Klägern wäre es nach Auffassung der Kammer zuzumuten gewesen, sich in Polen zunächst um den Erwerb von Deutschkenntnissen zu bemühen und anschließend von dort aus einen Arbeitsplatz in Deutschland zu suchen. Solche Bemühungen haben die Kläger weder im Hinblick auf das Erlernen der deutschen Sprache noch im Hinblick auf die Arbeitsplatzsuche in Deutschland – auch nach eigenen Angaben – nicht im Ansatz unternommen.

Die Kläger handelten zur Überzeugung der Kammer auch zumindest grob fahrlässig. Grob fahrlässig handelt derjenige, der die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Es muss sich einem Hilfebedürftigen aufdrängen, dass sein Verhalten Hilfebedürftigkeit verursacht oder perpetuieren wird (vgl. LSG NRW, Urteil vom 22.04.2013, Az.: L 19 AS 1303/12). Die Kläger haben im Termin zur Erörterung des Sachverhaltes vom 23.06.2016 gegenüber dem Gericht eingeräumt, dass sie die von dem Beklagten gewährten Leistungen für ihren Neustart in Deutschland benötigten. Zudem haben die Kläger mit Schriftsatz vom 16.12.2015 über ihren damaligen Prozessbevollmächtigten vortragen lassen, dass sie nach Deutschland eingereist seien, "in dem Bewusstsein, dass sie nicht von jetzt auf gleich einen Arbeitsplatz finden werden und somit auf die Inanspruchnahme von Leistungen angewiesen sind".

Von der Geltendmachung des Ersatzanspruches ist auch nicht wegen einer Härte abzusehen. Nach § 34 Abs. 1 S. 3 SGB II a.F. ist von der Geltendmachung abzusehen, soweit sie eine Härte bedeuten würde. Allein die finanzielle Belastung, die durch den Ersatzanspruch entsteht, begründet keine Härte und somit keinen Grund zum Absehen von der Geltendmachung (vgl. Schwitzky, in: LPK-SGB II, 6. Aufl. 2017, § 34 Rn. 26). Eine Härte i.S.d. § 34 SGB II a.F. ist für die Kammer nicht ersichtlich und auch nicht vorgetragen.

Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 183, 193 SGG.

Rechtsmittelbelehrung:

Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden.

Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beim

Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Zweigertstraße 54, 45130 Essen,

schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem

Sozialgericht Gelsenkirchen, Bochumer Str. 79, 45886 Gelsenkirchen,

schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.

Die Berufungsschrift muss bis zum Ablauf der Frist bei einem der vorgenannten Gerichte eingegangen sein. Sie soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

Die Einreichung in elektronischer Form erfolgt durch die Übertragung des elektronischen Dokuments in die elektronische Poststelle. Diese ist über die Internetseite www.sg-gelsenkirchen.nrw.de erreichbar. Die elektronische Form wird nur gewahrt durch eine qualifiziert signierte Datei, die den Maßgaben der Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr bei den Sozialgerichten im Lande Nordrhein-Westfalen (ERVVO SG) vom 07.11.2012 (GV.NRW, 551) entspricht. Hierzu sind die elektronischen Dokumente mit einer qualifizierten Signatur nach § 2 Nummer 3 des Signaturgesetzes vom 16.05.2001 (BGBl. I, 876) in der jeweils geltenden Fassung zu versehen. Die qualifizierte elektronische Signatur und das ihr zugrunde liegende Zertifikat müssen durch das Gericht überprüfbar sein. Auf der Internetseite www.justiz.nrw.de sind die Bearbeitungsvoraussetzungen bekanntgegeben.

Zusätzlich wird darauf hingewiesen, dass einem Beteiligten auf seinen Antrag für das Verfahren vor dem Landessozialgericht unter bestimmten Voraussetzungen Prozesskostenhilfe bewilligt werden kann.

Gegen das Urteil steht den Beteiligten die Revision zum Bundessozialgericht unter Übergehung der Berufungsinstanz zu, wenn der Gegner schriftlich zustimmt und wenn sie von dem Sozialgericht auf Antrag durch Beschluss zugelassen wird. Der Antrag auf Zulassung der Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Sozialgericht Gelsenkirchen schriftlich zu stellen. Die Zustimmung des Gegners ist dem Antrag beizufügen.

Lehnt das Sozialgericht den Antrag auf Zulassung der Revision durch Beschluss ab, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Berufungsfrist von neuem, sofern der Antrag auf Zulassung der Revision in der gesetzlichen Form und Frist gestellt und die Zustimmungserklärung des Gegners beigefügt war.

Die Einlegung der Revision und die Zustimmung des Gegners gelten als Verzicht auf die Berufung, wenn das Sozialgericht die Revision zugelassen hat.
Rechtskraft
Aus
Saved