L 13 VG 3/20

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 5 VG 56/17
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 13 VG 3/20
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 12.11.2019 wird zurückgewiesen. Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Gewährung von Versorgung nach den Vorschriften des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) i.V.m. denjenigen des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Er wendet sich gegen den Bescheid des Beklagten vom 22.11.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.11.2017.

Der Kläger wurde 1953 geboren. Im Jahr 1958 siedelte seine Familie nach W um. Zunächst lebte der Kläger dort allein mit seinen Eltern. Von 1961 bis 1966 lebte auch seine Halbschwester J T im Haushalt. Sein Vater verstarb im Jahr 1967, seine Mutter im Jahr 2013.

Mit seinem am 31.01.2013 bei dem Beklagten eingegangenen Antrag machte der Kläger Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz geltend. Er trug vor, er habe seine Mutter im Alter von elf Jahren beim Versuch des Ehebruchs ertappt und seinem Vater hiervon berichtet. Hierauf habe seine Mutter ihn halb tot geprügelt und hierdurch seine neurotische Entwicklung verursacht. Er führte ferner aus, dies sei ihm erst weit nach Abschluss einer 160 Stunden umfassenden analytischen Psychotherapie wieder bewusst geworden, da seine Mutter ihm die Erinnerung durch brutale Misshandlung genommen habe. Als Zeugen für den Ehestreit der Eltern benannte er seine beiden Halbschwestern. Auf den weiteren Gang des Verwaltungsverfahrens wird Bezug genommen. Mit Bescheid vom 22.11.2013 lehnte der Beklagten den Antrag des Klägers ab. Zur Begründung führte er im Kern aus, die schädigenden Vorgänge seien weder nachgewiesen noch hinreichend glaubhaft gemacht. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Erinnerungen des Klägers durch die durchgeführte psychoanalytische Therapie beeinflusst worden seien. Mit Schreiben vom 15.09.2014 übersandte der Beklagte seinen Ablehnungsbescheid abermals an den Kläger, nachdem dieser mitgeteilt hatte, diesen nicht erhalten zu haben.

Mit Schreiben vom 30.09.2014 legte der Kläger Widerspruch ein und verwies auf ein im Rahmen eines Verfahrens über die Feststellung einer Schwerbehinderung eingeholtes Gutachten des Arztes für Psychiatrie u.a. Dr. med. H (K), auf dessen Inhalt verwiesen wird. Im weiteren Verlauf des Widerspruchsverfahrens reichte der Kläger eine Stellungnahme seiner Halbschwester J T zu den Akten. Sie führte aus, in der Zeit von 1961 - 1966 im elterlichen Haushalt gelebt zu haben. Die Mutter habe die Kinder durch Schläge und Ohrfeigen bestraft. Sie habe durch ihre Berufstätigkeit nicht mitbekommen, was sich zu Hause tagsüber ereignete, könne sich aber gut vorstellen, dass der Kläger schwere Prügel bekommen habe. In seiner persönlichen Befragung durch den Beklagten am 18.05.2015 schilderte der Kläger u.a., er sei im Nachgang des geschilderten Ehestreits mehrfach in seinem Zimmer von seiner Mutter massivst mit einer Peitsche verprügelt worden. Sie habe zudem an seinen Genitalien gezogen und gezerrt. Seine Erinnerung sei erst 2013 nach dem Tod seiner Mutter zurückgekommen. Er habe sich immer gefragt, woher seine Wut auf sich selber komme und das Gefühl gehabt, die Ursache liege in der Kindheit. Auf den weiteren Gang des Verwaltungsverfahrens wird verwiesen. Der Beklagte beauftragte schließlich die Dipl.-Psych. K. O, Institut für forensische Aussagepsychologie, mit einer aussagepsychologischen Würdigung der Angaben des Klägers. In ihrem Gutachten vom 10.11.2017 gelangte die Gutachterin zu dem Ergebnis, dass der Erlebnishypothese nicht als wahrscheinlichste Hypothese angesehen werden könne. Im Vordergrund stehe vielmehr die Hypothese, dass der Kläger in seiner analytischen Psychotherapie suggestiven Einflüssen ausgesetzt gewesen sei, die ihn zu einer aktiven Suche nach einer angeblich verschütteten traumatischen Erfahrung angeregt hätten. Per Widerspruchsbescheid vom 30.11.2017 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers unter Wiederholung und Vertiefung seines bereits zuvor vertretenen Standpunktes als unbegründet zurück.

Der Kläger hat am 28.12.2017 Klage zum Sozialgericht (SG) Köln erhoben.

Das SG hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 18.11.2019 die Halbschwester des Klägers J T als Zeugin vernommen. Die ebenfalls ursprünglich zum Termin geladene Halbschwester C L hat schriftlich von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht.

Sodann hat das SG die Klage mit Urteil vom 18.11.2019 als unbegründet abgewiesen und dazu ausgeführt:

"Die zulässige Klage ist unbegründet.

Der Bescheid des Beklagten vom 22.11.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.11.2017 ist rechtmäßig. Der Kläger ist durch ihn nicht beschwert im Sinne von § 54 Abs. 2 S. 1 SGG. Er hat keinen Anspruch auf Versorgung nach den Vorschriften des OEG in Verbindung mit denjenigen des BVG.

Nach § 1 Abs. 1 S. 1 OEG enthält derjenige, der im Geltungsbereich des Gesetzes infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen sich oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Dabei ist unter einem tätlichen Angriff eine in feindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung zu verstehen, die in aller Regel den Tatbestand einer jedenfalls versuchten vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (Bundessozialgericht, Urt. v. 29.04.2010, Az.: B 9 VG 1/09 R, juris; Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 09.03.2011, Az.: L 13 VG 11/09, juris).

Nach § 10a Abs. 1 OEG erhalten Personen, die in der Zeit vom 23.05.1949 bis 15.05.1976 geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung insbesondere unter der Voraussetzung, dass sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt sind.

Die von dem Kläger geschilderten exzessiven Übergriffe durch seine Mutter sind zur Überzeugung der Kammer nicht bewiesen. Sie sind ferner auch nicht im Sinne von § 15 S. 1 KOVVfG glaubhaft gemacht.

Grundsätzlich bedarf die Feststellung eines Angriffes im Sinne des § 1 Abs. 1 S. 1 OEG des Vollbeweises. Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass die Umstände nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen. Ausnahmsweise sind nach Maßgabe des § 15 S. 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs. 3 OEG auch im Rahmen des Opferentschädigungsrechts Anwendung findet, hinsichtlich des schädigenden Vorgangs die Angaben der klagenden Partei zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen und Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden verlorengegangen sind. Die Beweiserleichterung ist insbesondere auch dann anwendbar, wenn Tatzeugen nicht vorhanden sind. Glaubhaftmachen bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses Übergewicht zukommen. Die bloße Möglichkeit einer Tatsache bzw. eines Geschehensablaufs reicht indes nicht aus.

Dem Kläger gelingt der Nachweis der behaupteten Sachverhalte nicht. Ihm stehen keine unmittelbaren Beweismittel zum Nachweis der behaupteten Sachverhalte zur Verfügung. Seine Mutter ist bereits verstorben. Im Übrigen führt der Kläger selbst aus, dass niemand sonst als unmittelbarer Zeuge in Betracht kommt. Der Beweis gelingt selbstverständlich nicht allein durch medizinische Befunde von Behandlern des Klägers, die seine Schilderungen lediglich wiedergeben.

Die streitgegenständlichen Sachverhalte sind auch nicht im Sinne von § 15 KOVVfG hinreichend glaubhaft gemacht.

Es kann offen bleiben, ob § 15 KOVVfG angesichts der Antragstellung rund vierzig Jahre nach den angeschuldigten Taten unter dem Gesichtspunkt eines Verschuldens der Beweislosigkeit überhaupt Anwendung finden kann. Denn es ist bei Würdigung aller Umstände jedenfalls nicht glaubhaft gemacht, dass die von dem Kläger gemachten Angaben erlebnisbasiert sind. Die Kammer misst dieser Möglichkeit im Vergleich mit der Möglichkeit, dass die wiederentdeckten Erinnerungen des Klägers auf Fremd- und Autosuggestion beruhen, kein Übergewicht zu.

Als besonders problematisch sind nach der Fachliteratur wiederentdeckte Erinnerungen zu betrachten, wenn vor der Wiederentdeckung die Vermutung bestand, es müssten traumatische Erinnerungen vorliegen, wenn Bemühungen vorgenommen wurden, sich an nicht zugängliche Erlebnisse zu erinnern, sich die Erinnerungen erst im Laufe solcher Erinnerungsbemühungen einstellen und wenn im Laufe der Zeit immer mehr Erlebnisse berichtet werden (Volpert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, S. 139/140 - Bl ... 81 f. VA -; vgl. auch Stoffels, Das Trauma zwischen Faszinosum und therapeutischer Herausforderung, Med Sach 5/2007, 160 ff. - Bl. 103 ff. VA -). Eine problematische Sachlage im vorgenannten Sinne zeigt sich auch vorliegend deutlich.

Der von dem Kläger geschilderte Prozess der vermeintlichen Wiederentdeckung seiner Erinnerungen weist erhebliches fremd- und autosuggestives Potential auf. So hat der Kläger selbst im Rahmen seiner Befragung durch den Beklagten sowie auch durch die aussagepsychologische Gutachterin geschildert, wie im Rahmen der durchgeführten Therapien versucht wurde, Ansatzpunkte für seelische Leiden insbesondere in der Kindheit des Klägers zu finden ("war da nicht irgendwas"). Zwar führt der Kläger aus, zu diesem Zeitpunkt noch keine Erinnerungen an die Traumata gehabt zu haben. Für die Suche nach einer Begründung der Leiden stellen die Therapieansätze indes aus objektiver Perspektive einen Anreiz für eine weitere Fokussierung auf die Kindheit dar. Darüber hinaus sind auch erhebliche autosuggestive Vorgänge in die Betrachtung einzustellen. So hat sich der sich der Kläger nach eigenen Angaben in die Suche nach dem Grund für seine Leiden förmlich hineingesteigert (Bl. 106 Aussagepsychologisches Gutachten). Im Rahmen seiner Befragung durch den Beklagten hatte der Kläger in diesem Zusammenhang angegeben, er habe immer das Gefühl gehabt, die Ursache für seine Leiden lägen in seiner Kindheit, trotz vielen Grübelns habe er bis 2013 jedoch keine Ursachen finden können. Der Kläger hat sich folglich über einen erheblichen Zeitraum aktiv darum bemüht, ein Erklärungsmodell für seine seelischen Leiden zu finden.

Auch die Entwicklung der Angaben des Klägers zeigt sich problematisch, denn sie weisen keine Stringenz auf, sondern erfahren im Laufe der Zeit deutliche Erweiterungen. So deuteten die Angaben des Klägers im Rahmen seiner Antragsbegründung noch auf ein singuläres Ereignis, als er schilderte, die Mutter habe ihn vor dem Hintergrund des Ehestreits halb tot geschlagen. Im Rahmen seiner Befragung durch den Beklagten schilderte er sodann mehrfache massive Übergriffe mit einer Peitsche, auch habe die Mutter an seinen Genitalien gezerrt und gezogen. Im anwaltlichen Schriftsatz vom 08.02.2016 ist sodann die Rede von unerträglichen gegen ihn gerichteten Gewaltorgien.

Die Angaben des Klägers erfüllen damit alle Kriterien von in der Fachliteratur im Hinblick auf Authentizität als problematisch angesehenen wiederentdeckten Erinnerungen: Es bestand die Vermutung, es müsste eine traumatische Ursache vorliegen. Es wurden Bemühungen vorgenommen, sich an nicht zugangliche Erlebnisse zu erinnern. Die Erinnerungen stellten sich erst im Laufe dieser Erinnerungsbemühungen ein. Und schließlich werden im Laufe der Zeit immer mehr Ereignisse berichtet.

Im Ergebnis ist es zwar möglich, dass die Schilderungen des Klägers erlebnisbasiert sind. Das Gericht misst dieser Möglichkeit in der anzustellenden Gesamtabwägung indes kein Übergewicht gegenüber der Möglichkeit von fremd- und autosuggestiven Scheinerinnerungen bei. Die reine Möglichkeit ist für eine Glaubhaftmachung indes nicht ausreichend. Die Einschätzung der Kammer deckt sich im Übrigen mit dem Ergebnis des von Dipl.-Psych. O im Rahmen des Verwaltungsverfahrens vorgelegten aussagepsychologischen Begutachtung, welche das Gericht im Wege des Urkundenbeweises verwerten konnte. Entgegen der Auffassung des Klägers sieht das keine vernünftigen Anhaltspunkte dafür, dass das Gutachten nicht objektiv erstattet wurde.

Weder die Angaben der Zeugin J T noch die aktenkundigen medizinischen Unterlagen rechtfertigen eine anderweitige Bewertung. Die Angabe der Zeugin, dass im Elternhaus durch Schläge respektive Ohrfeigen gezüchtigt wurde, und z.B. ihr Stiefbruder auch mit dem Handfeger geschlagen wurde, führt nicht zu einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit der Erlebnisfundiertheit der klägerseitigen Schilderungen. Zu groß ist hierfür der qualitative Unterschied zwischen den von der Zeugin einerseits und dem Kläger andererseits geschilderten Übergriffen. Auch die aktenkundigen medizinischen Befunde, in denen die Schilderungen des Klägers lediglich wiedergegeben werden bzw. die auf den - im Rahmen des Behandlungsverhältnisses nachvollziehbar unkritisch übernommenen - Schilderungen aufbauen, führen angesichts der bereits dargestellten Umstände nicht zu einer abweichenden Wahrscheinlichkeitsbeurteilung. Entsprechendes gilt auch für das Gutachten Dr. med. H.

Die Klage war abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 S. 1 SGG."

Dagegen richtet sich die rechtzeitige Berufung des Klägers.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 18.11.2019 zu ändern und den Beklagten nach den Anträgen des Klägers erster Instanz zu verurteilen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Beide Beteiligten haben einer Entscheidung durch den Berichterstatter als Einzelrichter zugestimmt. Im Übrigen wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung, über die der Berichterstatter kraft Einverständnisses der Beteiligten als Einzelrichter entscheiden konnte, ist unbegründet. Das angefochtene Urteil, auf das zur Vermeidung von Wiederholungen in vollem Umfang Bezug genommen wird, ist richtig.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht, § 160 Abs. 2 SGG.
Rechtskraft
Aus
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