S 8 KR 388/18

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 8 KR 388/18
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Eine verspätete Feststellung der Arbeitsunfähigkeit kann ausnahmsweise entschuldigt sein, sofern die Versicherte wegen einer körperlichen Erkrankung ihre Hausärztin nicht aufsuchen kann und sie alles in ihrer Macht Stehende und Zumutbare getan hat, um eine ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit zu erlangen.
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin unter Aufhebung des Bescheides vom 14.02.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.06.2018 Krankengeld in dem gesetzlich vorgesehenen Umfang zu gewähren.

Die Beklagte hat der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Krankengeld.

Die 1958 geborene Klägerin war seit dem 08.06.2017 wegen Knieschmerzen arbeitsunfähig erkrankt (Erstbescheinigung vom 08.06.2017). Die Beklagte gewährte ihr daraufhin Krankengeld i. H. v. 26,84 EUR brutto und 23,59 EUR netto (Bescheid vom 26.07.2017). Mit Folgebescheinigungen wurde die Klägerin wegen sonstigen Knorpelkrankheiten, einer Innenmeniskopathie sowie sonstigen näher bezeichneten Krankheiten der Synovialis und der Sehnen arbeitsunfähig krankgeschrieben; auf die entsprechenden Folgebescheinigungen wird Bezug genommen. Ärztlicherseits wurde neben dem Knorpelschaden im Verlauf festgestellt, dass Innenmeniskus abgerissen und der Außenmeniskus angerissen ist. Die Klägerin war bis zum 31.12.2017 sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen.

Mit Folgebescheinigung vom 10.01.2018 wurde die Klägerin bis zum 07.02.2018 arbeitsunfähig krankgeschrieben. Die weitere Arbeitsunfähigkeit wurde erst am 12.02.2018 festgestellt. Die weitere Arbeitsunfähigkeit wurde mit mehreren Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zunächst bis zum 08.05.2018 festgestellt.

Die Beklagte lehnte die weitere Gewährung von Krankengeld mit Bescheid vom 14.02.2018 ab, da der letzte Zahlschein nur bis zum 07.02.2018 gegangen sei. Der Anspruch auf Krankengeld entstehe immer am Tag der ärztlichen Feststellung, selbst bei einer fortlaufenden Arbeitsunfähigkeit. Die folgende Arbeitsunfähigkeit müsse spätestens am Tag nach dem Ende der laufenden Krankschreibung ausgestellt werden. Die Ausstellung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hätte somit am 08.02.2018 erfolgen müssen, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung der Klägerin sei jedoch auf den 12.02.2018 datiert. Sofern eine fortbestehende Arbeitsunfähigkeit zu spät bescheinigt werde, ende die beitragsfreie Mitgliedschaft am letzten Tag des vorherigen Krankengeldbezuges. Damit ende auch der Anspruch auf Krankengeld.

Die Klägerin legte mit Schreiben vom 17.02.2018 Widerspruch dagegen ein. Sie sei wegen einer schweren Migräne in der Zeit vom 07.02.2018 bis 09.02.2018 an einem geplanten Arztbesuch gehindert gewesen. Zudem sei ein Hausbesuch durch ihre Ärztin wegen einer örtlichen Grippewelle nicht möglich gewesen. Deswegen habe sie ihre Ärztin am 12.02.2018 aufgesucht und die nach wie vor bestehende Arbeitsunfähigkeit attestieren lassen. Dem Widerspruch war ein ärztliches Attest vom 16.02.2018 beigefügt gewesen, wonach die Klägerin wegen stärkster Migräne mit Erbrechen und Sehstörungen ihre Hausärztin nicht aufsuchen konnte.

Die Beklagte holte weitere Erkundigungen bei der Hausärztin ein. Danach hatte die Klägerin sich telefonisch am 07.02.2018 bei ihr gemeldet und um einen Hausbesuch gebeten. Ein Hausbesuch sei jedoch wegen einer Grippewelle und der bei der Klägerin bestehenden Migräne nicht möglich gewesen. Die Beklagte vertrat mit Schreiben vom 13.03.2018 die Auffassung, dass gesundheitliche Gründe nicht von dem Erfordernis entbinden würden, die weitere Arbeitsunfähigkeit lückenlos ärztlich feststellen zu lassen. Zwischenzeitlich musste sich die Klägerin bei der Beklagten freiwillig versichern lassen und entsprechende Beiträge an die Beklagte zahlen.

Die Klägerin hielt mit Schreiben vom 26.03.2018 den Widerspruch aufrecht. Sie sei ihrer Mitwirkungspflicht nach besten Wissen und Gewissen nachgekommen. Sie sei auf Grund einer kurzfristigen Erkrankung nicht in der Lage gewesen, ihre behandelnde Ärztin zur Ausstellung der erforderlichen Folgebescheinigung aufzusuchen. Dies könne jedoch kaum als eine Verletzung ihrer Mitwirkungspflicht angesehen werden. Sie geht auch auf Grund der erfolgten Ermittlungen der Beklagten davon aus, dass diese sehr wohl einen weitergehenden Ermessensspielraum habe. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei zudem zu berücksichtigen. Sie sei weiterhin arbeitsunfähig erkrankt und könne deswegen auch keine Leistungen der Arbeitslosenversicherung in Anspruch nehmen. Durch die Übernahme der monatlichen Beiträge durch ihren Ehemann sei beider Existenzen gefährdet. Die Beklagte erläuterte ihre Entscheidung nochmal telefonisch sowie mit weiterem Schreiben vom 03.04.2018.

Die Beklagte half dem Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 07.06.2018 nicht ab. Bei der rechtzeitigen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit handele es sich um eine Obliegenheit der Versicherten, sodass diese auch die Folgen einer unterbliebenen bzw. verspäteten ärztlichen Feststellung zu tragen habe. Die davon anerkannte Ausnahme – Geschäftsunfähigkeit im maßgeblichen Zeitpunkt – läge nicht vor. Im Übrigen sei die Klägerin seit dem 08.02.2018 über ihren Ehemann familienversichert.

Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 04.07.2018 Klage dagegen erhoben. Sie habe erst nach dem Abklingen der Migräne den nächstfolgenden Arzttermin am darauffolgenden Montag nutzen können, um der erforderlichen Untersuchung und Attestierung nachzukommen. Ihr Ehemann sei zudem Beamter und privat versichert. Er müsse derzeit für ihren Versicherungsbeitrag aufkommen. Es sei ihr mit der schweren Migräne unmöglich gewesen, die Arztpraxis aufzusuchen.

Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, ihr unter Aufhebung des Bescheides vom 14.02.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.06.2018 Krankengeld in dem gesetzlich vorgesehenen Umfang zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie verweist auf ihre Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden.

Das Gericht hat am 08.06.2020 eine mündliche Verhandlung durchgeführt; auf den Inhalt des entsprechenden Protokolls wird verwiesen.

Entscheidungsgründe:

A. Streitgegenstand der Klage ist die Gewährung von Krankengeld für den Zeitraum vom 08.02.2018 bis zum gesetzlich vorgesehenen Höchstzeitraum.

B. Die Klage ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht bei dem örtlich zuständigen Gericht gemäß §§ 57 Abs. 1, 78, 87 Abs. 2 90 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erhoben worden. Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 4 SGG statthaft.

Nach § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG kann das Gericht einen Beteiligten auch zur Leistung nur dem Grunde nach verurteilen, soweit nach § 54 Abs. 4 oder 5 SGG eine Leistung in Geld begehrt wird, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Die Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Einerseits begehrt die Klägerin eine Leistung nach § 54 Abs. 4 SGG, andererseits besteht auf das von ihr begehrte Krankengeld ein Rechtsanspruch nach § 19 Abs. 2 Satz 1 SGB XII. Es ist insofern wahrscheinlich, dass der Höhe nach ein Geldbetrag zu zahlen sein wird (Keller in Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, Kommentar, 11. Auflage, § 130 Rn. 2c).

C. Die Klage ist auch begründet. Die Beklagte hat zu Unrecht mit Bescheid vom 14.02.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.06.2018 die Gewährung von Krankengeld abgelehnt, sodass die Klägerin in ihren Rechten verletzt wird. Der Klägerin steht ein Anspruch auf Krankengeld nach § 44 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) zu.

Nach § 44 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankengeld, wenn die Krankheit sie arbeitsunfähig macht oder sie auf Kosten der Krankenkasse stationär in einem Krankenhaus, einer Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung behandelt werden.

Unstreitig war die Klägerin arbeitsunfähig erkrankt. Sie war entgegen der Ansicht der Beklagten auch mit Anspruch auf Krankengeld bei ihr versichert. Der Anspruch auf Krankengeld war dabei nicht nach § 46 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 SGB V ausgeschlossen (dazu unter I. – III.).

I. Grundsätzlich endet nach § 190 Abs. 2 SGB V die Mitgliedschaft versicherungspflichtig Beschäftigter mit dem Ablauf des Tages, an dem das Beschäftigungsverhältnis gegen Arbeitsentgelt endet. Nach § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V bleibt jedoch die Mitgliedschaft Versicherter erhalten, sofern u. a. ein Anspruch auf Krankengeld besteht oder bezogen wird. Diese fortbestehende Mitgliedschaft endet jedoch, sofern kein Anspruch auf Krankengeld mehr besteht.

Nach § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V entsteht der Anspruch auf Krankengeld bei ambulanter Behandlung mit der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit. Nach § 46 Satz 2 SGB V bleibt der Anspruch auf Krankengeld jeweils bis zu dem Tag bestehen, in dem die weitere Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit ärztlich festgestellt wird, wenn diese ärztliche Feststellung spätestens am nächsten Werktag nach dem zuletzt bescheinigten Ende der Arbeitsunfähigkeit erfolgt; Samstage gelten insoweit nicht als Werktage (§ 46 SGB V in der Fassung vom 16.07.2015, gültig ab dem 23.07.2015 bis 10.05.2019; im Weiteren a. F.). Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung müssen die Voraussetzung des Anspruches auf Krankengeld bei zeitlich befristeter Feststellung der Arbeitsunfähigkeit für jeden Bewilligungsabschnitt erneut festgestellt werden, da die Krankenkassen – unter Bezugnahme auf die vorgelegte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, ggf. unter Zuhilfenahme des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) – abschnittsweise Krankengeld gewähren. Der Anwendungsbereich des § 46 Abs. 1 Nr. 2 SGB V erstreckt sich insoweit auf jeden weiteren Bewilligungsabschnitt mit der Folge, dass Lücken bezüglich der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit zum Verlust der Mitgliedschaft und damit des Anspruches führen (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014, Az.: B 1 KR 35/14 R – juris – Rn. 20). Nach der ständigen Rechtsprechung ist die Gewährung von Krankengeld dementsprechend bei verspäteter Meldung auch dann ausgeschlossen, wenn die Leistungsvoraussetzungen im Übrigen zweifelsfrei gegeben sind und den Versicherten keinerlei Verschulden an dem unterbliebenen oder nicht rechtzeitigen Zugang der Meldung trifft (BSG, aaO). Es handelt sich um eine Obliegenheit der Versicherten, welche strikt zu handhaben ist. Auch in dem Fall, in denen sich der Versicherte und die Krankenkasse über das Bestehen von Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung eines Krankengeldanspruches streiten, hat der Versicherte diese Obliegenheit zu beachten. Es ist dem Versicherten auch zumutbar, seine Arbeitsunfähigkeit jeweils vor Fristablauf ärztlich feststellen zu lassen (vgl. BSG, Urteil vom 16.12.2014, Az.: B 1 KR 37/14 R – juris – Rn. 22).

Die Klägerin war bis zum 31.12.2017 sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen, sodass sie bis dahin auch mit Anspruch auf Krankengeld versichert gewesen war. Darüber hinaus war sie aber nur mit Anspruch auf Krankengeld versichert, sofern sie rechtzeitig vor Fristablauf ihre Arbeitsunfähigkeit feststellen ließ. Vorliegend lief die letzte Feststellung der Arbeitsunfähigkeit bis zum 07.02.2018. Die Klägerin hat jedoch erst am 12.02.2018 ihre weitere Arbeitsunfähigkeit feststellen lassen, sodass diese Feststellung grundsätzlich nicht fristgemäß erfolgte. Folge der nicht fristgemäßen Feststellung wäre, dass kein Anspruch auf Krankengeld mehr bestünde und deswegen die Mitgliedschaft mit Anspruch auf Krankengeld am 08.02.2018 geendet hätte.

II. Dieses unter I. gefundene Ergebnis muss unter Berücksichtigung der in der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze korrigiert werden. Danach endet die Mitgliedschaft im Anspruch auf Krankengeld nach § 46 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 SGB V nicht, wenn die ärztliche Feststellung oder die Meldung der Arbeitsunfähigkeit durch Umstände verhindert oder verzögert worden sind, die dem Verantwortungsbereich der Krankenkassen und nicht dem des Versicherten zuzurechnen sind. Eine Ausnahme ist zudem dann gegeben, sofern bei der Versicherten im Zeitpunkt der notwendigen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit geschäfts- oder handlungsunfähig ist und wegen der Handlungsunfähigkeit nicht in der Lage ist, die für die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit erforderlichen Handlungen vorzunehmen. Eine weitere Ausnahme ist anzuerkennen, wenn eine Versicherte entsprechend den gesetzlichen Vorgaben innerhalb eines zeitlichen Rahmens einer zuvor attestierten Arbeitsunfähigkeit einen Vertragsarzt zu dem Zweck aufgesucht, um für die Weitergewährung von Krankengeld eine ärztliche Arbeitsunfähigkeit-Folgebescheinigung zu erlangen und dazu ein Arzt-Patienten-Kontakt stattgefunden hat, aber gleichwohl die begehrte Erteilung einer solchen Bescheinigung unterbleibt; dann kann es – auch unter dem Blickwinkel des allgemeinen Gleichheitssatzes – nicht entscheidend darauf ankommen, aus welchen Gründen der Vertragsarzt dem Versicherten die erbetene Bescheinigung gleichwohl zu Unrecht verweigert. In einem solchen Fall hat die Versicherte alles in ihrer Macht-Stehende getan, um ihre Ansprüche zu wahren, ist aber trotz Arzt-Patienten-Kontakt (unabhängig von den Gründen) daran gehindert worden (vgl. dazu BSG, Urteil vom 11.05.2017, Az.: B 3 KR 22/15 R – juris – Rn. 26; BSG, Urteil vom 16.12.2014, Az.: B 1 KR 37/14 R – juris – Rn. 26). Sofern eine vertragsärztliche Praxis die Versicherte falsch berät, können sich die Versicherten von ihrer Obliegenheit nicht entlasten (Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. Juli 2018, Az.: L 1 KR 196/16 – juris – Rn. 29). Nach neuster Rechtsprechung des Bundessozialgerichts steht es einem "rechtzeitig" erfolgten Arzt-Patienten-Kontakt gleich, wenn die Versicherte alles in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare getan hat und rechtzeitig innerhalb der anspruchsbegründenden bzw. -erhaltenden zeitlichen Grenzen versucht hat, eine ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung des Anspruchs auf Krankengeld zu erhalten, es dazu aber aus dem Arzt und der Krankenkasse zurechenbaren Gründen erst verspätet gekommen ist. Dies gilt insbesondere, sofern der Grund für das nicht rechtzeitige Zustandekommen in der Sphäre des Vertragsarztes und nicht in derjenigen der Versicherten liegt (BSG, Urteile vom 26.02.2020, Az.: B 3 KR 9/19 R und B 3 KR 10/19 R).

Vorliegend hat die Mitgliedschaft der Klägerin mit Anspruch auf Krankengeld weiter bestanden, da sie auf Grund der im Zeitraum vom 07.02.2018 bis 09.02.2018 vorliegenden Migräne körperlich handlungsunfähig war (dazu unter 1.). Sie ist zudem ihren Obliegenheitspflichten nachgekommen und die verspätete Feststellung der Arbeitsunfähigkeit ist der Beklagten und nicht der Klägerin zuzurechnen, sodass zusätzlich auch deswegen der Anspruch auf Krankengeld weiter fortbesteht (dazu unter 2.).

1. Unter dem Begriff der Handlungsunfähigkeit wird im Rahmen des bürgerlichen Rechts die Fähigkeit verstanden, durch eigenes Verhalten Rechtswirkungen, insbesondere Rechte und Pflichten begründen, hervorzubringen (Staudinger/Kannowski (2018) BGB § 1, Rn. 2), wobei zwischen Geschäfts- und Deliktsfähigkeit unterschieden wird. Nach § 104 Nr. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist geschäftsunfähig, wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet. Daran knüpft insoweit auch § 11 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) an, sofern es bestimmt, dass zur Vornahme von Verfahrenshandlungen natürliche Personen sind, die nach bürgerlichem Recht geschäftsfähig sind, sodass dieser Begriffsinhalt auch unproblematisch im Rahmen der §§ 44 – 49 SGB V anzuwenden ist.

Die Klägerin war jedoch nicht durch eine Geschäftsunfähigkeit daran gehindert gewesen, ihre Arbeitsunfähigkeit nahtlos feststellen zu lassen. Vielmehr bestand bei ihr eine körperliche Handlungsunfähigkeit, die es ihr unmöglich machte, ihren Hausarzt aufzusuchen und die begehrte Feststellung treffen zu lassen.

Die Klägerin hat insofern in der mündlichen Verhandlung glaubhaft geschildert, dass sie während des Migräne-Anfalls vom 07.02.2018 bis zum 09.02.2018 unter Sehstörungen, Erbrechen und Stuhlgang litt. Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin sich diesen Migräne-Anfall nur ausgedacht hat oder seine Auswirkungen stark übertrieben hat, hat das Gericht im Rahmen der Befragung in der mündlichen Verhandlung nicht gewonnen. Vielmehr war die Schilderung der Klägerin schlüssig und nachvollziehbar. Vor diesem Hintergrund ist das Gericht davon überzeugt, dass es der Klägerin aus diesem Grund es tatsächlich unmöglich war, ihre Hausärztin aufzusuchen und ihre weitere Arbeitsunfähigkeit feststellen zu lassen.

Die hier gezogene Feststellung, dass auch ausnahmsweise die körperliche Handlungsunfähigkeit zur Entschuldigung von Fristversäumnissen im Rahmen des Anspruches auf Krankengeld ausreicht, beruht insoweit auf der Auslegung der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Das Bundessozialgericht hat in seiner Entscheidung vom 11.05.2017 insoweit ausgeführt:

"Trotz der gebotenen grundsätzlich strikten Anwendung der oa gesetzlichen Regelungen hat die Rechtsprechung des BSG seit jeher in engen Grenzen bestimmte Ausnahmen von den Vorgaben und Grundsätzen anerkannt. So sind dem Versicherten gleichwohl Krg-Ansprüche zuerkannt worden, wenn die ärztliche Feststellung (oder die rechtzeitige Meldung der AU nach § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V) durch Umstände verhindert oder verzögert worden ist, die dem Verantwortungsbereich der Krankenkassen und nicht dem Verantwortungsbereich des Versicherten zuzurechnen sind (zusammenfassend BSGE 95, 219 = SozR 4-2500 § 46 Nr. 1, Rn. 18 ff). Derartiges hat das BSG bejaht bei Fristversäumnissen wegen Geschäfts- oder Handlungsunfähigkeit des Versicherten" (BSG, Urteil vom 11. Mai 2017, Az.: B 3 KR 22/15 R – juris – Rn. 22).

Das Bundessozialgericht hätte sich insoweit bei seinen Ausführungen auf die Bejahung einer Ausnahme bei Fristversäumnissen wegen Geschäftsunfähigkeit beschränken können, da diese im bürgerlichen Recht (neben der insoweit nicht einschlägigen Deliktsunfähigkeit) Bestandteil des Begriffes der Handlungsunfähigkeit darstellt und Handlungsunfähigkeit in diesem Zusammenhang den Oberbegriff darstellt. Das Bundessozialgericht hat zudem Geschäftsunfähigkeit und Handlungsfähigkeit – wie sich aus der Verwendung des Wortes "oder" ergibt – als alternative Möglichkeiten angesehen, die ausnahmsweise Fristversäumnisse von Versicherten im Rahmen des Bezugs von Krankengeld entschuldigt erscheinen lassen. Vor diesem Hintergrund muss mit dem Begriff der "Handlungsunfähigkeit" im Rahmen der §§ 44 f. SGB V eine weitergehende Bedeutung zukommen als im Rahmen des Zivilrechts, damit es insoweit einen eigenständigen Anwendungsbereich behält. Ansonsten wäre es nicht nachvollziehbar, aus welchen Gründen die höchstrichterliche Rechtsprechung neben Geschäftsunfähigkeit auch Handlungsunfähigkeit als gleichwertige Möglichkeiten ansieht, obwohl Geschäftsunfähigkeit ein Unterfall der Handlungsunfähigkeit darstellt und insoweit die Nennung von Geschäftsunfähigkeit ausreichend gewesen wäre (auch körperliche Handlungsunfähigkeit für ausreichend haltend: Sonnhoff in jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 46 SGB V (Stand: 15.06.2020), Rn. 45). Neben Geschäftsunfähigkeit als Unterfall der Handlungsunfähigkeit ist ein Fristversäumnis im Rahmen des § 46 SGB V somit auch dann entschuldigt, sofern es der Versicherten wegen einer Erkrankung, die gerade nicht zu einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit führt, objektiv unmöglich ist, die für die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit maßgebende Handlung vorzunehmen. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, sodass aus diesem Grund der Anspruch auf Krankengeld weiterhin besteht und die Klägerin somit mit Anspruch auf Krankengeld weiterhin bei der Beklagten versichert ist.

2. Nach der bereits oben zitierten Rechtsprechung muss die Versicherte alles in ihrer Macht Stehende und ihr Zumutbare rechtzeitig getan haben, um eine ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit zu erhalten, dies aber aus dem Arzt und der Krankenkasse zurechenbare Gründe erst verspätet erhalten haben und der Grund dafür in der Sphäre der Krankenkasse bzw. des Arztes liegen.

Vorliegend hat der Hausärztin der Klägerin ausweislich ihrer, von der Klägerin bereits im Widerspruchsverfahren vorgelegten, ärztlichen Bescheinigung vom 28.02.2018 bestätigt, dass sich die Klägerin bei ihr telefonisch gemeldet hat und um einen Hausbesuch gebeten hatte. Sie hat weiterhin bestätigt, dass es ihr wegen der im Jahre 2018 stattgefundenen Grippewelle unmöglich war, Hausbesuche durchzuführen. Damit hat die Klägerin alles in ihrer Macht Stehende und Zumutbare rechtzeitig getan, um eine ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit zu erhalten. Ihr war es insbesondere nicht zumutbar, sich an einen anderen Arzt zu wenden. Das Bundessozialgericht hat insofern entschieden, dass Versicherten ein "Arzt-Hopping" nicht zugemutet werden kann. Vielmehr sei der Wunsch nachvollziehbar, von dem mit der Arbeitsunfähigkeit schon vertrauten Arzt weiterbetreut zu werden (vgl. BSG, Urteile vom 26.03.2020, Az.: B 3 KR 9/19 R und B 3 KR 10/19 R).

Damit hat die Klägerin auch aus diesem Grund einen Anspruch auf Krankengeld, sodass ihre Mitgliedschaft mit Anspruch auf Krankengeld weiterhin fortbesteht. Dabei muss das Gericht nicht entscheiden, ob die Voraussetzungen unter I. und II. kumulativ vorliegen müssen oder insoweit das Vorliegen einer der beiden Konstellationen ausreicht; das Gericht tendiert allerdings dazu, dass beide Voraussetzungen vorliegen müssen, um die verspätete Feststellung der Arbeitsunfähigkeit ausnahmsweise entschuldigen zu können.

III. Nach Bejahung einer Mitgliedschaft der Klägerin mit Anspruch auf Krankengeld ist der Anspruch nach den obigen Ausführungen auch nicht nach § 46 Sätze 1, 2 SGB V ausgeschlossen. Weitere Ausschlussgründe sind ebenso nicht ersichtlich, sodass der Anspruch auf Krankengeld besteht. Allerdings konnte das Gericht den Anspruch auf Krankengeld nur im gesetzlichen Umfang zusprechen, da die Klägerin in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt hat, dass sie weiterhin arbeitsunfähig erkrankt ist, jedoch in der bis zum 07.06.2018 laufenden Verwaltungsakte die Arbeitsunfähigkeit nur bis zum 08.05.2018 nachgewiesen ist. Nach Rechtskraft des Urteils wird die Beklagte bei seiner Ausführung zu prüfen haben, in welchem zeitlichen Umfang der Klägerin Krankengeld zusteht.

D. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und trägt dem Ausgang der jeweiligen Verfahren Rechnung. Die Berufung ist nach §§ 143, 144 SGG zulässig, da die Klägerin selbst mit den nachgewiesenen Zeiten der Arbeitsunfähigkeit bei einem kalendertäglichen Krankengeld von 23,59 EUR für die Dauer von drei Monaten den Wert des Beschwerdegegenstandes von 750,-EUR überschritten hat.
Rechtskraft
Aus
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