S 12 SB 566/18

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
12
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 12 SB 566/18
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) streitig.

Mit Bescheid vom 04.01.2016 stellte der Beklagte bei dem Kläger am 00.00.0000 gebore-nen Kläger aufgrund einer Hirnleistungsminderung und einer seelischen Störung einen GdB von 50 fest.

Am 17.01.2018 stellte der Kläger einen Änderungsantrag. Hierbei gab er an, die Auswir-kungen der Gehirnverletzungen seien erheblich folgenreicher als bisher angenommen. Die bisherigen Behandlungen machten erkennbar, dass eine ausreichende berufliche Leis-tungsfähigkeit nicht mehr zu erlangen sei. Der Beklagte holte Befundberichte der Q Klink und des Diplom-Psychologen W. ein und wertete diese durch seinen ärztlichen Dienst aus. Dieser kam zu der Einschätzung, der GdB für die Hirnleistungsminderung sei mit 50, der für die seelische Störung mit 20 zu bewerten. Insgesamt sei der GdB weiter mit 50 zu bewerten, da eine wesentliche Änderung im Sinne einer Verschlimmerung zu den bisherigen Feststellungen nicht zu objektivieren sei.

Mit Bescheid vom 14.03.2018 lehnte der Beklagte daraufhin die Feststellung eines höhe-ren Grades der Behinderung ab. Hiergegen legte der Kläger am 03.04.2018 Widerspruch ein. Zur Begründung des Widerspruches legte er eine Stellungnahme des Dr. I. vor, wo-nach vor dem Hintergrund einer mehrmonatigen klinischen Behandlung und neuropsycho-logischer Diagnostik und Behandlung die Folgen des Schädel-Hirn-Traumas deutlich weit-reichender eingeschätzt werden müssten, als dies bislang möglich gewesen sei. Die Be-zirksregierung Münster lehnte – nach erneuter gutachterlicher Stellungnahme des ärztli-chen Dienstes – den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 14.06.2018 als unbe-gründet zurück.

Hiergegen richtet sich die vom Kläger, vertreten durch seine Prozessbevollmächtigten, am 11.07.2018 erhobene Klage. In diesem Zusammenhang legte der Kläger neben einem umfangreicherem Konvolut psychiatrischer und (neuro-)psychologischer Arztberichte auch ein neurologisches Gutachten des Professor Dr. G., Direktor der Klinik und Poliklinik für Neurologie vom 29.07.2016, welches im Rahmen eines zivilrechtlichen Rechtsstreits vor dem Landgericht Köln erstattet worden war, vor.

Das Gericht hat Befundberichte des behandelnden Neurologen und Psychiaters M., des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie sowie psychotherapeutische Medizin Dr. I. sowie des Diplom-Psychologen W. sowie darüber hinaus ein neurologisch psychiatrisches Gutachten der Frau Dr. M., nebst eines neuropsychologischen Zusatzgutachtens des PD Dr. L. eingeholt, welche gegenüber dem Gericht am 11.03.2020 nach persönliche Unter-suchung des Klägers erstattet worden sind. Den Beteiligten ist Gelegenheit zur Stellung-nahme zu den Gutachten gegeben worden.

Der Kläger, vertreten durch seine Prozessbevollmächtigten hält die in diesen Gutachten getroffenen Feststellungen insbesondere zur Höhe des Grades der Behinderung für nicht überzeugend. Er geht von einem GdB von 100 aus. Der Beklagte sieht sich durch die Aus-führungen der Gutachter in seinem bisherigen Vortrag bestärkt. Die Gutachterin Dr. M. hat in Ansehung der Einwände des Klägers eine ergänzende Stellungnahme abgegeben.

Unter dem 17.04.2020 hat der Kammervorsitzende mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden. Der Kläger, vertreten durch seine Prozessbevoll-mächtigten, hat am 19.05.2020, der Beklagte mit Schriftsatz vom 22.05.2020 einer Ent-scheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Der Kläger, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, beantragt schriftsätzlich,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 14.03.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.06.2018 zu verurteilen, bei dem Kläger einen GdB von 100 festzustellen.

Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht beschwert, da diese rechtmäßig sind. Er hat keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) als 50.

Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen – (SGB IX) in der Fassung des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundes-teilhabegesetz – BTHG) vom 23.12.2016 (BGBl. I S. 3234) sind Menschen mit Behinde-rungen solche, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleich-berechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung in diesem Sinne liegt dabei dann vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand ab-weicht, § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB IX.

Gemäß § 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung nach 10er Graden abgestuft dargestellt. Bei dem Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wird nach § 152 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.

Die Bemessung des Gesamt-GdB hat dabei in mehreren Schritten zu erfolgen und ist tat-richterliche Aufgabe (Bundessozialgericht – BSG – Beschluss vom 01.06.2017 – B 9 SB 20/17 B = juris; BSG Beschluss vom 09.12.2010 – B 9 SB 35/10 B = juris Rn. 5 m.w.N.; Landessozialgericht – LSG – Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11 = juris Rn. 32).

Zunächst sind unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens die einzelnen, nicht nur vo-rübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinn von regelwidrigen, von der Norm abwei-chenden Zuständen gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX und die daraus ableitenden Teilhabebeein-trächtigungen festzustellen. Sodann sind diese den in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. Schließlich ist unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen in einer Gesamtschau der Gesamt-GdB zu bilden (BSG Urteil vom 30.09.2009 – B 9 SB 4/08 R = juris Rn. 18 m.w.N.; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11 = juris Rn. 32).

Nach Teil A Ziffer 3 der Anlage zu § 2 der aufgrund § 30 Abs. 17 (a.F.) Bundesversor-gungsgesetzes (BVG) erlassenen Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (BGBl. I 2008, S. 2412 - Versorgungsmedizin-Verordnung) vom 10.12.2008, zuletzt geändert Artikel 26 des Gesetzes vom 12.12.2019 (BGBl. I S. 2652), die wegen § 152 Abs. 1 Satz 4 SGB IX auch im Schwerbehinderten-recht zur Anwendung kommt (Versorgungsmedizinische Grundsätze), sind zur Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung rechnerische Methoden, insbesondere eine Addition der Einzelgrade der Behinderung, nicht zulässig. Vielmehr ist bei der Beurteilung des Ge-samtgrades der Behinderung in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzelgrad der Behinderung bedingt und dann im Hinblick auf alle weite-ren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Grad der Behinderung 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Hierbei ist gemäß Teil A Ziffer 3 lit. d) ee) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu beachten, dass leichtere Gesundheitsstörun-gen mit einem Einzelgrad der Behinderung von 10 nicht zu einer Erhöhung des Gesamt-grades der Behinderung führen, selbst wenn mehrere dieser leichteren Behinderungen kumulativ nebeneinander vorliegen. Auch bei Leiden mit einem Einzelgrad der Behinde-rung von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine Zunahme des Gesamtausmaßes der Behinderung zu schließen.

Schließlich sind bei der Festlegung des Gesamt-GdB zudem die Auswirkungen im konkre-ten Fall mit denjenigen zu vergleichen, für die in den Versorgungsmedizinischen Grunds-ätzen feste GdB-Werte angegeben sind (BSG Urteil vom 02.12.2010 – B 9 SB 4/10 R = juris Rn. 25; vgl. auch Teil A Ziffer 3 lit. b) Versorgungsmedizinische Grundsätze).

Die anspruchsbegründenden Tatsachen sind, dies gilt nach allgemeinen Grundsätzen des sozialgerichtlichen Verfahrens auch im Schwerbehindertenrecht grundsätzlich im Vollbe-weis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachzuweisen (vgl. BSG Urteil vom 15.12.1999 - B 9 VS 2/98 R = juris Rn. 14; Bayerisches LSG Urteil vom 18.06.2013 – L 15 BL 6/10 = juris Rn. 67 ff.; Bayerisches LSG Urteil vom 05.02.2013 – L 15 SB 23/10= juris). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsa-chen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indes-sen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnis-ses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000 - B 9 VG 3/99 R = juris Rn. 11), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993 - 9/9a RV 1/92 = juris Rn. 14). Lässt sich der Vollbeweis nicht führen, geht die Nichterweislichkeit einer Tatsache zu Lasten dessen, der sich zur Begründung seines An-spruchs oder rechtlichen Handelns auf ihr Vorliegen stützen.

Im vorliegenden Fall steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die bei dem Kläger vorliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht die Feststellung eines GdB von mehr als 50 rechtfertigen.

Der Kläger leidet zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung im Wesentlichen un-ter einer Residualsymptomatik nach Schädel-Hirn-Trauma nach Verkehrsunfall im März 2014 mit kognitiven Leistungsstörungen und Beeinträchtigung der Aktivitäten des täglichen Lebens im Sinne eines organischen Psychosyndroms.

Das Vorliegen dieser komplexen Gesundheitsbeeinträchtigungen steht nach Auffassung der Kammer aufgrund der im Verwaltungs- und Klageverfahren eingeholten und vorgeleg-ten Befund- und Arztberichte und Gutachten fest. Die von Dr. M. und PD Dr. L. erstatte-ten Gutachten beruhen auf umfangreichen Untersuchungen erfahrener gerichtlicher Sach-verständigen, die unter Einsatz von diversen Hilfsmitteln durchgeführt worden sind. Die Kammer hat keinen Anlass an der Richtigkeit der in den Gutachten erhobenen medizini-schen Befunde und gestellten Diagnosen zu zweifeln. Die Beteiligten haben nach Auffas-sung der Kammer auch keine substantiierten Einwände gegen die medizinischen Feststel-lungen erhoben. Lediglich die Frage der Bewertung der Funktionsbeeinträchtigungen so-wie der hierauf folgende GdB blieb im Wesentlichen umstritten. Diese Feststellung ist frei-lich keine medizinisch sondern eine durch die Kammer vorzunehmende rechtliche Bewer-tung.

Die beim Kläger vorliegenden komplexen Beeinträchtigungen, die neben einer Einschrän-kung der Gedächtnisleistung und einer Aufmerksamkeitsstörung auch Aspekte eines so-genannten Chronischen Erschöpfungssyndroms ("chronic fatigue syndrome") mit umfas-sen, wie auch schon der langjährige Psychiater und Neurologe des Klägers M. attestiert hat, sind – dies steht zu Überzeugung der Kammer fest – Folge des durchlebten Ver-kehrsunfalls des Klägers mit Eintritt eines Schädel-Hirn-Traumas.

Maßgeblich für die versorgungsmedizinische Bewertung ist insoweit Teil B Ziffer 3.1. der Versorgungsmedizinischen Grundsätze. Ein entsprechender Hirnschaden ist danach dann nachgewiesen, wenn Symptome einer organischen Veränderung des Gehirns – nach Ver-letzung oder Krankheit nach dem Abklingen der akuten Phase – festgestellt worden sind. Bestimmend für die Beurteilung des GdB ist dabei das Ausmaß der bleibenden Ausfallser-scheinungen. Insoweit sind der neurologische Befund, die Ausfallserscheinungen im psy-chischen Bereich unter Würdigung der prämorbiden Persönlichkeit und ggf. das Auftreten von zerebralen Anfällen zu beachten. Bei der Mannigfaltigkeit der Folgezustände von Hirnschädigungen kommt ein GdB zwischen 20 und 100 in Betracht, wobei bei der Bewer-tung primär auf die unter Teil B Ziffer 3.1.1 der Versorgungsmedizinschen Grundsätze ge-nannte Gesamtbewertung abzustellen ist. Die unter Teil B Ziffer 3.1.2 der Versorgungs-medizinischen Grundsätze angeführten isoliert vorkommenden bzw. führenden Syndrome stellen freilich eine ergänzende Hilfe zur Beurteilung dar.

Gemäß Teil B Ziffer 3.1.1 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze bedingen Hirnschä-den mit geringer Leistungsbeeinträchtigung einen GdB von 30-40, Hirnschäden mit mittel-schwerer Leistungsbeeinträchtigung einen 50-60 und Hirnschäden mit schwerer Leis-tungsbeeinträchtigung einen GdB von 70-100.

Nach Teil B Ziffer 3.1.2 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ist der GdB bei Hirn-schäden mit isoliert vorkommenden bzw. führenden Syndromen zu unterscheiden. Bei Hirnschäden mit leichten psychischen Störungen (d.h. im Alltag sich gering auswir-kend) ist ein GdB von 30 -40, bei mittelgradigen psychischen Störungen (im Alltag sich deutlich auswirkend) ist ein GdB von 50 – 60 und bei schweren psychischen Störungen ist ein GdB von 70 – 100 möglich.

Bestehen zentrale vegetative Störungen als Ausdruck eines Hirndauerschadens (z.B. Stö-rungen des Schlaf-Wach-Rhythmus, der Vasomotorenregulation oder der Schweißregula-tion) und sind diese leicht, kommt ein GdB von 30, bei mittelgradigen – auch mit vereinzel-ten synkopalen Anfällen – ein GdB von 40 und bei häufigeren Anfällen oder erheblichen Auswirkungen auf den Allgemeinzustand ein solcher von 50 in Betracht.

Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen (spino-) zerebraler Ursache bedingen – je nach dem Ausmaß der Störung der Ziel- und Feinmotorik einschließlich der Schwierigkei-ten beim Gehen und Stehen (siehe hierzu auch bei Hör- und Gleichgewichtsorgan) – einen GdB zwischen 30 und 100. Hirnschäden mit kognitiven Leistungsstörungen (z. B. Aphasie, Apraxie, Agnosie) bedingen einen solchen von 30-40, sofern sie leicht (z.B. Restaphasie) sind. Bei mittelgradigen kognitiven Leistungsstörungen (z.B. Aphasie mit deutlicher bis sehr ausgeprägter Kommunikationsstörung) kommt ein GdB von 50 – 80, bei schweren (z.B. globale Aphasie) ein solcher von 90 – 100 in Betracht. Zerebral beding-te Teillähmungen und Lähmungen rechtfertigen bei leichte Restlähmungen und Tonusstörungen der Gliedmaßen einen GdB von 30. Bei ausgeprägteren Teillähmungen und vollständigen Lähmungen ist der GdB aus Vergleichen mit dem GdB bei Gliedmaßen-verlusten, peripheren Lähmungen und anderen Funktionseinbußen der Gliedmaßen abzu-leiten. Eine vollständige Lähmung von Arm und Bein (Hemiplegie) bedingt einen GdB von 100

Aufgrund der durchgeführten Ermittlungen steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass wesentliche Beeinträchtigungen im Bereich der Physis, insbesondere was die Frage der körperlichen Aktivität angeht, beim Kläger nicht verblieben sind. Es mag sein, dass der Anspruch des Klägers an ihn selbst – der Kläger war in der Vergangenheit nach eigenen Angaben sportlich sehr aktiv – hinter seinen Erwartungen zurückbleibt. Aus den vorgeleg-ten Arzt und Befundberichten ergibt sich allerdings ebenso wie aus dem Gutachten der Frau Dr. M., dass der Kläger weiterhin sehr um körperliche Fitness bemüht ist und fast täglich trainiert. Die körperliche Untersuchung durch Frau M. war insoweit ebenfalls unauf-fällig. Kraft, Tonus und Trophik beider Arme und Beine waren, ebenso wie das Gangbild, unauffällig. Die Armeigenreflexe waren mittellebhaft und seitengleich. Die Beineigenreflexe waren ebenfalls mittellebhaft und seitengleich. Die Bauchhautreflexe waren seitengleich in allen drei Etagen erhältlich. Der Tastsinn, das Schmerzempfinden, die Temperaturemp-findlichkeit sowie der Lagesinn an beiden Armen und Beinen waren unauffällig. Der Finger-Nase-Versuch gelang bei der Untersuchung linksseitig nur leicht dysmetrisch, rechts weit-gehend unauffällig. Der Knie-Hacke-Versuch war beidseits unauffällig. Im Romberg-Stehversuch und Unterberger-Tritt Versuch bestand keine Fallneigung, insgesamt sicher. Der Kläger befand sich in einem gepflegten Allgemein- und muskulösen Ernährungszu-stand.

Aufgrund des neuropsychologischen Zusatzgutachtens des PD Dr. L. steht für die Kam-mer fest, dass beim Kläger überdies eine normgerechtes allgemein intellektuelles Leis-tungsvermögen bestand. In dem intellektuellen Primärbereich der kausal analytischen Denkfähigkeit konnten keine Leistungseinschränkungen festgestellt werden. Bei diesen Intelligenzprüfungen erzielte der Kläger sogar einen deutlich überdurchschnittlichen Test-wert (funktionsspezifischer IQ Wert gleich 122). Weiterhin konnten keine Leistungsein-schränkungen in der rechnerischen Denkfähigkeit unter einfachen und erhöhten alltags-praktischen Anforderungsbedingungen, im visuellen Vorstellungsvermögen (und der ent-sprechenden Denkt – und Problemlösefähigkeit), in unterschiedlichen Funktionsbereichen der Wortflüssigkeit, der psychomotorischen Grund – und Aktionsgeschwindigkeit sowie der visuellen Lern- und Gedächtnisfähigkeit objektiviert werden. Es zeigten sich allerdings die allgemeine Konzentrationsfähigkeit, die Aufmerksamkeitskapazität in allen untersuchten Funktionsbereichen und die sprachbezogene Lern – und Gedächtnisfähigkeit deutlich re-duziert, wobei insoweit nach den Feststellungen des Gutachters zu berücksichtigen war, dass diese kognitiven Störungen zum Teil auch auf das erhöhte psychische Anspan-nungserleben des Klägers während dieser zeitlich ausgedehnten Untersuchungen zurück-zuführen war. Dies zeigte sich insbesondere darin, dass er z.B. in seinem Reaktionsver-halten auffallend gehemmt und auch blockiert wirkte. Auf psychometrischer und psycho-pathometrischer Befund– und Diagnoseebene ließen sich allerdings psychische Verstim-mungszustände nicht feststellen.

Die Tatsache, dass der Kläger im Rahmen der Begutachtung keine psychischen Sympto-me schilderte, die auf irgendwelche Störungen ab affektiver Erlebnisreaktionen hätten hinweisen können, ist – so der Gutachter – unter Berücksichtigung eines bei entsprechen-den Patienten durchaus nicht unüblichen krankheitsbedingten Ausblenden oder negieren psychische Auffälligkeiten, erklärbar. Dies darf nicht zu der Fehlannahme verleiten, es lä-gen in diesem Bereich keine Probleme vor.

Es zeigten sich im Rahmen der psychoneurologischen Zusatzbegutachtung zusammen-fassend erhebliche Einschränkungen in der zeitlich kognitiven Belastbarkeit des Klägers. Dieser Eindruck bestätigte sich auch in der Begutachtungssituation durch Frau Dr. M.

Aufgrund der vorliegenden Arzt- und Befundberichte und nicht zuletzt aufgrund der Schil-derungen des Klägers gegenüber der Gutachterin Dr. M., die freilich nach obigen Angaben durchaus krankheitsbedingt besonders bewertet worden sind, geht die Kammer davon aus, dass der Kläger seinen Haushalt in wesentlichen Zügen mit Unterstützung einer Rei-nigungskraft, die einmal pro Woche kommt, versorgen kann und dies auch tut. Er habe sich in diesen Sachen einen gewissen Rhythmus beibehalten, weil er früher ge-hofft habe, frühzeitig wieder an seine alte Arbeitsstelle zurückzukehren. Er stehe meist um 7:15 Uhr auf. Hinsichtlich des Schlafes berichtet er, dass das Einschlafen in aller Regel gehe, weil er immer sehr K. o. sei. Erwache aber eine auf, gehe zur Toilette, manchmal müsse er ein Hörbuch nehmen, über das er wieder einschlafe. Er koche mit dem Ther-momix®. Den Einkauf erledige er mit dem eigenen Wagen. Die Küche könne er sauber halten, er räume alles in die Spülmaschine. Auch das Befüllen der Waschmaschine und des Trockners übernehme er. Sachen wie Fensterputzen oder Bügeln erledige seine Putzhilfe. Die übrige Zeit wird mit Therapien und Sport ausgefüllt. Gerade letzteres zeigt sich auch im vorhandenen guten Trainingszustand des Klägers.

Der Kläger ist nach eigenen Angaben durchaus weiterhin in der Lage soziale Kontakte auf-rechtzuerhalten, wenn gleich freilich das berufliche Netzwerk sich gelichtet habe. Insbe-sondere zu einem Freund aus der Kindheit bestehe ein enger Kontakt, auch zu dessen Familie. Mit einer weiteren befreundeten Familie habe Urlaub in der Türkei unternommen. Wenn er Abendveranstaltungen besuchen wolle, was ihm grundsätzlich möglich sei, müs-se dies allerdings im Voraus geplant werden. Insgesamt leidet der Kläger nach eigenen Angaben unter den Einschränkungen, die nach seiner Auffassung jeden Lebensbereich betreffen. Er kann sich danach nur eine halbe Stunde konzentrieren, leide unter Kopf-schmerzen und könne sich auch nicht erholen. Der Kläger kommt in diesem Zusammen-hang auch auf Gedächtnisstörungen, Probleme in Gesprächen und eine deutlich erhöhte Strafbarkeit zu sprechen. Autofahrten könne er nur für kurze Strecken unternehmen.

Die Medikation des Klägers besteht nach eigenen Angaben aus Ibuprofen 800 mg bei Be-darf, wenn der Kopfschmerzen habe. Dies wäre regelmäßig in der Woche einmal, es könnten aber zwei bis dreimal werden. In manchen Wochen nehme aber auch keine ein. Im Fragebogen der Gutachterin gab der Kläger darüber hinaus an Modafinil einzunehmen. Im Rahmen des Begutachtungsgesprächs verneinte der Kläger allerdings eine spezifische Medikamenteneinnahme.

Unter Berücksichtigung dieser Beeinträchtigungen ist nach Auffassung der Kammer ent-sprechend den oben genannten Vorgaben der versorgungsmedizinischen Grundsätze die weiterhin die Feststellung des GdB von 50 angemessen. Eine wesentliche Änderung des Gesundheitszustandes, die eine höhere Bewertung rechtfertigen würde, ist nicht objekti-viert.

Der Kläger hat im März 2014 einen Verkehrsunfall erlitten, als dessen Folge eine kleine intrazerebrale Kontusionsblutung rechts frontobasal sowie traumatische Subarachnoidal-blutungen frontobasal beidseits aufgetreten sind. In der Kernspintomografie Kontrolle im August 2015 konnten diffuse axonale Schädigungen ausgeschlossen werden, sodass ein postkontussioneller Hirnsubstanzdefekt im Bereich der rechten Frontobasis als Residuum nachweisbar ist.

Im Rahmen der durchgeführten Begutachtungen, aber auch unter Berücksichtigung der im Übrigen vorgelegten und eingeholten Arzt- und Befundberichte steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass wesentliche Beeinträchtigungen im Sinne von (Teil-) Lähmungen oder Koordinations- bzw. Gleichgewichtsstörungen beim Kläger nicht zu objektivieren sind. Es finden sich freilich die bereits von dem behandelnden Psychiater M. beschriebenen Auf-merksamkeitsstörungen, affektiven Störungen sowie die Aspekte einer besonderen Ermü-dung des Klägers. Des Weiteren zu berücksichtigen sind auch die bereits vom behandeln-den Psychiater Dr. I. beschriebenen psychischen Beeinträchtigungen im Sinne einer auch depressiven Symptomatik. Hier sind insbesondere die Folgen der Trennung von seiner Lebensgefährtin aber auch die enttäuschten Erwartungen in den Wiedereinstieg in seine berufliche Tätigkeit zu nennen.

Für die Kammer steht nach dem Ergebnis der durchgeführten Ermittlungen zur Überzeu-gung fest, dass nach den beim Kläger vorliegenden Beschwerdebild – auch in Ansehung der etwa für seelische Beeinträchtigungen gemäß Teil B Ziffer 3.7 der versorgungsmedizi-nischen Grundsätze hier gemäß Teil B Ziffer 3.1.1 von Hirnschäden mit mittelschwerer Leistungsbeeinträchtigung auszugehen ist.

Beim Kläger stehen absolut im Vordergrund zerebrale Leistungsbeeinträchtigungen und organisch – psychische Störungen. Die Annahme des Klägers, bei ihm lägen schwerere Beeinträchtigungen vor, die einen GdB der Behinderung von 100 rechtfertigen würden, verkennt das beim Kläger bestehende und oben beschriebene Leistung- und Aktivitätsniveau. Von einem GdB von 100 wäre auszugehen etwa bei schweren zerebralen Leistungsbeeinträchtigung, schweren organisch psychischen Störungen, hochgradigen Paresen, schweren Koordination oder Gleichgewichtsstörungen, schweren Sprech–/ Sprachstörungen wie globaler Aphasie oder einer Kombination mehrerer solcher mittelgradige Störungen.

Solche sind beim Kläger indes nicht ansatzweise objektiviert. Insbesondere die Annahme, der Kläger würde ohne sein aktuelles Umfeld in seiner Wohnung "verwahrlosen", ist durch die medizinischen Ermittlungen nicht ansatzweise gestützt. Es rechtfertigte sich insbesondere auch nicht daraus, dass der Kläger nur in Begleitung der Familie oder von Freunden in Urlaub fährt und wäre auch dann nicht gerechtfertigt, wenn der Kläger bei Fahrten die über einen kurzen Weg hinaus von seiner Mutter gefahren wird. Der Kläger ist, dies wurde bereits mehrfach dargestellt, in der Lage weiter soziale Aktivitäten durchzuführen und einen Freundeskreis aufrechtzuerhalten. Er ist darüber hinaus auch in der Lage und motiviert, entsprechende Therapien durchzuführen und seinem Fitnessprogramm nachzukommen. Die Tatsache, dass er sich selbst als "schlecht" in der Haushaltsführung bezeichnet rechtfertigt ebenfalls keinesfalls den vom Kläger avisierten GdB. Der GdB von 50 ist nach Auffassung der Kammer auch in Ansehung der dargelegten deressiven Phasen sowie der beim Kläger nachgewiesen erhöhten Ermüdbarkeit zutreffend. Die Klage war demnach abzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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