L 6 P 18/19

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 31 P 103/16
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 P 18/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 3 P 6/20 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Treten die Voraussetzungen einer Pflegestufe nach den Kriterien des alten Pflegeversicherungsrechts erst nach Außerkrafttreten dieses Rechts am 31. Dezember 2016 ein, ist die Überleitungsbestimmung des § 140 Abs. 2 SGB XI weder direkt noch analog anwendbar.

2. Ein nach altem Pflegeversicherungsrecht gestellter und bis zum 31. Dezember 2016 unbegründeter Antrag, über den noch nicht bestandskräftig entschieden ist, ist von der Verwaltung und den Gerichten nicht als Antrag nach neuem Recht zu behandeln.
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 8. März 2019 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander Kosten für das Verfahren in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten noch über einen Anspruch der Klägerin auf Pflegegeld gemäß dem Sozialgesetzbuch Elftes Buch – Soziale Pflegeversicherung (SGB XI) nach dem Pflegegrad 2 ab 10. Oktober 2017.

Die 1936 geborene Klägerin ist bei der Beklagten in der sozialen Pflegeversicherung pflichtversichert. Bei ihr sind ein Grad der Behinderung von 100 sowie die Merkzeichen B und G anerkannt.

Die Klägerin beantragte, vertreten durch ihren Bevollmächtigten, den 1929 geborenen Herrn C. C., am 12. Oktober 2015 ambulante/teilstationäre Leistungen in Form von Pflegegeld. Als private Pflegeperson wurde Herr C. angegeben, an den mit Antragstellung der Anspruch auf Pflegegeld unter dem Datum 17. Oktober 2015 abgetreten wurde.

Begutachtungen durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Hessen (MDK) am 6. November 2015, 18. Januar 2016 und 22. Februar 2016 scheiterten, weil sich die Klägerin in einer Rehabilitationsmaßnahme befand (Verwaltungsakte [VA] Bl. 23, 27, 31).

Am 4. April 2016 wurde die Klägerin vom MDK in ihrer häuslichen Umgebung begutachtet. Als pflegebegründende Diagnosen hielt der MDK fest: Hirninfarkt, Störungen des Ganges und der Mobilität bei rückläufiger Hemischwäche rechts. Eine eingeschränkte Alltagskompetenz liege nicht vor.

Der MDK kam zu dem Ergebnis, dass der Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege täglich 29 Minuten betrage. Für die hauswirtschaftliche Versorgung sei ein Zeitaufwand von 77 Minuten täglich anzusetzen (VA Bl. 44 R).

Mit Bescheid vom 6. April 2016 lehnte die Beklagte den Antrag auf Pflegeversicherungsleistungen ab. Zur Begründung führte sie aus, dass derzeit keine Pflegestufe bei der Klägerin vorliege. Der Zeitaufwand für die Grundpflege und die hauswirtschaftliche Versorgung müsse bei einer Pflege durch einen Familienangehörigen oder eine andere Person, die keine ausgebildete Pflegekraft ist, für die Pflegestufe I mindestens 90 Minuten täglich betragen, wobei hierbei auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen müssten.

Dagegen legte die Klägerin am 14. April 2016 Widerspruch ein. Zur Begründung führte sie aus, sie könne ihr Gesicht, Hals und Brust nur sehr eingeschränkt selbständig waschen. Die rechte Hand sei nicht einsetzbar, mit der linken Hand sei es für sie als Rechtshänderin sehr schwierig. Ihr falle ständig die Seife aus der Hand, so dass sie mindestens 30 Minuten ohne Zähneputzen und Kämmen benötige. Daher benötige sie Hilfe in Form der vollständigen Übernahme bei der Ganzkörperpflege. Für das Waschen des Oberkörpers und des Unterkörpers benötige sie Hilfe in Form einer Teilübernahme. Die Zahnpflege könne Sie mit der rechten Hand überhaupt nicht durchführen, mit der linken Hand sei es auch nicht einfach. Beim An- und Auskleiden sei mehr als eine Teilübernahme erforderlich, denn sie könne weder Knöpfe noch einen Reißverschluss schließen oder öffnen. Jacken könne sie ohne fremde Hilfe auch nicht anziehen. Beim Treppensteigen benötige sie volle Unterstützung, sie könne zwar alleine laufen, sich aber mit der rechten Hand nicht am Handlauf festhalten.

Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens wurde am 6. Juni 2016 eine erneute häusliche Begutachtung durch den MDK vorgenommen. In dem Gutachten vom 9. Juni 2016 hielt der MDK fest, der Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege liege bei 35 Minuten pro Tag. Im Übrigen bestätigte der MDK das Vorgutachten und führte aus, dass die Voraussetzungen der Pflegestufe I nicht erfüllt seien (VA Bl. 69).

Daraufhin wies die Beklagte den von der Klägerin aufrechterhaltenen Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 20. Oktober 2016 zurück. Zur Begründung führte sie aus, der gesetzlich vorgesehene Hilfebedarf für die Pflegestufe I von mehr als 45 Minuten täglich im Bereich der Grundpflege werde nicht erreicht.

Dagegen hat die Klägerin am 24. November 2016 Klage vor dem Sozialgericht Darmstadt erhoben und im Wesentlichen vorgetragen, der Pflegeaufwand sei deutlich höher als vom MDK angenommen. Die Störungen des Ganges und der Mobilität nach dem Hirninfarkt sowie die Parese des rechten Armes und der rechten Hand seien als pflegeerschwerende Faktoren zu berücksichtigen.

Das Gericht hat Befundberichte bei Dr. D. (Gerichtsakte [GA] Bl. 56-59) und Dr. E. (Bl. 30-52 der Gerichtsakte) eingeholt. Beide Ärzte haben in ihren Befundberichten vom 22. Mai 2017 und 30. Juni 2017 keine Angaben zum zeitlichen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege machen können. Die Klägerin hat weiter einen Bericht das Klinikums Darmstadt vom 20. Oktober 2017 übersandt (GA Bl. 107-112). Diesem ist zu entnehmen, dass sich die Klägerin am 17. Oktober 2017 im Klinikum Darmstadt vorstellte, da ihr eine Armschwäche links aufgefallen sei. Es wurde ein winziger subakuter ischämischer Schlaganfall im Mediastromgebiet rechts festgestellt. Die Klägerin wurde am 20. Oktober 2017 aus der stationären Behandlung entlassen. Des Weiteren hat die Klägerin einen Bericht des Zentralinstituts für seelische Gesundheit in Mannheim vom 10. Oktober 2017 übersandt (GA Bl. 87-91). Ausweislich des Berichts besteht eine leichte bis allenfalls mittelgradige Einschränkung der kognitiven Leistungsfähigkeit im Sinne einer beginnenden demenziellen Entwicklung.

Ein vom Amts wegen eingeholtes Gutachten des Facharztes für Allgemeinmedizin und Physikalische und rehabilitative Medizin Dr. F. vom 7. Dezember 2017 ist nach Begutachtung der Klägerin in häuslicher Umgebung am 30. November 2017 zu dem Ergebnis gekommen, dass für die Grundpflege ein Zeitaufwand von 91 Minuten und für die hauswirtschaftliche Versorgung von 60 Minuten täglich anzusetzen sei (VA Bl. 143). Der Sachverständige hat festgehalten, im Bereich der rechten oberen Extremität zeige sich eine mittelgradige Einschränkung der Gebrauchsfähigkeit als Folge des Schlaganfalles. Neben der Bewegungseinschränkung sei vor allem die Störung der Feinmotorik der rechten Hand von Bedeutung. An der linken oberen Extremität zeige sich bei der jetzigen Begutachtung eine deutliche Einschränkung der Bewegungsfähigkeit im Bereich des Schultergelenkes, welche als Folge einer Verschleißerscheinung im Schultergelenk zu interpretieren sei. Er hat für den Bereich der Körperpflege einen Hilfebedarf von 55 Minuten täglich, für den Bereich der Ernährung einen Hilfebedarf von 5 Minuten täglich und für den Bereich der Mobilität einen Hilfebedarf von 31 Minuten täglich und damit einen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von 91 Minuten täglich festgehalten. Hierbei hat er im Bereich der Mobilität 12 Minuten täglich für das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung für die Wahrnehmung von Krankengymnastik und Ergotherapie, zu der die Klägerin gebracht und wieder abgeholt werde, berücksichtigt. Für die hauswirtschaftliche Versorgung hat der Sachverständige einen Hilfebedarf von 60 Minuten täglich festgehalten. Retrospektiv werde der Einschätzung den Gutachten des MDK zugestimmt. Es habe sich wahrscheinlich eine kontinuierliche Veränderung eingestellt. Etwa ab Oktober 2017 sei die Funktionsstörung im Bereich der linken oberen Extremität doch sehr deutlich. Ab etwa Oktober 2017 sei der Hilfebedarf, wie er jetzt beschrieben werde, in Ansatz zu bringen (VA Bl. 153). Der Sachverständige hat weiter ausgeführt, es sei noch zu überprüfen, ob tatsächlich während des gesamten streitgegenständlichen Zeitraums physiotherapeutische Behandlungen in regelmäßiger Frequenz durchgeführt worden seien. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf Bl. 113-175 der Gerichtsakte verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf Bl. 214-215 der Gerichtsakte verwiesen.

Nachdem das vom Sozialgericht in Auftrag gegeben Sachverständigengutachten der Beklagten mit gerichtlichem Schreiben vom 8. Dezember 2017 zugeleitet hatte, hat diese mit Schriftsatz vom 24. Januar 2018 (GA Bl. 188) auf die Möglichkeit, einen Neuantrag zu stellen, damit der MDK entsprechend der aktuellen Gesetzeslage eine Pflegegutachten erstellen könne, hingewiesen. Die ab dem 1. Januar 2017 geltenden neuen Kriterien für die Feststellung von Pflegbedürftigkeit wichen stark von den bisherigen Maßstäben ab, so dass eine pauschale Überleitung wie bei den bereits bestätigten Pflegfällen vor dem 1. Januar 2017 ausscheide.

Das Sozialgericht hat weitere Ermittlungen eingeleitet und die beiden von der Klägerin angegebenen Physiotherapeuten angeschrieben. Die GX., Praxis für Physiotherapie, G. G., in G-Stadt, hat mit Schreiben vom 16. April 2018 mitgeteilt, dass die Klägerin im Rahmen von sechs ärztlichen Verordnungen in der Praxis behandelt worden sei, die erste Verordnung datiere auf den 7. Juni 2016, die letzte auf den 6. Februar 2017. Die Praxis für Physiotherapie im HX., H. H., in A-Stadt, hat am 21. Februar 2018 und am 4. März 2019 mitgeteilt, dass die Klägerin vom 10. Oktober 2017 bis 24. Januar 2018 und vom 28. Februar 2018 bis 25. Juli 2018 bei ihr in Behandlung gewesen sei. Im Zeitraum zwischen dem 5. März 2018 und 2. Mai 2018 seien keine Behandlungen erfolgt.

In einer ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen Dr. F. vom 5. Juli 2018 hat dieser mitgeteilt, dass die regelmäßige Durchführung physiotherapeutischer Behandlung gemäß der beigefügten Belege ab Oktober 2017 in Ansatz zu bringen sei.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht Darmstadt hat die Klägerin nach einem rechtlichen Hinweis des Gerichts die Klage für den Zeitraum Oktober 2015 bis 9. Oktober 2017 zurückgenommen. Im Übrigen hat sie beantragt, den Bescheid vom 6. April 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Oktober 2016 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Leistungen nach der Pflegestufe I bzw. nach dem Pflegegrad 2 in Form von Pflegegeld seit 10. Oktober 2017 zu gewähren.

Die Beklagte hat zur Begründung ihres Antrages auf Abweisung der Klage ausgeführt, die Voraussetzungen der Pflegestufe I seien zeitlich erst nach dem 31. Dezember 2016 eingetreten. Ein Rückschluss vom Vorliegen der Pflegestufe I auf das Vorliegen des Pflegegrades 2 sei nicht zulässig. Die Überleitungsregelung nach § 140 SGB XI sei vorliegend nicht anwendbar. Der Gesetzeswortlaut regele eindeutig, dass die Überleitung der Pflegestufe I in den Pflegegrad 2 das Vorliegen der Voraussetzungen für eine regelmäßige wiederkehrende Leistung der Pflegeversicherung vor dem 31. Dezember 2016 voraussetze (§ 140 Abs. 2 Nr. 2 SGB XI). Diese Voraussetzungen erfülle die Klägerin nicht, da die Voraussetzungen für eine regelmäßige wiederkehrende Leistung der Pflegeversicherung erst für Oktober 2017 bestätigt worden seien. Der Sachverständige Dr. F. mache für die Feststellungen der Voraussetzungen der Pflegestufe I ausdrücklich eine Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse verantwortlich, für die eine Bewertung nach neuem Recht erforderlich sei, da sie nach dem 1. Januar 2017 eingetreten seien. Die Geltendmachung einer Veränderung habe nur durch einen Neuantrag außerhalb des gerichtlichen Verfahrens erfolgen können.

Das Sozialgericht hat der Klage mit Urteil vom 8. März 2019 stattgegeben und die Beklagte unter Aufhebung der angegriffenen Bescheide verurteilt, der Klägerin Leistungen in Form von Pflegegeld nach dem Pflegegrad 2 seit 10. Oktober 2017 zu gewähren.

Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klage sei zulässig. Sie sei insbesondere als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach §§ 54 Abs. 4, 56 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Die Beschränkung auf den Zeitraum ab 10. Oktober 2017 sei gemäß § 99 Abs. 3 Nr. 2 SGG zulässig.

Die Klage sei auch begründet. Der Bescheid vom 6. April 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Oktober 2016 sei rechtswidrig und verletze die Klägerin in ihren Rechten aus § 54 Abs. 2 SGG. Die Klägerin habe einen Anspruch auf Pflegeversicherungsleistungen nach dem Pflegegrad 2 in Form von Pflegegeld ab dem 10. Oktober 2017 aus §§ 33 Abs. 1 Satz 2, 37 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI i.V.m. § 140 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1a SGB XI analog in der am 1. Januar 2017 geltenden Fassung.

Zur Überzeugung der Kammer lägen bei der Klägerin seit dem 10. Oktober 2017 die Voraussetzungen der Pflegestufe I nach §§ 14 Abs. 1, 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XI in der bis zum 31. Dezember 2016 geltenden Fassung vor. Für die Feststellung, ob bei der Klägerin eine erhebliche Pflegebedürftigkeit vorliegt, sei gemäß § 140 Abs. 1 Satz 1 SGB XI die bis zum 31. Dezember 2016 geltende Rechtslage anzuwenden. Danach erfolge die Feststellung des Vorliegens von Pflegebedürftigkeit oder einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz nach § 45a in der am 31. Dezember 2016 geltenden Fassung jeweils auf der Grundlage des zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Rechts. Da die Klägerin den Antrag auf Pflegeleistungen bereits im Oktober 2015 gestellt habe, sei im vorliegenden Verfahren zur Beurteilung der Pflegebedürftigkeit die bis zum 31. Dezember 2016 geltende Rechtslage maßgeblich. Dieser Grundsatz umfasse das gesamte Verfahren von der Antragstellung über die Begutachtung bis zum Erlass des Leistungsbescheides und gelte damit auch für nachfolgende Widerspruchs- und sozialgerichtliche Verfahren (unter Hinweis auf jurisPK-Meßling, SGB XI, 2. Auflage 2017, § 140, Rn. 17; Heitmann/Plantholz in LPK-SGB XI, 5. Auflage 2017, § 140, Rn. 5).

Die Kammer schließe sich vorliegend den überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen Dr. F. an, wonach ab Oktober 2017 ein Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von mehr als 45 Minuten täglich vorgelegen habe. Dr. F. habe bei der Klägerin seit Oktober 2017 einen Hilfebedarf von 91 Minuten täglich festgehalten, wobei er im Bereich der Mobilität für die Hin- und Rückfahrt zur Physiotherapie 12 Minuten täglich berücksichtigt habe. Nach Ansicht der Kammer seien diese 12 Minuten nicht zu berücksichtigen, da die physiotherapeutische Behandlung ab dem 5. März 2018 für etwa zwei Monate unterbrochen worden sei. Das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung könne nur berücksichtigt werden, wenn die entsprechenden Arzttermine oder physiotherapeutischen Behandlungen regelmäßig, d. h. mindestens einmal wöchentlich, und auf Dauer, d. h. mindestens voraussichtlich für sechs Monate ohne Unterbrechungen, stattfinden (vgl. Begutachtungsrichtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit, Stand 2009, Teil D, Ziffer 4.3.15, Seite 73). Da dies vorliegend aufgrund der zweimonatigen Unterbrechung der Physiotherapie nicht der Fall gewesen sei, sei bei der Klägerin seit Oktober 2017 ein Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von 79 Minuten täglich zu berücksichtigen. Ziehe man den Befundbericht des Zentralinstituts für seelische Gesundheit in Mannheim vom 10. Oktober 2017 heran, so werde deutlich, dass bei der Klägerin ab dem 10. Oktober 2017 eine demenzielle Entwicklung belegt sei. Dieser Zeitpunkt erscheine der Kammer zutreffend, um den von dem Sachverständigen Dr. F. mit Oktober 2017 etwas ungenau angegebenen Leistungsbeginn genauer festzulegen. Im Übrigen sei auch zwischen den Beteiligten unstreitig, dass die Voraussetzungen einer erheblichen Pflegebedürftigkeit nach der Pflegestufe I ab dem 10. Oktober 2017 vorgelegen haben.

Entgegen der Auffassung der Beklagten sei eine Überleitung der Klägerin in den Pflegegrad 2 zum 10. Oktober 2017 rechtlich möglich und zulässig. Die Überleitungsvorschrift des § 140 Abs. 2 Satz 1, 2 SGB XI laute:

"Versicherte der sozialen Pflegeversicherung und der privaten Pflege-Pflichtversicherung,

1. bei denen das Vorliegen einer Pflegestufe im Sinne der §§ 14 und 15 in der am 31. Dezember 2016 geltenden Fassung oder einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz nach § 45a in der am 31. Dezember 2016 geltenden Fassung festgestellt worden ist und
2. bei denen spätestens am 31. Dezember 2016 alle Voraussetzungen für einen Anspruch auf eine regelmäßig wiederkehrende Leistung der Pflegeversicherung vorliegen, werden mit Wirkung ab dem 1. Januar 2017 ohne erneute Antragstellung und ohne erneute Begutachtung nach Maßgabe von Satz 3 einem Pflegegrad zugeordnet. Die Zuordnung ist dem Versicherten schriftlich mitzuteilen."

Dem Wortlaut nach richte sich § 140 Abs. 2 Satz 1, 2 SGB XI eindeutig an die Verwaltung und nicht an die Gerichte. Dennoch müsse es möglich sein, in einem sozialgerichtlichen Verfahren in entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 Satz 3 SGB XI eine Überleitung von einer Pflegestufe in einen Pflegegrad vorzunehmen, da anderenfalls eine unzumutbare Benachteiligung der Klägerin eintreten würde. Würde man sich der Ansicht der Beklagten anschließen, so bliebe der Klägerin letztlich nur die Möglichkeit, nach Abschluss des gerichtlichen Verfahrens einen Neuantrag bei der Beklagten zu stellen. Hinzu komme, dass sich die Beklagte geweigert habe, einen etwaigen Neuantrag auf den 1. Januar 2017 rückzudatieren. Leistungsansprüche im Zeitraum vor dem Neuantrag wären für die Klägerin so komplett verloren.

Der Gesetzgeber habe durch die Einführung des Überleitungsrechts in § 140 SGB XI gerade vermeiden wollen, dass Betroffene Neuanträge ab dem 1. Januar 2017 stellen müssen, wenn sie bereits im Jahr 2016 oder davor einen Antrag gestellt hatten. Ebenso lasse sich aus § 140 Abs. 1 SGB XI die klare Absicht des Gesetzgebers ableiten, dass eine Neuantragstellung auch im laufenden Gerichtsverfahren nicht notwendig sei. So habe der Gesetzgeber wie folgt ausgeführt:

"Um die Leistungsansprüche der bisherigen Leistungsbezieher ab dem 1. Januar 2017 eindeutig zu klären, werden Überleitungsregelungen geschaffen. Die Gestaltung der Überleitungsregelung verfolgt zwei wesentliche Ziele. Zum einen sollen bisherige Leistungsbezieher durch die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs nicht schlechter als bisher gestellt werden. Daher erfolgt die Überleitung grundsätzlich in einen Pflegegrad, mit dem entweder gleich hohe oder höhere Leistungen als bisher verbunden sind. Ist dies ausnahmsweise nicht der Fall, wird ein Besitzstandsschutz geschaffen (§141). Zum anderen sollen umfangreiche Neubegutachtungen vermieden werden, um eine Überlastung der MDK und des medizinischen Dienstes der privaten Krankenversicherung, der Medicproof GmbH, im Zuge der Umstellung zu vermeiden [ ]" (BT Drucksache 18/5926, Bl. 140).

Ein Leistungsausschluss für die Gruppe der Versicherten, zu denen die Klägerin gehöre, lasse sich der Gesetzesbegründung nicht entnehmen. Hätte der Gesetzgeber den Zeitraum zum Erwerb einer Anspruchsberechtigung nach alter Rechtslage im Zuge der Umstellung auf den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff beschränken wollen, hätte es hierfür einer ausdrücklichen Regelung bedurft, die der Gesetzgeber aber gerade nicht getroffen habe. Die Übergangsvorschriften enthielten keine Regelung zur Überleitung für Versicherte, bei denen die anspruchsbegründenden Voraussetzungen nach Maßgabe der bis zum 31. Dezember 2016 geltenden Rechtslage erst ab dem 1. Januar 2017 oder später vorliegen. Die Kammer gehe hier von einer (planwidrigen) Regelungslücke aus, die aufgrund einer vergleichbaren Interessenlage im Wege einer entsprechenden Anwendung des § 140 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 a) SGB XI zu schließen sei. Eine Benachteiligung der Versicherten, bei denen spätestens am 31. Dezember 2016 alle Voraussetzungen für einen Anspruch auf eine regelmäßig wiederkehrende Leistung vorgelegen haben, gehe damit nicht einher. Diese genössen nämlich Besitzstandsschutz. Die Interessenlage der Versicherten sei im Übrigen vergleichbar.

Auch in der Literatur werde eine Überleitung für möglich gehalten, selbst wenn die Voraussetzungen einer Pflegestufe nach altem Recht erst nach dem 31. Dezember 2016 eingetreten seien (Hinweis auf jurisPK-Meßling, SGB XI, 2. Auflage 2017, § 140, Rn. 16 und 21). Die Kammer halte zudem die Formulierung des Gesetzgebers in § 140 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB XI für missglückt, denn in der Gesetzesbegründung (Bundestag Drucksache 18/5926) sei nicht die Rede davon, dass die Voraussetzungen am 31. Dezember 2016 vorliegen müssen, sondern dass die Anspruchsvoraussetzungen für mindestens eine der regelmäßig wiederkehrenden Leistungen des § 28 Abs. 1 in der Fassung am 31. Dezember 2016 vorliegen (Bundestag Drucksache 18/5926, Seite 140). Lese man die Gesetzesbegründung auf Seite 140 vollständig, so falle auf, dass die Formulierungen "in der am 31. Dezember 2016 geltenden Fassung" und "in der Fassung am 31. Dezember 2016" synonym verwendet würden.

Die Kammer sei daher zu der Überzeugung gelangt, dass eine Überleitung der Pflegestufe I, welche erst am 10. Oktober 2017 vorgelegen habe, mit Wirkung zum 10. Oktober 2017 in den Pflegegrad 2 gemäß § 140 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 a) SGB XI in entsprechender Anwendung vorzunehmen sei.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 9. Mai 2019 zugestellte Urteil am 5. Juni 2019 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht eingelegt.

Zur Begründung hat sie vorgetragen, das Sozialgericht nehme zu Unrecht das Vorliegen der Voraussetzungen des Pflegegrades 2 an. Bei seiner Entscheidung stütze sich das Gericht auf das Sachverständigengutachten vom 7. Dezember 2017, das bei der Klägerin das Vorliegen der Voraussetzungen der Pflegestufe I ab Oktober 2017 annehme. Das Gericht habe hieraus geschlossen, dass die Klägerin einen Anspruch auf Pflegeleistungen gemäß §§ 33 Abs. 1 Satz 2, 37 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI i.V.m. § 140 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 a SGB XI analog habe. Die Beklagte sei der Auffassung, dass ein Rückschluss durch die sachverständige Bestätigung der für Voraussetzungen der Pflegestufe I ab Oktober 2017 auf das Vorliegen der Voraussetzungen des Pflegegrades 2 ab diesem Zeitpunkt nicht zulässig sei. Grund hierfür sei die zwischenzeitliche Änderung der Rechtslage und der gesetzlich festgelegten Voraussetzungen für die jeweilige Zuordnung. Die Feststellung der Voraussetzungen der Pflegestufe I für die Klägerin bedeute nicht, dass diese auch die Voraussetzungen für den nach den Überleitungsvorschriften korrespondierenden Pflegegrad 2 erfülle. Grund hierfür seien die ab dem 1. Januar 2017 für die Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI geltenden neuen Kriterien, die stark von den bisherigen Maßstäben abwichen. Um eine mögliche Schlechterstellung bisheriger Leistungsbezieher sicher auszuschließen, sei der Gesetzgeber deswegen veranlasst gewesen, die pauschale Überleitungsregelung des § 140 Abs. 2 SGB XI im Gesetz zu verankern sowie einen Bestandsschutz festzulegen. Die Überleitungsregelung des § 140 SGB XI könne vorliegend nicht angewandt werden. Der Gesetzeswortlaut regele eindeutig, dass für die Überleitung einer Pflegestufe I in den Pflegegrad 2 das Vorliegen der Voraussetzungen für eine regelmäßig wiederkehrende Leistung der Pflegeversicherung vor dem 31. Dezember 2016 Voraussetzung sei (§ 140 Abs. 2 Nr. 2 SGB XI). Diese Voraussetzung erfülle die Klägerin unstreitig nicht. Diese Voraussetzungen würden erst ab Oktober 2017 bestätigt. Der Sachverständige mache für die Feststellung der Voraussetzungen ausdrücklich eine Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse verantwortlich, für die ein Bewertung nach neuem Recht erforderlich sei, weil sie nach dem 1. Januar 2017 eingetreten sei. Die Geltendmachung einer Änderung der Verhältnisse hätte durch Neuantrag erfolgen können, der entsprechend durch den MDK nach neuem Recht begutachten worden wäre. Das Fortführen einer Klage, die die Rechtmäßigkeit der Entscheidung der Beklagten bestätigt habe, könne indes nicht zu einer Verurteilung der Beklagten zur Gewährung eines Pflegegrades führen. Auf die Möglichkeit, einen Neuantrag zu stellen, damit der MDK entsprechend der aktuellen Gesetzeslage eine Pflegegutachten erstellen könne, habe die Beklagte nach Kenntnis des Begutachtungsergebnisses auch mit Schriftsatz vom 24. Januar 2018 (GA Bl. 188) hingewiesen.

Die Maßgeblichkeit des zum Zeitpunkt des bei Antragstellung geltenden Rechts auch für die Dauer des gesamten Verfahrens könne sich nur auf die Prüfung der Voraussetzungen zum Zeitpunkt der Antragstellung beziehen, nicht aber so interpretiert werden, dass auch die Feststellung einer Pflegestufe noch nach dem 1. Januar 2017 festgestellt werden könnte. Hätte der Gesetzgeber dies gewollt, hätte er eine ausdrückliche Anwendung auch noch nach dem 1. Januar 2017 in den Gesetzestext aufgenommen. Andersherum habe er dies für die Pflege gerade und deren rückwirkende Feststellung vor dem 1. Januar 2017 in § 140 Abs. 4 SGB XI getan. Insofern werde hier entgegen der Vermutung des Sozialgerichts auch keine Regelungslücke gesehen. Eine Überleitung sei nur für Pflegebedürftige vor dem 1. Januar 2017 vorgesehen. Zu diesem Personenkreis habe die Klägerin nicht gehört.

Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend. Der Gesetzgeber habe durch die Einführung der Überleitungsbestimmung des § 140 SGB XI gerade vermeiden wollen, dass Betroffene Neuanträge ab Januar 2017 stellen mussten, wenn sie bereits im Jahr 2016 oder davor einen Antrag gestellt hatten. Es komme nicht darauf an, dass die Voraussetzungen der Pflegestufe I zeitlich nach dem 31. Dezember 2016 eingetreten seien. Es liege eine planwidrige Regelungslücke vor.

Die Beklagte hat der Klägerin aufgrund eines Antrages vom 12. März 2019 (GA Bl. 363) und eines Gutachtens des MDK vom 11. Juli 2019 (GA Bl. 365) mit Bescheid vom 15. Juli 2019 Pflegegeld nach dem Pflegegrad 3 bewilligt ab dem 12. März 2019 (GA Bl. 353).

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten insbesondere des Sachvortrags der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten, der Gegenstand der Senatsberatung gewesen ist, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt haben (§ 153 Abs. 1, § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG).

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet. Streitgegenständlich ist nach der teilweisen Klagerücknahme in erster Instanz allein noch der Zeitraum 10. Oktober 2017 bis 11. März 2019. Mit der Bewilligung von Leistungen nach dem Pflegegrad 3 ab 12. März 2019 ist der vormals noch zukunftsoffene streitgegenständliche Zeitraum begrenzt.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Pflegegrad 2 ab 10. Oktober 2017 bis 11. März 2019.

Die Klägerin ist allerdings befugt, den Anspruch auf Leistungen nach dem Pflegegrad 2 prozessual geltend zu machen, obwohl schon bei Antragstellung eine Abtretung des Pflegegeldes an die Pflegeperson C. durch den Bevollmächtigten B. erklärt wurde. Zwar mag der Beklagte festgestellt haben, dass die Übertragung des Geldleistungsanspruchs Anspruchs auf Pflegegeld im wohlverstanden Interesse der Klägerin lag (§ 53 Abs. 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - SGB I -) und mag Herr C. die Abtretungserklärung angenommen haben. Es mag auch sein, dass die Klägerin das nach § 181 Bürgerliches Gesetzbuch schwebend unwirksame Geschäft genehmigt hat. Aber selbst wenn all dies der Fall und die Abtretung wirksam sein sollte, berührt die Abtretung nach § 53 SGB I nicht die Gestalt des Sozialrechtsverhältnisses. Das Sozialrecht sieht insoweit - anders als das Bürgerliche Recht - durch die Abtretung keine umfassende Neubestimmung der Gläubigerstellung oder den vollständigen Eintritt des neuen Gläubigers in das gesamte Sozialrechtsverhältnis einschließlich seines Pflichtengefüges vor. Nicht der Zessionar, Herr C., erlangt die Befugnis den Anspruch prozessual geltend zu machen. Diese Befugnis verbleibt vielmehr allein bei der versicherten Zedentin (vgl. BSG, Urteil vom 18. Juli 2006 – B 1 KR 24/05 R, juris). Abtretbar war nach allem nur das Recht, die Auszahlung des Pflegegeldes zu verlangen, nicht aber auch die Befugnis, den Anspruch prozessual zu verfolgen.

Der Senat folgt der erstinstanzlichen Entscheidung insoweit, als dort festgestellt wird, dass sich aus den eingeholten Befundberichten und dem überzeugenden Sachverständigengutachten Dr. F. ergibt, dass die Voraussetzungen der Pflegestufe I beurteilt nach dem bis zum 31. Dezember 2016 geltenden Recht erst nach dem 31. Dezember 2016, nämlich ab 10. Oktober 2017 bejaht werden können. Etwas anderes wird auch von der Klägerin, die für den davor liegenden Zeitraum 9. Oktober 2017 die Klage in erster Instanz zurückgenommen hat, nicht mehr geltend gemacht.

Aus dem Vorliegen der Voraussetzungen der Pflegestufe I beurteilt nach dem bis zum 31. Dezember 2016 geltenden Recht für den Zeitraum ab 10. Oktober 2017 kann indessen nicht der Pflegegrad 2 nach dem ab 1. Januar 2017 geltenden neuen Pflegeversicherungsrecht abgeleitet werden.

1.) Die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 SGB XI liegen bei der Klägerin nicht vor.

Die Neuregelung des Pflegeversicherungsrechts durch das Zweite Gesetz zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschiften Zweites Pflegestärkungsgesetz – PSG II) vom 21. Dezember 2015 (BGBl. I 2424) hat insgesamt die Leistungen der Pflegeversicherung einem größeren Kreis von Anspruchsberechtigten zugänglich gemacht. § 140 Abs. 2 SGB XI bewirkt, dass in einem Verfahren, das noch die Rechtslage nach altem Recht behandelt, Leistungsberechtigte, denen unter der Geltung des alten Rechts Ansprüche zustanden, in das neue Recht überführt werden.

Zu diesem Adressatenkreis der Bestimmung gehört die Klägerin nicht. Weder war bei ihr das Vorliegen einer Pflegestufe im Sinne der §§ 14 und 15 SGB XI in der am 31. Dezember 2016 geltenden Fassung oder einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz nach § 45a SGB XI in der am 31. Dezember 2016 geltenden Fassung festgestellt worden (Nr. 1) noch lagen bei ihr spätestens am 31. Dezember 2016 alle Voraussetzungen für einen Anspruch auf eine regelmäßig wiederkehrende Leistung der Pflegeversicherung vor (Nr. 2). Das Gutachten des Sachverständigen Dr. F. hat vielmehr ergeben, dass sich die im Verwaltungsverfahren erstellten Gutachten des MDK retrospektiv zutreffend sind und eine Pflegestufe nach den Kriterien des alten Rechts vor Oktober 2017 nicht zu bejahen war.

Damit greift auch nicht die Rechtsfolge des § 140 Abs. 2 SGB XI, dass die Klägerin mit Wirkung ab dem 1. Januar 2017 ohne erneute Antragstellung und ohne erneute Begutachtung nach Maßgabe von Satz 3 einem Pflegegrad zugeordnet wird.

2.) Die Bejahung des Pflegegrades 2 nach neuem Recht kann entgegen der Rechtsansicht des Sozialgerichts auch nicht auf eine analoge Anwendung des § 140 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 SGB XI gestützt werden

Nach der Rechtsauffassung des Sozialgerichts liegt in einem Fall wie dem hier vorliegenden, in dem der Antrag auf Leistungen noch bis einschließlich zum 31. Dezember 2016 gestellt worden ist (hier am 17. Oktober 2015), die Voraussetzungen der Pflegestufe I jedoch zeitlich erst nach dem 31. Dezember 2016 eingetreten sind (hier zum 10. Oktober 2017), eine (planwidrige) Regelungslücke vor, die aufgrund einer vergleichbaren Interessenlage im Wege einer entsprechenden Anwendung des § 140 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 a) SGB XI zu schließen sei, wenn der Bescheid zur alten Rechtslage nicht bestandskräftig geworden und Gegenstand eines Klageverfahrens ist.

Die Anwendung und Auslegung der Gesetze durch die Gerichte steht mit dem Rechtsstaatsprinzip in Einklang, wenn sie sich in den Grenzen vertretbarer Auslegung und zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung bewegt. Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG, dass richterliche Entscheidungen im Einzelfall diesen Anforderungen genügen. Die Rechtsfortbildung gehört zu den Aufgaben der Rechtsprechung; sie darf allerdings nicht dazu führen, dass die Gerichte ihre eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen. Die Aufgabe der Rechtsprechung beschränkt sich vielmehr darauf, den vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck eines Gesetzes unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen oder eine planwidirge Regelungslücke mit den anerkannten Auslegungsmethoden zu füllen. Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den Wortlaut des Gesetzes hintanstellt und sich über den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinwegsetzt, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 28. Juni 2014 – 1 BvR 1157/12 –, juris Rn. 6).

Nach diesen Maßstäben ist die von der Beklagten angegriffene analoge Anwendung des § 140 SGB XI rechtlich nicht haltbar.

Die Überleitungsvorschrift des § 140 SGB XI (Anzuwendendes Recht und Überleitung in die Pflegegrade) befasst sich mit der "Übersetzung" nach altem Recht anerkannter und einen Anspruch auf laufende Leistung begründender Pflegestufen nach altem Recht in Pflegegrade nach neuem Recht, ohne dass es einer erneuten Antragstellung bedürfte.

In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: "Um die Leistungsansprüche der bisherigen Leistungsbezieher [!] ab dem 1. Januar 2017 eindeutig zu klären, werden Überleitungsregelungen geschaffen. Die Gestaltung der Überleitungsregelungen verfolgt zwei wesentliche Ziele: Zum einen sollen bisherige Leistungsbezieher [!] durch die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs nicht schlechter als bisher gestellt werden. Daher erfolgt die Überleitung grundsätzlich in einen Pflegegrad, mit dem entweder gleich hohe oder höhere Leistungen als bisher verbunden sind. Ist dies ausnahmsweise nicht der Fall, wird ein Besitzstandsschutz geschaffen (§ 141). Zum anderen sollen umfangreiche Neubegutachtungen vermieden werden, um eine Überlastung der MDK und des medizinischen Dienstes der privaten Krankenversicherung, der Medicproof GmbH, im Zuge der Umstellung zu vermeiden.

Daher wurden die Überleitungsregelungen im Einklang mit der mehrheitlichen Empfehlung des Expertenbeirats zur konkreten Ausgestaltung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs so gestaltet, wie sich nach den Ergebnissen der Erprobungsstudien die Mehrheit der bisherigen Leistungsbezieher [!] bei einer Neubegutachtung voraussichtlich stellen würde. Im Ergebnis wird damit kein bisheriger Leistungsbezieher [!] schlechter gestellt; es werden aber viele bisherige Leistungsbezieher deutlich besser als heute gestellt. Dies betrifft insbesondere Pflegebedürftige, die bis zur Umstellung Leistungen aufgrund einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz im Sinne des § 45a SGB XI in der Fassung am 31. Dezember 2016 bezogen haben. Dieser Personenkreis, der sich aus Pflegebedürftigen mit vorrangig psychischen oder kognitiven Beeinträchtigungen, etwa aufgrund einer demenziellen Erkrankung, zusammensetzt, wird regelhaft einen Pflegegrad höher eingestuft als Pflegebedürftige mit vorrangig körperlichen Beeinträchtigungen (sog. doppelter Stufensprung), um die Gleichstellung mit Personen mit vorrangig körperlichen Beeinträchtigungen auch im Rahmen der Überleitung so weit wie möglich zu verwirklichen. Maßgeblich für das Vorliegen einer Anspruchsberechtigung auf Leistungen der Pflegeversicherung in der am 31. Dezember 2016 geltenden Fassung ist nach Absatz 1 das zum Zeitpunkt der Antragstellung geltende Recht. Anspruchsberechtigt in diesem Sinne sind Versicherte, bei denen Pflegebedürftigkeit im Sinne der §§ 14 und 15 in der Fassung am 31. Dezember 2016 oder eine erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz nach § 45a in der Fassung am 31. Dezember 2016 festgestellt wurde und die die weiteren Anspruchsvoraussetzungen erfüllen. Insbesondere müssen die Anspruchsvoraussetzungen für mindestens eine der regelmäßig wiederkehrenden Leistungen des § 28 Absatz 1 in der Fassung am 31. Dezember 2016 vorliegen ( )" (vgl. BT Drs. 18/5926, S. 140).

Der Fall, dass unter der Geltung des alten Rechts eine Pflegestufe nicht anzuerkennen war und keine Leistungsberechtigung nach dem bis zum 31. Dezember 2016 geltenden Recht bestand, bedurfte keiner Überleitungsregelung, weil es in diesem Fall keinen rechtlichen Besitzstand gibt, der gewahrt und übergeleitet werden könnte. Damit setzt sich eine analoge Anwendung, die den Fall erfasst, dass zwar nach altem Recht keine Pflegestufe anzuerkennen war und auch kein Leistungsanspruch bestand, nach Inkrafttreten des neuen Rechts aber, wenn man weiterhin das alte, zwischenzeitlich außer Kraft getretene Recht anwendete, eine Pflegestufe nach altem Recht begründet wäre, und diese Pflegestufe nach dem außer Kraft getretenen alten Recht in einen Pflegegrad neuen Rechts überleitet, über den Willen des Gesetzgebers hinweg.

Für eine analoge Anwendung des § 140 SGB XI ist kein Raum. Denn es fehlt schon an einer planwidrigen Lücke. Im Vorblatt des Gesetzentwurfs heißt es: "Für die voraussichtlich rund 2,8 Millionen pflegebedürftigen Personen, die zum Stichtag der Umstellung Leistungen der Pflegeversicherung erhalten [!], wird mit einer Überleitungsregelung sichergestellt, dass diese Leistungsbezieher [!] ohne erneute Begutachtung reibungslos in das neue System übergeleitet werden. Außerdem wird damit der Verwaltungsaufwand bei den Pflegekassen, Versicherungsunternehmen und den Medizinischen Diensten der Krankenversicherung reduziert. Dazu trägt bei, dass zunächst vorrangig Antragsteller, die nach dem Stichtag erstmals Leistungen beantragen, nach dem NBA begutachtet werden sollen." (BT Drs. 18/5926, S. 3).

Die Überleitungsregelung soll danach den und nur den Personen zugutekommen, die zum Stichtag der Umstellung schon Leistungen der Pflegeversicherung erhalten. Die Überleitung erfasst daneben auch solche Personen, denen die Pflegekasse auf einen Antrag vor dem 1. Januar 2017 rechtswidrigerweise unter der Geltung des alten Rechts Leistungen verweigert hat, die also bei rechtmäßiger Entscheidung vor dem 1. Januar 2017 Leistungsbezieher gewesen wären. Das Begutachtungswesen soll entlastet werden, damit Personen, die noch keine Leistungen beziehen und einen Antrag nach dem Stichtag 31. Dezember 2016 unter der Geltung des neuen Rechts stellen, vorrangig begutachtet werden können.

Die Klägerin gehört nicht zur Gruppe der Personen, die zum Stichtag der Umstellung schon Leistungen der Pflegeversicherung erhalten haben oder der solche Leistungen bei rechtmäßigem Verwaltungshandeln bis zum 31. Dezember 2016 zugestanden hätten. Sie soll nach dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers daher auch nicht in den Genuss der Überleitungsregelung kommen. Tatsächlich gibt es auch nichts zu überzuleiten, weil der Klägerin bis zum 31. Dezember 2016 – inzwischen unstreitig - keinerlei Anspruche nach dem SGB XI a.F. zustanden.

Die Rechtsauffassung des Sozialgerichts ist daher mit der norminternen Systematik, namentlich § 140 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB XI, nicht vereinbar. Denn diese Regelung setzt voraus, dass Leistungen noch nach altem Recht beansprucht werden konnten, dass also noch bis zum 31. Dezember 2016 ein entsprechender Anspruch entstanden war. Unerheblich ist nur, ob dieser bereits im Bescheidwege festgestellt worden war oder erst nach dem 31. Dezember 2016 ein entsprechender Bescheid erlassen wurde (Meßling in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XI, 2. Aufl., § 140 SGB XI (Stand: 13.06.2019) Rn. 17.2.; Koch in: KassKomm, 108. EL März 2020, SGB XI § 140 Rn. 5-7; Kuhn-Zuber in LPK-SGB XI § 141 Rn. 7). Für Anträge, die vor dem 31. Dezember 2016 gestellt wurden und bis zum 31. Dezember 2016 unbegründet waren, gibt es kein Rechtsschutzbedürfnis für ein Überleitungsrecht, das Pflegestufen in Pflegegrade übersetzt. Damit begründet das Fehlen einer Überleitungsbestimmung auch keine planwidrige Lücke, sondern entspricht der Systematik des Gesetzes.

3.) Auch der sozialrechtliche Herstellungsanspruch verhilft der Klägerin nicht zum Erfolg ihres Begehrens.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts kann die Verletzung von Pflichten, die dem Sozialleistungsträger gegenüber den Leistungsberechtigten aus dem Sozialrechtsverhältnis obliegen, für Leistungsberechtigte einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch begründen (vgl. ausführlich BSG vom 15.12.1994 - 4 RA 64/93 -, juris RdNr 19 ff). Rechtsgrundlage für die Beratungspflicht in Form einer Hinweispflicht sind die §§ 14, 15 Sozialgesetzbuch Erstes Buch – Allgemeiner Teil (SGB I). Eine umfassende Beratungspflicht des Sozialversicherungsträgers bzw. des Sozialleistungsträgers besteht zunächst regelmäßig bei einem entsprechenden Beratungs- und Auskunftsbegehren des Leistungsberechtigten (vgl. BSG vom 17.8.2000 - B 13 RJ 87/98 R - juris Rn. 38; BSG vom 14.11.2002 - B 13 RJ 39/01 R, juris Rn. 43). Ausnahmsweise besteht nach ständiger Rechtsprechung des BSG auch dann eine Hinweis- und Beratungspflicht des Leistungsträgers, wenn anlässlich einer konkreten Sachbearbeitung in einem Sozialrechtsverhältnis dem jeweiligen Mitarbeiter eine naheliegende Gestaltungsmöglichkeit ersichtlich ist, die ein verständiger Versicherter/Leistungsberechtigter wahrnehmen würde, wenn sie ihm bekannt wäre (stRspr des BSG, zuletzt BSG Urteil vom 24. April 2015 – B 4 AS 22/14 R, juris Rn. 27 m.w.N.). Dabei ist die Frage, ob eine Gestaltungsmöglichkeit klar zu Tage liegt, allein nach objektiven Merkmalen zu beurteilen (vgl. BSG, Urteil vom 2. April 2014 – B 4 AS 29/13 R , juris Rn. 29. m.w.N.)

An einer derartigen Gestaltungsmöglichkeit, über die der Beklagte hätte beraten müssen, fehlt es hier jedoch. Vorliegend richtet sich die Klage gegen den Bescheid vom 6. April 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Oktober 2016. Während des Verwaltungsverfahrens, das zu der angegriffenen Behördenentscheidung führte, bestand kein Anlass für die Beklagte, auf eine erneute Antragstellung hinzuweisen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die Klägerin seit dem 24. November 2016 einen Rechtsstreit gegen die Beklagte vor dem Sozialgericht Darmstadt führte. Der Rechtsstreit betraf allein einen nach altem Recht gestellten und zu beurteilenden Antrag.

Der Senat sieht keine allgemeine umfassende Verpflichtung des Beklagten während eines laufenden gerichtlichen Verfahrens nach altem Recht, die Klägerin zu informieren, dass Personen, die – wie die Klägerin – bis zum 31. Dezember 2016 nicht pflegebedürftig nach altem Recht waren, ab 1. Januar 2017 einen neuen Antrag stellen müssten, wenn sie Ansprüche nach neuem Recht geltend machen wollten. Darauf, ob die Klägerin über die Mitgliederzeitschrift der Beklagten darüber informiert wurde, dass bereits Pflegebedürftige keinen neuen Antrag zu stellen bräuchten, kommt es nicht an. Denn die Klägerin war nicht schon pflegebedürftig nach altem Recht, das bis zum 31. Dezember 2016 galt, so dass dieser Hinweis zur Regelung des § 140 SGB XI sie nicht betraf.

Auch nach Klageerhebung am 24. November 2016 bestand für die Beklagte zunächst kein Anlass, die Klägerin auf die Möglichkeit der Antragstellung nach dem ab 1. Januar 2017 geltenden neuen Recht hinzuweisen. Wäre die Entscheidung der Beklagten rechtswidrig gewesen und hätte der Klägerin also die Pflegestufe I schon vor Erlass der letzten Behördenentscheidung am 20. Oktober 2016 oder jedenfalls vor dem 31. Dezember 2016 zugestanden, so hätte § 140 SGB XI zur Überleitung der Pflegestufe in einen Pflegegrad nach neuem Recht geführt. Tatsächlich hat sich die Entscheidung der Beklagten aber als richtig erwiesen, weil die Vorgutachten retrospektiv durch den Sachverständigen Dr. F. bestätigt wurden (GA BL. 152). Für die Beklagte war auch bei Klageerhebung in keiner Weise ersichtlich, dass zum Inkrafttreten des neuen Rechts am 1. Januar 2017 bei der Klägerin ein Pflegegrad nach neuem Recht anzuerkennen wäre.

Mit Vorlage des Gutachtens des Sachverständigen Dr. F. vom 7. Dezember 2017 änderte sich die Sachlage. Der Sachverständige setzte ab Oktober 2017 (GA Bl. 153) unter Heranziehung der Kriterien des alten Rechts für die Grundpflege einen Zeitaufwand von 91 Minuten und für die hauswirtschaftliche Versorgung einen Zeitaufwand von 60 Minuten täglich an. Diese sachverständige Einschätzung legte trotz der Verschiedenheit der Kriterien des SGB XI wegen der beginnenden demenziellen Entwicklung der Klägerin, die unter dem neuen Recht größere Beachtung erfährt, die Vermutung nahe, dass ab Oktober 2017 auch ein Pflegegrad nach den Kriterien des neuen Rechts gegeben sein könnte. Nun musste der Beklagten daher eine naheliegende Gestaltungsmöglichkeit ersichtlich sein, die ein verständiger Versicherter/Leistungsberechtigter wahrnehmen würde, wenn sie ihm bekannt wäre, nämlich einen Antrag nach neuem Recht zu stellen.

Nachdem das vom Sozialgericht in Auftrag gegebene Sachverständigengutachten der Beklagten mit gerichtlichem Schreiben vom 8. Dezember 2017 zugeleitet worden war, hat diese daher auch mit Schriftsatz vom 24. Januar 2018 (GA Bl. 188) auf die Möglichkeit, einen Neuantrag zu stellen, damit der MDK entsprechend der aktuellen Gesetzeslage eine Pflegegutachten erstellen könne, hingewiesen. Sie ist damit ihrer aus §§ 14, 15 SGB I folgenden Hinweispflicht zeitnah nachgekommen. Dass die von Anfang an im gerichtlichen Verfahren fachkundig vertretene Klägerin gleichwohl erst am 12. März 2019 einen neuen Antrag bei der Beklagten gestellt hat, ist nicht der Beklagten anzulasten. Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch des Inhalts, so gestellt zu werden, als habe die Klägerin im Oktober 2017 einen Antrag auf einen Pflegegrad nach neuem Recht gestellt, ist nach allem zu verneinen.

4.) Der Senat sieht schließlich auch keinen Anlass, auf den Antrag der Klägerin vom 12. Oktober 2015 nach altem Recht für den Zeitraum ab 1. Januar 2017 eine Begutachtung nach neuem Recht zu veranlassen (GA Bl. 227). Das Argument, es könne nicht zu Lasten der Klägerin gehen, wenn in einem laufenden Verfahren eine Gesetzesänderung eintrete (GA Bl. 351), überzeugt nicht.

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des Anspruchs auf ein bestimmtes Verwaltungshandeln ist grundsätzlich die letzte mündliche Verhandlung in der Tatsacheninstanz oder die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung in der Tatsacheninstanz - hier am 24. Juni 2020 (BSG, st. Rspr., z.B. BSG v. 18. Dezember 2016, B 3 P 2 /14 R, Rn. 14; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, 12. Aufl. 2017, § 54 Rn. 34). Spätere, in der Revisionsinstanz eingetretene Rechtsänderungen sind zwar zu berücksichtigen, aber nur wenn das neue Gesetz nach seinem zeitlichen Geltungswillen das streitige Rechtsverhältnis erfassen will (BSG, st. Rspr., z.B. v. 18. Dezember 2016, B 3 P 2 /14 R, Rn. 14). Tatsachen und Rechtsänderungen sind indessen nur im Rahmen des jeweiligen Streitgegenstandes zu berücksichtigen (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, 12. Aufl. 2017, § 54 Rn. 34b).

Nach dem auch bei der allgemeinen Leistungsklage in Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit geltenden zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff wird der Streitgegenstand - wie im Zivilprozess - nicht nur durch das Klageziel, sondern auch durch den Klagegrund, den Lebenssachverhalt, aus dem der Kläger die begehrte Rechtsfolge herleitet, bestimmt. Eine Mehrheit von Streitgegenständen liegt auch bei gleichem Antrag dann vor, wenn die materiell-rechtliche Regelung die zusammentreffenden Ansprüche erkennbar unterschiedlich ausgestaltet (vgl. BSG, Urteil vom 17. Dezember 2013 – B 1 KR 70/12 R , Rn. 32).

Hier ist Streitgegenstand allein ein Antrag auf Pflegegeld nach altem Recht, der an den alten Pflegebedürftigkeitsbegriff anknüpft. Der dem klägerischen Begehren zugrundeliegende Lebenssachverhalt ist ein Antrag nach altem Recht, der nur bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen der Überleitungsbestimmung des § 140 SGB XI zum Klageziel eines Pflegegeldes nach Pflegegrad 2 nach neuem Recht hätte führen können.

Mit dem Inkrafttreten des neuen Pflegeversicherungsrechts zum 1. Januar 2017 fand ein Systemwechsel statt, es wurde ein neuer Begriff der Pflegebedürftigkeit eingeführt. Dieser orientiert sich erklärtermaßen nicht mehr vornehmlich an körperlichen Defiziten. Vielmehr ersetzen fünf für alle Pflegebedürftigen einheitlich geltende Pflegegrade das bisherige System der drei Pflegestufen und der zusätzlichen Feststellung von erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz (insbesondere Demenz). Die bisherigen Leistungen für Menschen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz (§§ 45a ff. SGB XI a.F.) werden in das reguläre Leistungsrecht integriert. Alle Pflegebedürftigen erhalten damit einen einheitlichen Zugang (Meßling in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XI, 2. Aufl., § 14 SGB XI [Stand: 13.06.2019] Rn. 11).

Anträge auf Pflegegeld nach altem Recht wirken infolge dieses Systemwechsels nur bis zum 31. Dezember 2016 fort, aber nicht darüber hinaus. Während § 37 SGB XI a.F. Pflegebedürftigkeit nach der Pflegestufe I, II oder III zur Tatbestandsvoraussetzung hat, verlangt § 37 SGB XI in der ab 1. Januar 2017 geltenden Fassung, dass der Anspruchsinhaber pflegebedürftig nach dem Pflegegrad 2, 3, 4, oder 5 ist. Damit ist ein Antrag auf Pflegegeld bis zum 31. Dezember 2016 in der Sache auf ein Aliud, nämlich die Feststellung einer Pflegestufe nach altem Recht und nicht auf die Feststellung eines Pflegegrades nach neuem Recht gerichtet. Die Systemänderung hat zur Folge, dass ein nach altem Recht gestellter und beschiedener Antrag mit dem Außerkrafttreten dieses Rechts verbraucht ist und nicht dazu dienen kann, die Umstände nach neuem Recht im gerichtlichen Verfahren ohne vorherigen Antrag und ohne Durchführung eines Verwaltungsverfahrens unter Anlegung der Maßstäbe des neuen Rechts erneut zu beurteilen.

Hätte der Gesetzgeber trotz des Systemwechsels eine Überleitung, also ein Fortwirken von unter der Geltung des alten Rechts gestellter und bis zum 31. Dezember 2016 unbegründeter Anträge als Anträge nach dem neuen Recht gewollt, hätte er das zum Ausdruck bringen müssen.

Vorliegend wurde die Klägerin aufgrund ihres Antrags vom 12. März 2019 für den Zeitraum ab dem 12. März 2019 erneut begutachtet und ihr mit Bescheid vom 15. Juli 2019 Pflegegeld nach dem Pflegegrad 3 seitens der Beklagten bewilligt. Für den vorausgehenden Zeitraum 1. Januar 2017 bis 11. März 2019 fehlt es jedoch an einem Antrag auf Feststellung eines Pflegegrades nach neuem Recht. Die Zuerkennung eines Pflegegrades für diesen Zeitraum scheidet daher aus.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision wird gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Vom Vorliegen grundsätzlicher Bedeutung einer Rechtssache ist auszugehen, wenn sich eine Rechtsfrage stellt, deren Klärung über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung im allgemeinen Interesse erforderlich – Klärungsbedürftigkeit - und deren Klärung durch das Revisionsgericht zu erwarten ist – Klärungsfähigkeit – (st. Rspr.: BSG v. 16.11.1987 - 5b BJ 118/87; BSG v. 16.12.1993 - 7 BAr 126/93; BSG v. 30.08.2004 - B 2 U 401/03 B, jeweils juris).

Vorliegend ist die Rechtsfrage, ob in Fallgestaltungen wie der vorliegenden, in denen während eines laufenden gerichtlichen Verfahrens die Voraussetzungen einer Pflegestufe nach den Kriterien des alten Rechts nach Außerkrafttreten dieses Rechts am 31. Dezember 2016 eingetreten sind, § 140 Abs. 2 SGB XI analog anzuwenden ist, klärungsbedürftig und klärungsfähig. Weiter ist klärungsbedürftig und klärungsfähig, ob ein nach altem Pflegeversicherungsrecht gestellter und bis zum 31. Dezember 2016 unbegründeter Antrag, über den noch nicht bestandskräftig entschieden ist, von der Verwaltung und den Gerichten als Antrag nach neuem Recht zu behandeln ist.
Rechtskraft
Aus
Saved