L 14 AS 530/20 B PKH

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
14
1. Instanz
SG Neuruppin (BRB)
Aktenzeichen
S 26 AS 649/19
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 14 AS 530/20 B PKH
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Ein Antrag auf Prozesskostenhilfe darf nicht allein unter Hinweis auf die fehlende Klagebegründung wegen fehlender Erfolgsaussicht abgelehnt werden, wenn dem Gericht der Streitgegenstand anderweitig - z. B. durch einen ausführlichen Widerspruchsbescheid, die Verwaltungsakten und/oder den Klageantrag hinreichend bekannt ist.
Auf die Beschwerde der Kläger wird der Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 17. Februar 2020 aufgehoben. Die abschließende Ent-scheidung über den Antrag der Kläger auf Bewilligung von Prozesskos-tenhilfe wird dem Sozialgericht übertragen. Kosten sind für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde der Kläger gegen den Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 17. Februar 2020, mit dem dieses ihren Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhil-fe (PKH) abgelehnt hat, weil es "mangels Vorlage einer Klagebegründung die hinrei-chenden Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung nicht zu beurteilen" vermöge, ist zulässig und begründet. Mit der genannten Begründung hätte das Sozialgericht den PKH-Antrag nicht ablehnen dürfen.

I. Die Kläger erhoben durch ihren Prozessbevollmächtigten am 10. Mai 2019 Klage mit dem Antrag, den Bescheid vom 31. Januar 2019 in der Gestalt des Wider-spruchsbescheids vom 8. April 2019 aufzuheben und ihnen "die beantragten Leis-tungen (Mietschuldenübernahme)" zu gewähren; eine Klagebegründung erfolge nach Akteneinsicht. Dem zugleich gestellten PKH-Antrag waren Unterlagen zu den persön-lichen und wirtschaftlichen Verhältnissen der Kläger sowie der o.g. Widerspruchsbe-scheid beigefügt. Der Prozessbevollmächtigte übersandte die ihm vom Beklagten überlassenen Verwaltungsakten (drei Bände) nach Akteneinsicht im Juni 2019 an das Sozialgericht. Dieses forderte ihn mit Schreiben vom 16. Oktober 2019 auf, die Klage binnen sechs Wochen zu begründen. Nachdem die Klage in der Folgezeit nicht begründet wurde, erließ das Sozialgericht den angefochtenen, den Klägern am 19. Februar 2020 zugestellten Beschluss. Hiergegen richtet sich deren Beschwerde vom 17. März 2020.

II. Für die Bewilligung von PKH im sozialgerichtlichen Verfahren gelten nach § 73a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Vorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO) über die PKH (mit Ausnahme von § 127 Abs. 2 Satz 2 ZPO) entsprechend. Gemäß § 114 Satz 1 ZPO erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechts-verfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Bei der Prüfung der Erfolgsaussicht ist zu berücksichtigen, dass die Anwendung des § 114 ZPO dem aus Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz abzuleitenden verfassungsrechtlichen Gebot entsprechen soll, die Situation von Be-mittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes weitgehend anzugleichen. Daher dürfen die Anforderungen an die Erfolgsaussicht nicht über-spannt werden; hinreichende Erfolgsaussicht ist z.B. zu bejahen, wenn eine Beweis-aufnahme ernsthaft in Betracht kommt und keine konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil der die PKH begehrenden Partei ausgehen wird (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschlüsse vom 29. September 2004 - 1 BvR 1281/04 -, vom 14. April 2003 - 1 BvR 1998/02 - und vom 12. Januar 1993 - 2 BvR 1584/92 -; alle juris).

1. Ein bewilligungsreifer PKH-Antrag setzt u.a. die Darstellung des Streitverhältnisses unter Angabe der Beweismittel voraus (§ 117 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Der Rechtschutz-suchende muss wenigstens im Kern deutlich machen, auf welche rechtliche Bean-standung er seine Klage stützt, weil nur so das Gericht die Erfolgsaussichten prüfen kann (BVerfG, Beschluss vom 14. April 2010 - 1 BvR 362/10 -, juris, m.w.N.). Fehlt dies, so kann jedoch alleine deswegen PKH nicht abgelehnt werden (Meyer-Ladewig/Kel¬ler/Leitherer/B. Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 12.A., § 73a Rn. 5a).

Dies ergibt sich aus dem systematischen Zusammenspiel mit § 92 Abs. 1 Satz 1 SGG. Nach dieser Vorschrift muss die Klage den Kläger, den Beklagten und den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen. Sie soll nach § 92 Abs. 1 Satz 3 SGG einen bestimmten Antrag enthalten. Die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel sollen angegeben, die angefochtene Verfügung und der Widerspruchs-bescheid sollen in Abschrift beigefügt werden (§ 92 Abs. 1 Satz 4 SGG). Ausrei-chend ist es, wenn das Gericht das Klagebegehren nach Auslegung (vgl. § 123 SGG) – ggf. unter Anwendung des Meistbegünstigungsgrundsatzes (statt vieler: Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 27. September 2011 - B 4 AS 160/10 R -, juris, m.w.N.) – ermitteln kann, etwa bei Übersendung der angefochtenen Bescheide (Föllmer, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 92 SGG, Rn. 30; Meyer-Ladewig/Keller/ Lei¬therer/B. Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 12.A., § 92 Rn. 8; jeweils m.w.N.). Über die Klage entscheiden die Sozialgerichte im Rahmen der ihnen aufer-legten Amtsermittlung (§ 103 SGG), ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein (§ 123 SGG). Sie dürfen dabei nicht nur den konkreten Klagevortrag berück-sichtigen, sondern müssen den mit der Klage anhängig gemachten Streitgegenstand umfassend prüfen (statt vieler: BSG, Urteil vom 18. August 2005 - B 7a AL 4/05 R -, juris, m.w.N.). Insoweit verlangt das Rechtsstaatsprinzip grundsätzlich die umfas-sende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstands durch das dazu berufene Gericht (BSG, Urteil vom 3. September 2014 - B 10 ÜG 12/13 R -, juris, m.w.N.).

Die unterschiedlich hohen Anforderungen für das PKH-Verfahren gemäß § 117 Abs. 1 Satz 2 ZPO einerseits und für die Klage gemäß § 92 Abs. 1 SGG andererseits sind zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen zu harmonisieren, indem, wenn das einschlägige Prozessrecht für die Klage schon geringere Anforderungen vorsieht, diese auch für das PKH-Verfahren gelten müssen (Böttiger, jurisPR-SozR 15/2015 Anm. 3). Zwar können bei der Finanzierung eines Prozesses auf Kosten des Steuer-zahlers durchaus höhere Anforderungen an Substantiierung und Beweisantritte ge-stellt werden als bei einer "bloßen" Klageerhebung. Aber es kann auch nicht unbe-rücksichtigt bleiben, dass die Prüfung der Erfolgsaussichten nach § 114 ZPO nur eine summarische ist (BSG, Beschlüsse vom 28. September 2018 - B 9 V 22/18 B - und vom 18. April 2016 - B 14 AS 150/15 BH -; jeweils juris; Gall, in: Schlegel/Voelz-ke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 73a SGG, Rn. 41). Es wäre daher widersprüchlich, wenn an die eine geringere Tiefe aufweisende Prüfung der Erfolgsaussichten nach § 114 ZPO höhere Darlegungsanforderungen geknüpft würden als bei der eine instanzab-schließende Entscheidung vorbereitenden Prüfung des Klagebegehrens in der Sa-che. Erkennt das Sozialgericht beispielsweise bei einer Durchsicht der Verwaltungs-akten einen klägerseitig nicht vorgetragenen Umstand, der der Klage zum Erfolg verhülfe, darf es ihn im Rahmen der PKH-Prüfung nicht ausblenden, nur weil er klä-gerseitig nicht vorgebracht wurde (vgl. Böttiger a.a.O.).

2. Das Sozialgericht war daher nicht allein wegen fehlender Klagebegründung zur Ablehnung des PKH-Antrags berechtigt. Der Senat verkennt nicht, dass der Kläger-bevollmächtigte gehalten war, die Klage entsprechend seiner Ankündigung nach Ein-sicht in die Verwaltungsakten zeitnah zu begründen oder zumindest, ggf. unter An-gabe von Gründen, zeitliche Verzögerungen mitzuteilen. Gleichwohl war dem Sozial-gericht durch den sehr ausführlichen Widerspruchsbescheid und den Klageantrag der Streitgegenstand bekannt. Weshalb ihm eine Prüfung der Erfolgsaussichten der Klage anhand einer – ihm zumutbaren (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. Mai 2014 - L 13 AS 491/14 B -, juris) – Durchsicht der Verwaltungsakten und in der Annahme, dass der Klage wenigstens das Widerspruchsvorbringen zugrunde gelegt werden kann, nicht möglich war, ergibt sich aus seinem Beschluss nicht.

III. Der Senat macht von der auch im sozialgerichtlichen Verfahren eröffneten (Mey-er-Ladewig/Keller/Leitherer/B. Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 12.A., § 176 Rn. 4a m.w.N.) Möglichkeit nach § 202 Satz 1 SGG i.V.m. § 572 Abs. 3 ZPO Gebrauch, keine abschließende Entscheidung über den PKH-Antrag der Kläger zu treffen, son-dern diese dem Sozialgericht zu übertragen. Dem Beschwerdegericht obliegt zwar als Tatsacheninstanz, den PKH-Antrag in tatsächlicher und rechtlicher Sicht neu zu prüfen. Im Rahmen des ihm durch § 572 Abs. 3 ZPO eingeräumten Ermessens hält es der Senat gleichwohl im vorliegenden Fall für angebracht und zweckmäßig, die im angefochtenen Beschluss nicht hinreichend getroffene Entscheidung über die Er-folgsaussicht dem Sozialgericht zu übertragen. Denn es obliegt primär dem erstin-stanzlichen Gericht, die Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung zu beurteilen. Bei erstmaliger Prüfung der Erfolgsaussicht auf der Grundlage weiterer Erkenntnisse durch das Beschwerdegericht wären die Kläger um eine erstinstanzliche Prüfung der den Rechtsstreit entscheidenden Kammer des Sozialgerichts gebracht (vgl. LSG Ba-den-Württemberg, Beschluss vom 15. Januar 2015 - L 11 R 5040/14 B -, juris).

Das Sozialgericht wird bei seiner Entscheidung auch die inzwischen vorliegende Kla-gebegründung aus dem Schriftsatz vom 16. März 2020 zu beachten haben.

IV. Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet (§ 73a SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO).

Dieser Beschluss kann gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde zum Bundesso-zialgericht angefochten werden.
Rechtskraft
Aus
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