L 18 AL 18/18

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
18
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 58 AL 1508/15
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AL 18/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialge-richts Berlin vom 29. Dezember 2017 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu er-statten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Zahlung von Insolvenzgeld (Insg) für die Zeit vom 1. April bis 30. Juni 2014.

Der am 18. August 1975 geborene Kläger beantragte am 2. Januar 2015 bei der Be-klagten Insg. Er war bis zur arbeitgeberseitigen Kündigung zum 30. Juni 2014 als Mitarbeiter im Bereich Treasury bei der von B aus agierenden Betriebsstätte der in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) ansässigen S einem Solarmodulher-steller (nachfolgend S), nach einem Teilbetriebsübergang im Oktober 2013 – frühe-rer Arbeitgeber war die S E GmbH - im Rahmen einer 40- Stunden-Woche mit einem Bruttoeinkommen von zuletzt 4.200,- EUR im Monat beschäftigt, das ihm seit April 2014 nicht mehr ausgezahlt worden war.

Die beim Arbeitsgericht Berlin erhobene Kündigungsschutzklage nahm der Kläger wegen des Antritts einer neuen Beschäftigung zum 1. Juli 2014 zurück. Das Ar-beitsgericht verurteilte die S mit rechtskräftig gewordenem Anerkenntnisurteil vom 8. Oktober 2014 zur Zahlung ausstehenden Arbeitslohnes und von Boni (insgesamt 23.850,- EUR.

Mit Bescheid vom 8. Januar 2015 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10. April 2015 lehnte die Beklagte den Insg-Antrag mit der Begründung ab, ein In-solvenzereignis sei nicht feststellbar; die mit Hauptsitz in den VAE firmierende S habe keinen Insolvenzantrag gestellt, noch sei Masselosigkeit gegeben, so dass es auch für die unselbständige Zweigniederlassung in B trotz Einstellung der inländi-schen Betriebstätigkeit am Merkmal der offensichtlichen Masselosigkeit fehle.

Im Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) Berlin eine Auskunft des früheren Geschäftsführers der S GmbH R G eingeholt. Dieser hat mit Schreiben vom 6. Juni 2016 mitgeteilt, S stelle in F (VAE) Photovoltaikmodule her. Aktuelle Informationen über Jahresabschlüsse oder ähnliches lägen ihm nicht vor. Der Kläger hat vorge-tragen, dass die Vollstreckung aus dem Anerkenntnisurteil nicht möglich sei und die Zweigniederlassung hohe Schulden beim Finanzamt habe. Maßgebend hin-sichtlich der S seien die Verhältnisse der inländischen Betriebsstätte; andernfalls seien Arbeitnehmer, die beim Unternehmen tätig seien, dessen Mutterkonzern gar nicht insolvenzfähig sei, willkürlich benachteiligt.

Das SG hat mit Gerichtsbescheid vom 29. Dezember 2017 die Klage abgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt: Die zulässige Klage sei nicht begründet. Der Kläger habe mangels eines Insolvenzereignisses keinen Anspruch auf Insg. Es stehe zwar fest, dass der Kläger noch offene Entgeltansprüche in der Zeit vom 1. April 2014 bis 30. Juni 2014 habe, allerdings trete die Insg-Versicherung der §§ 162 ff Sozialge-setzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III) nur bei Zahlungsunfähigkeit und nicht bei Zahlungsunwilligkeit ein. Von Zahlungsunwilligkeit müsse hier ausgegangen wer-den, denn es komme auf die Situation des Mutterkonzernes an. Dass die in den VAE ansässige SOLON "offensichtlich" zahlungsunfähig sei, könne auch bei groß-zügiger Auslegung des Merkmals der Offensichtlichkeit nicht festgestellt werden. Die S sei auch nach dem 30. Juni 2014 international durchgehend tätig gewesen. Ob überhaupt eine Betriebstätigkeit im Inland iSd § 165 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB III ausgeübt worden sei, könne daher offen bleiben.

Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter und trägt ergänzend vor: Das Tatbestandsmerkmal des § 165 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB III sei dann erfüllt, wenn Tatsachen festgestellt würden, die regelmäßig den Schluss zuließen, dass der Arbeitgeber insolvent geworden sei. Abzustellen sei hierbei auf äußere Tatsa-chen, die bei einem unvoreingenommenen Betrachter den Eindruck auszulösen vermögen, dass die Zahlungsfähigkeit nicht mehr gegeben sei. So liege der Fall hier, da nach Mitteilung über die Einstellung der Geschäftstätigkeit im Inland keiner-lei Arbeitsentgelte mehr gezahlt worden seien. Auch die Tatsache, dass neben den durch den Kläger geltend gemachten Ansprüchen auch weitere ehemalige Arbeit-nehmer der SOLON die Zahlung von Insg beantragt hätten, müsse als Indiz für die offensichtliche Zahlungsunfähigkeit angesehen werden.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 29. Dezember 2017 so-wie den Bescheid der Beklagten vom 8. Januar 2015 in der Gestalt des Wi-derspruchsbescheides vom 10. April 2015 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Insolvenzgeld für die Zeit vom 1. April 2014 bis 30. Juni 2014 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt den angegriffenen Gerichtsbescheid.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf deren vorbereitende Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen. Die Gerichtsakte und die Verwal-tungsakten der Beklagten haben vorgelegen und sind, soweit erforderlich, Gegen-stand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Insg gemäß § 165 Abs. 1 SGB III für die Zeit vom 1. April bis 30. Juni 2014.

Nach dieser Vorschrift haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Anspruch auf Insg, wenn sie im Inland beschäftigt waren und ein Insolvenzereignis für die vo-rausgegangenen drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Ar-beitsentgelt haben. Als Insolvenzereignis gilt die Eröffnung des Insolvenzverfah-rens über das Vermögen des Arbeitgebers (Nr 1), die Abweisung des Antrages auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse (Nr 2) oder die vollständige Be-endigung der Betriebstätigkeit im Inland, wenn ein Antrag auf Eröffnung des Insol-venzverfahrens nicht gestellt worden ist und ein Insolvenzverfahrens offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht kommt (Nr 3). Auch bei einem ausländischen In-solvenzereignis haben im Inland beschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer einen Anspruch auf Insg. Die Voraussetzungen eines Insolvenzereignis nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 SGB III liegen nicht vor, weil über das Vermögen der früheren Arbeitgeberin des Klägers ein Insolvenzverfahren nicht eröffnet und ein Insolvenzantrag auch nicht mangels Masse abgewiesen worden ist. Ebenso wenig ist ein ausländisches Insolvenzereignis gegeben (vgl § 165 Abs. 1 Satz 3 SGB III). Anders als der Kläger geltend macht, liegen auch die Voraussetzungen für ein – hier einzig in Betracht zu ziehendes - Insolvenzereignis nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB III nicht vor.

Der Kläger war zwar im Sinne von § 165 Abs. 1 Satz 1 SGB III im arbeitsförderungs-rechtlichen Sinn im Inland (B) sozialversicherungspflichtig beschäftigt, weil er seine Arbeitsleistung in B auch nach dem stattgefundenen Teilbetriebsübergang auf die S zu erbringen hatte. Voraussetzung eines Insolvenzereignisses nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB III ist aber darüber hinaus die vollständige Beendigung der Be-triebstätigkeit im Inland, mithin im Geltungsbereich dieses Gesetzes sowie, neben dem fehlenden Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens, die offensichtliche Masselosigkeit. Das Ende der betrieblichen Tätigkeit im Inland setzt voraus, dass ein Betrieb zuvor als eine Gesamtheit von Personen und Sachen zur Erreichung ar-beitstechnischer Zwecke gleichsam als Mittelpunkt des wirtschaftlichen Betäti-gungsfeldes des Arbeitgebers, im Inland organisiert war (vgl hierzu BSG, Urteil vom 8. Februar 2011 – B 11 AL 30/00 R – juris - Rn 17). Ob vorliegend bis 30. Juni 2014 im Inland ein Betrieb als eine Gesamtheit von Personen und Sachen zur Errei-chung arbeitstechnischer Zwecke gleichsam als Mittelpunkt des wirtschaftlichen Betätigungsfeldes des Arbeitgebers im Inland organisiert war (vgl BSG aaO mwN), kann indes dahinstehen. Denn die weitere Voraussetzung, dass ein Insolvenzver-fahren offensichtlich mangels Masse bei der S nicht in Betracht kam, liegt zur Über-zeugung des Senats nicht vor.

Für eine positive Beantwortung der Frage, ob zum Zeitpunkt der Betriebseinstellung die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens offensichtlich mangels Masse nicht in Be-tracht kam, genügt es, wenn alle äußeren Tatsachen und insofern der Anschein für eine Masseunzulänglichkeit gesprochen haben. Es muss insoweit nicht letzte Klar-heit darüber bestehen, ob eine den Kosten des Insolvenzverfahrens entsprechende Masse vorhanden ist oder nicht. Maßgeblich ist, ob sich aus äußeren Tatsachen für einen unvoreingenommenen Betrachter der Eindruck ergibt, dass ein Insolvenzver-fahren mangels Masse nicht in Betracht kommt (vgl Urteil des Senats vom 21. Au-gust 2019 – L 18 AL 208/17 – juris - Rn 23 mwN). Die Masselosigkeit muss dabei vor oder gleichzeitig mit der vollständigen Beendigung der Betriebstätigkeit eintreten; eine spätere Masselosigkeit ist nicht ausreichend (vgl BSG, Urteil vom 4. März 1999 – B 11/10 AL 3/98 R – juris). Dies kann der Fall sein, wenn unter Hinweis auf die Zahlungsunfähigkeit kein Arbeitsentgelt mehr gezahlt, die Betriebstätigkeit einge-stellt und kein Insolvenzantrag gestellt wird (vgl BSG, Urteil vom 23. November 1981 – 10/8b RAr 6/80 – juris). Weitere Indizien können in zahlreichen arbeitsgerichtli-chen Versäumnisurteilen auf Lohnzahlung, erfolglos gebliebenen Zwangsvollstre-ckungen, eidesstattlichen Versicherungen oder einer Nichtabführung von Sozial-versicherungsbeiträgen gesehen werden. Dass ein Arbeitgeber Schulden in großer Höhe gemacht und sich abgesetzt hat, ohne sie zu begleichen, ist dagegen allein kein Grund für die Annahme einer offensichtlichen Masselosigkeit, da zwischen Zahlungsunwilligkeit und Zahlungsunfähigkeit zu unterscheiden ist (vgl BSG, Ur-teil vom 22. September 1993 – 10 RAr 9/91 – juris - Rn 27). Allein aus einer Zah-lungsunwilligkeit kann nicht auf eine offensichtliche Masselosigkeit geschlossen werden (BSG aaO). Kann nicht festgestellt werden, ob Zahlungsunfähigkeit oder Zahlungsunwilligkeit vorlagen, geht die Ungewissheit zu Lasten des Insg-Antragstellers. Auch ein etwaiger Hinweis auf § 17 Abs. 2 Satz 2 der Insolvenzord-nung ist insofern nicht weiterführend, weil eine gesetzliche Regelvermutung der Zahlungsunfähigkeit bei Zahlungseinstellung nicht besagt, dass damit auch die Kosten für die Durchführung des Insolvenzverfahrens nicht mehr vorhanden wa-ren. Indes sind Anhaltspunkte dafür, dass die Arbeitgeberin, mithin die SOLON – und nicht lediglich der in Berlin vormals betriebene Betriebsteil, wie der Kläger meint – zahlungsunfähig geworden war, nicht im Kern vorhanden. Vielmehr exis-tierte und produzierte die S in den VAE – wie der frühere Geschäftsführer der S GmbH G (nunmehr für die auch in Deutschland aktive und in V ansässige S S auf-tretend) noch im Juni 2016 bestätigt hat - als weltweit agierendes Unternehmen – börsennotiert – weiter und hat lediglich die Betriebsstätten in B eingestellt bzw das Vermögen aus den Betriebsteilen herausgezogen und diese, soweit rechtlich mög-lich, in die Insolvenz geschickt. "Offensichtlich" meint zwar insofern nicht zweifels-frei, sondern es reicht der sich aus den äußeren Tatsachen ergebende Eindruck eines unvoreingenommenen Betrachters aus (vgl BSG, Urteil vom 4. März 1999 – B 11/10 AL 3/98 R – juris). Ein solcher besteht hier jedoch gerade nicht. Offensichtli-che Zahlungsunwilligkeit eines ausländischen Arbeitgebers ist, wie ausgeführt, nicht mit dem äußeren Anschein nach eingetretener Zahlungsunfähigkeit gleich-zusetzen (vgl BSG, Urteil vom 22. September 1993 – 10 RAr 9/91 – Rn 27). Die vom Kläger geltend gemachte Nichterfüllung von Forderungen verbunden mit dem voll-ständigen Rückzug des Arbeitgebers ins Ausland genügt, nachdem die jedenfalls noch im November 2018 ( wirtschaftlich weltweit aktiv war, nicht; ausreichende An-haltspunkte für eine Masselosigkeit ist bei dieser Sachlage nicht gegeben, ohne dass sich der Senat zu weiteren Ermittlungen von Amts wegen gedrängt zu sehen hätte (vgl § 103 SGG).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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