L 6 U 103/17

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 10 U 236/14
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 6 U 103/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 29. Juni 2017 wird aufgehoben. Unter Abänderung des Bescheides der Beklagten vom 9. September 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. November 2014 werden die Risse der Supraspinatus- und Subscapularissehne sowie die Luxation der langen Bizepssehne rechts als weitere Schäden des Arbeitsunfalls vom 1. August 2014 festgestellt.

Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Vorverfahren und beide Rechtszüge.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob Risse der Supraspinatus- und Subscapularissehne sowie eine Luxation der langen Bizepssehne rechts weitere Arbeitsunfallfolgen sind.

Der 1955 geborene und als Kraftfahrer tätige Kläger verfehlte am 1. August 2014 (Freitag) beim Absteigen vom Lkw den Haltegriff, stürzte aus ca. 2 m Höhe auf die rechte Schulter, fuhr unter Schmerzmitteln bis zum Lieferstützpunkt und ließ sich von einem Kollegen nach Hause fahren. Der am 4. August 2014 aufgesuchte D-Arzt Dr. J. hielt einen Druckschmerz im Bereich der rechten Schulter, eine bis 40° aktiv mögliche Abduktion, einen passiv unauffälligen Armhalteversuch und röntgenologisch keine knöchernen Verletzungen fest. Er diagnostizierte eine Schulterprellung rechts und äußerte den Verdacht auf das Bestehen einer Rotatorenmanschettenläsion (D-Arztbericht vom 4. August 2014).

Dem von Dr. J. veranlassten MRT der rechten Schulter vom 5. August 2014 entnahm der Radiologe Dr. D. eine frische Supraspinatussehnenruptur mit Retraktion ohne Muskelatrophie, eine ebenfalls traumatische Ruptur der Subscapularissehne mit aus dem Sulcus luxierter langer Bizepssehne, ein diffuses Weichteilödem zirkulär um den Humeruskopf und unterhalb der Scapula, eine aktivierte AC-Gelenkarthrose mit Osteophytenbildung, einen Humeruskopfhochstand sowie eine Bursitis subacromialis.

Unter dem 10. August 2014 erklärte der Kläger u.a., er sei nicht auf die ausgestreckte Hand gefallen. Darüber, ob er auf den ab- oder angewinkelten Arm gestürzt sei, könne er keine genaue Aussage mehr treffen. Nach der Rückkehr zum Stützpunkt habe er die Notfallaufnahme des Klinikums U. (Niederlande) aufgesucht.

Vom 12. bis 16. August 2014 befand sich der Kläger stationär in der Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie des Jo.-Krankenhauses S., wo als Aufnahmebefund u.a. ein flächiges Hämatom im ventrolateralen distalen Oberarmdrittel rechts festgestellt wurde (Bericht vom 16. August 2014). Am 12. August 2014 führte Dr. J. eine Schulterarthroskopie durch, bei der sich eine vollständige ansatznahe Ruptur der Supraspinatussehne sowie eine luxierte Bizepssehne mit Abscherung der Subscapularissehne zeigten. Da die Bizepssehne äußerlich ohne jegliche Texturstörung sei, müsse von einer traumatischen Schädigung ausgegangen werden. Die Bizepssehne wurde mit einer Interferenzschraube sowie die Supraspinatus- und Subscapularissehne jeweils mittels zwei Ankern refixiert. Die histologische Untersuchung des intraoperativ entnommenen Bizepssehnengewebes erbrachte laut Bericht des Pathologen Privatdozent Dr. Sc. vom 13. August 2014 straffes Bindegewebe mit deutlichen degenerativen Veränderungen ohne entzündliche Infiltrationen. Es handele sich insgesamt um einen traumatischen Sehnenschaden (Bericht Dr. J. vom 14. August 2014).

Mit Bescheid vom 9. September 2014 erkannte die Beklagte den Unfall vom 1. August 2014 mit einer zum 5. August 2014 folgenlos ausgeheilten Schulterprellung rechts als Arbeitsunfall an. Die im MRT festgestellten Gesundheitsstörungen seien nicht rechtlich wesentlich auf den Arbeitsunfall zurückzuführen. Nach allgemein anerkannter medizinischer Lehrmeinung seien direkte Krafteinwirkungen auf die Schulter nicht geeignet, Verletzungen der Rotatorenmanschette hervorzurufen. Auch die angetroffenen degenerativen Veränderungen sprächen gegen einen Ursachenzusammenhang zwischen dem Sturz und den genannten Schäden. Leistungen über den 5. August 2014 hinaus seien daher nicht zu erbringen.

Den hiergegen noch im selben Monat erhobenen Widerspruch des Klägers, zu dessen Begründung sich dieser auf die Beurteilung Dr. J. berief, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 27. November 2014 als unbegründet zurück.

Am 9. Dezember 2014 hat der Kläger vor dem Sozialgericht (SG) Magdeburg Klage erhoben und vorgetragen, er habe beim Ausstieg aus dem Lkw vergeblich versucht, sich am Haltegriff festzuhalten und sei gefallen. Er werde versucht haben, sich mit dem rechten Arm zu schützen. Tatsächlich sei aber alles so schnell gegangen, dass er den Ablauf nicht genauer beschreiben könne.

In seinem vom SG eingeholten Bericht vom 21. Dezember 2016 ist Dr. J. bei seiner Einschätzung verblieben. Laut dem am 27. Dezember 2016 beim SG eingegangenen Befundbericht der Orthopädin Dr. M. seien die Schultergelenksbeschwerden des Klägers rechts bei zweimaliger Schulteroperation durch den Arbeitsunfall bedingt. Dem von ihr beigefügten MRT der rechten Schulter vom 7. Juli 2015 hat der Radiologe Dr. T. ein Impingementsyndrom mit kompletter Ruptur der Supraspinatussehne und eine AC-Gelenkarthrose entnommen. Am 1. September 2015 ist deshalb eine offene AC-Gelenkresektion erfolgt (Arztbrief vom 2. September 2015).

Mit Urteil vom 29. Juni 2017 hat das SG die Klage abgewiesen und hierzu in den Gründen ausgeführt: Es sei nicht hinreichend wahrscheinlich, dass die Rotatorenmanschetten- und Bizepssehnenruptur kausal auf dem Arbeitsunfall beruhe. Insoweit liege entsprechend einschlägiger Literatur schon kein geeigneter Unfallhergang vor. Daneben hätten sich im MRT und histologisch degenerative Veränderungen des rechten Schultergelenks gezeigt, die entsprechend der beratungsärztlichen Wertung Dr. B. vom 2. September 2014 und entgegen Dr. J. als wesentliche Schadensursache anzusehen seien.

Gegen das ihm am 10. Juli 2017 zugestellte Urteil hat der Kläger noch im selben Monat beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Berufung eingelegt und sich zur Begründung letztlich die Darlegungen des gerichtlichen Sachverständigen zu Eigen gemacht.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 29. Juni 2017 aufzuheben und unter Abänderung des Bescheides der Beklagten vom 9. September 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. November 2014 die Risse der Supraspinatus- und Subscapularissehne sowie die Luxation der langen Bizepssehne rechts als weitere Schäden des Arbeitsunfalls vom 1. August 2014 festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält ihre Entscheidungen für zutreffend und verweist auf die weiteren beratungsärztlichen Stellungnahmen.

Der Senat hat von Prof. Dr. R. das orthopädische Gutachten vom 1. Juli 2018 eingeholt. Diesem gegenüber hat der Kläger zum Unfallhergang angegeben, er habe beim Aussteigen aus dem Lkw die erste Stufe bestiegen und versucht, mit der linken Hand den an der Fahrertür befindlichen Haltegriff zu fassen. Diesen habe er jedoch verfehlt und sei aus ca. 2 m Höhe mit der rechten Körperseite auf Beton gestürzt. Ob er sich abgestützt habe, wisse er nicht mehr. Der Sachverständige hat im Ergebnis eingeschätzt, die Risse der Rotatorenmanschette und die Luxation der Bizepssehne seien hinreichend wahrscheinlich im Wesentlichen durch den Arbeitsunfall verursacht. Die beratenden Stellungnahmen beträfen ausschließlich die Beurteilung einer isolierten Rotatorenmanschettenruptur, nicht jedoch die vorliegende Komplexverletzung, bei der zuerst die lange Bizepssehne luxiert sei, die dann von unten die Rotatorenmanschette "wie mit einem Messer" verletzt habe. Nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen sei ein spezifischer Unfallmechanismus für traumatische Verletzungen der Rotatorenmanschette und der langen Bizepssehne bislang nicht definiert. Als gefährdend würden passive Traktionen, eine axiale Stauchung oder eine exzentrische Belastung kontrahierter Sehnenanteile angesehen. Auch ein direktes Anpralltrauma oder ein Sturz auf den ausgestreckten Arm schließe eine traumatische Genese nicht von vornherein aus. Wenngleich der genaue Unfallmechanismus nicht mehr exakt rekonstruierbar sei, müsse hier von einer entsprechenden Gefährdung ausgegangen werden. Die Bizepssehne sei fest im Sulcus unter der Rotatorenmanschette verankert. Ihre frische Verletzung werde durch den in ihrem Verlauf bis zum Ellenbogen reichenden Bluterguss belegt. Konkurrenzursachen seien nicht nachweisbar. Bei vorbestehenden ausgeprägten degenerativen Veränderungen der Rotatorenmanschette oder gar einer schon prätraumatisch vorhandenen Ruptur sei eine deutliche Muskelatrophie mit fettiger Infiltration anzutreffen. Hier beschreibe das MRT vom 5. August 2014 ausdrücklich keine Rotatorenmanschettenatrophie. Auch der histologische Befund, der als altersentsprechend zu werten sei, weise nichts Anderes aus.

Die Beklagte hat hierzu die beratenden Stellungnahmen der Unfallchirurgin Dr. L. vom 9. Oktober 2018, 10. Januar sowie 8. April 2019 vorgelegt und eingewandt, Prof. Dr. R. habe Spekulationen zum Unfallhergang angestellt und seiner gutachtlichen Beurteilung zugrunde gelegt. Laut Dr. L. sei ein ungeeigneter Verletzungshergang anzunehmen. Der histologische Befund sei nur eingeschränkt verwertbar, da kein Supraspinatus- und Subscapularissehnenmaterial ausgewertet worden sei. Bildgebend liege wohl eine traumatische Veränderung der Subscapularissehne vor. Der beschriebene Humeruskopfhochstand indiziere eine vorbestehende Sehneninsuffizienz, zumal eine Bursitis zu einer mechanischen Reizung der Bizepssehne führe. Das Hämatom sei auf die Schulterprellung zurückzuführen. Maßgeblich seien letztlich die Wertung der Pro- und Contra-Kriterien sowie die gerichtliche Würdigung des Unfallhergangs.

In seinen mit weiteren Literaturquellen versehenen ergänzenden Stellungnahmen vom 2. November 2018 und 11. Februar 2019 hat Prof. Dr. R. an seiner Beurteilung festgehalten. Gerade die von Dr. L. zitierte Literatur (Hempfling u.a., Med Sach 2018, 114 ff.) stütze seine Einschätzung. Die Argumentation der Beklagten bzw. Dr. L.s fuße auf der These "Eine gesunde Sehne reißt nicht", die schon Ende der 1960er Jahre vielfach widerlegt worden sei. Vorliegend handele es sich um keine isolierte Rotatorenmanschettenruptur, sondern eine Komplexverletzung mit massiver Hämatombildung, die so bei isolierten Rupturen nicht zu beobachten sei. Eine isolierte Ruptur des Subscapularismuskels mit Hämatom sei ebenso signifikant für eine traumatische Ursache wie eine Luxation der langen Bizepssehne. Sie zerschneide die Subscapularissehne "wie ein Messer". Auch die massive Blutung bis hin zum Unterarm, also im Verlauf der langen Bizepssehne und des Bizeps belege die akute Verletzung. Nach einer Rotatorenmanschettenläsion könne ein Humeruskopfhochstand akut oder degenerativ auftreten. Ein schon länger vorbestehender Hochstand führe durch repetitive Mikrofrakturen zu vorzeitigen Abnutzungserscheinungen im oberen Labrumrand. Solche seien beim Kläger nicht beschrieben worden. Erst bei einer Texturstörung dritten Grades könne von einer Gelegenheitsursache ausgegangen werden.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Rechtsstreits durch den Senat ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der von der Beklagten beigezogenen Verwaltungsakten Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung des Senats.

Entscheidungsgründe:

Die nach § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte, form- und fristgerecht eingelegte (§ 151 Abs. 1 SGG) und auch ansonsten zulässige Berufung hat Erfolg, worüber der Senat im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte.

Der Bescheid der Beklagten vom 9. September 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. November 2014 beschwert den Kläger im Sinne der §§ 157, 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Denn sowohl die Risse der Supraspinatus- und Subscapularissehne als auch die Luxation der langen Bizepssehne rechts sind als weitere Schäden des Arbeitsunfalls vom 1. August 2014 festzustellen.

Nachgewiesene Gesundheitsstörungen sind einem Arbeitsunfall (als zusätzliche Schäden/Folgen) grundsätzlich dann zuzurechnen, wenn zwischen dem Unfallereignis und ihnen – entweder direkt oder vermittelt durch einen beim Arbeitsunfall eingetretenen Gesundheitserstschaden – ein Ursachenzusammenhang im Sinne von § 8 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Unfallversicherung besteht. Maßgeblich ist dabei eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, bei der mehr für als gegen eine Verursachung spricht und ernste Zweifel ausscheiden, so dass darauf die richterliche Überzeugung gegründet werden kann. Die bloße Möglichkeit einer Verursachung genügt dagegen nicht. Erst wenn feststeht, dass ein bestimmtes Ereignis (hier der Arbeitsunfall vom 1. August 2014) eine naturwissenschaftliche Ursache für einen Erfolg (hier die Risse der Supraspinatus- und Subscapularissehne und die Luxation der langen Bizepssehne rechts) ist, stellt sich in einem zweiten Schritt die Frage nach einer wesentlichen Verursachung des Erfolgs durch das Ereignis. Grundlage der Würdigung des Ursachenzusammenhanges sind dabei nur die Tatsachen, die nach dem Maßstab des Vollbeweises festgestellt werden können. Insoweit ist eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit erforderlich, die selbst vernünftige Zweifel nicht zulässt (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 17. Februar 2009 – B 2 U 18/07 RSozR 4-2700 § 8 Nr. 31; Urteil vom 9. Mai 2006 – B 2 U 1/05 RSozR 4-2700 § 8 Nr. 17; Urteil vom 12. April 2005 – B 2 U 27/04 RSozR 4-2700 § 8 Nr. 15).

Nach diesen Maßstäben liegt eine ernste Zweifel ausschließende Wahrscheinlichkeit dafür vor, dass der Arbeitsunfall vom 1. August 2014 (eine) wesentliche Ursache für die Rupturen der Supraspinatus- und Subscapularissehnen sowie die Luxation der langen Bizepssehne rechts war.

So lässt sich der Sturz des Klägers ohne gleichzeitiges Entfallen der genannten Verletzungen zunächst nicht hinwegdenken. In diesem Sinne haben sich sowohl Dr. B. als auch Prof. Dr. R. geäußert, deren im Ergebnis divergierende Beurteilungen gleichwohl auf der ersten Prüfungsebene eine naturwissenschaftliche Kausalität des Arbeitsunfalls gedanklich voraussetzen.

Soweit die Beklagte mit Dr. L. eine Ungeeignetheit des Sturzes zur Verursachung der festgestellten Verletzungen annimmt oder zur Diskussion stellt, steht eine solche nicht zur gerichtlichen Überzeugung fest. Wie Prof. Dr. R. zutreffend dargelegt hat, betreffen die angeführten und als vermeintlich ungeeignet deklarierten Beispielhergänge allein den Fall einer isolierten Rotatorenmanschettenruptur und nicht die Situation der beim Kläger belegten Kombinationsverletzung. Abgesehen davon ist zu berücksichtigen, dass der Verletzungsmechanismus nach aktuellem medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand im Rahmen der Kausalitätsbeurteilung ohnehin nur ein Beurteilungskriterium bildet. Dies gilt sowohl für Aussagen zur generellen Eignung als auch zum konkreten Unfallzusammenhang und liegt vor allem daran, dass eine fundierte Grundlagenforschung nur bedingt möglich ist, die physiologische Beanspruchbarkeit von der körpereigenen Abstimmung von Muskeln und Sehnen abhängt und der konkrete Unfallmechanismus nicht nachgestellt, also nicht gemessen werden kann (z.B. Ludolph in: ders./Schürmann/Gaidzik, Kursbuch der ärztlichen Begutachtung – digital, Stand Juni 2018, VI-1.2.3 Rotatorenmanschettenschaden – Verletzungsmechanismus; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 434 f.).

Wie der Kläger bereits am 10. August 2014 ausdrücklich bekundet hat, konnte er sich schon zu diesem Zeitpunkt nicht mehr daran erinnern, in welcher Haltung genau sich sein rechter Arm im Sturzmoment befand. Diese Angabe erscheint unter Berücksichtigung eines in Sekundenbruchteilen ablaufenden dynamisch-rasanten Sturzvorgangs ohne weiteres lebensnah. Nichts Abweichendes hat der Kläger auch klagebegründend mitgeteilt und gegenüber Prof. Dr. R. wiederholt, nicht mehr genau zu wissen, ob er sich abgestützt habe. Ein Abstellen Dr. L. auf einen ungeeigneten Unfallmechanismus allein deshalb, weil der Kläger laut Mitteilung im D-Arztbericht auf die Schulter gestürzt sei, bleibt damit spekulativ. Ein ungeeigneter Unfallhergang kommt nur dann als entscheidendes Kriterium gegen eine traumatische Verletzung in Betracht, wenn er sicher feststeht. Das ist hier aber nicht der Fall. Denn wenn der konkrete Sturzhergang nicht mehr exakt rekonstruierbar ist, kann auch keine Aussage über seine Eignung zur Verletzung der Rotatorenmanschette und Biezpssehne getroffen werden, wie letztlich auch Prof. Dr. R. betont hat. Dies gilt umso mehr, als klinische Befunde für einen reinen Aufprall der Schulter (Hämatome und/oder Prellmarken) nie beschrieben worden sind, bildgebend Hinweise auf ein Knochenmarködem fehlen und eine schlichte Prellung die belegten Verletzungszeichen (hierzu nachfolgend) überhaupt nicht erklären kann. Bestehen zudem keine vernünftigen Zweifel daran, dass die Sehnenrupturen bzw. die Luxation nur beim Unfall eingetreten sein können, spricht dies maßgeblich dafür, dass im Augenblick des Sturzes eine unphysiologische Beanspruchung der Supraspinatus-, Subscapularis- und Bizepssehne erfolgt ist. Sie umfasst die auf Basis aktueller Erkenntnisse von Prof. Dr. R. beschriebenen Gefährdungsmechanismen (passive Traktion, exzentrische Belastung kontrahierter Sehnenanteile bzw. axiale Stauchung), zumal bei Kombinationsverletzungen auch ein Anpralltrauma ausreichen kann. Nur sie bieten eine schlüssige Erklärung für den Schädigungsablauf.

Unter Berücksichtigung der von Dr. L. angesprochenen weiteren Pro- und Contra-Kriterien (vgl. hierzu auch Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 434 f.) wird eine unfallbedingte Entstehung der Sehnenverletzungen daneben auch durch das Verhalten des Klägers nach dem Unfall (frühe ärztliche Konsultation) sowie die erhobenen medizinischen Befunde wahrscheinlich gemacht.

So war die Schultergelenksbeweglichkeit (auch) am 4. August 2014 weder physiologisch noch lediglich endgradig eingeschränkt, sondern betrug die aktive Abduktion laut Dr. J. lediglich 40°. Durch das einen Tag später gefertigte MRT sind frische Verletzungen der Supraspinatus- und Subscapularissehne ohne Muskelatrophie, eine aus dem Sulcus luxierte lange Bizepssehne sowie ein diffuses Weichteilödem zirkulär um den Humeruskopf und unterhalb der Scapula gesichert, die sowohl Dr. J. als auch Prof. Dr. R. als spezifische Verletzungszeichen gewertet haben. Insbesondere betreffend die Luxation der langen Bizepssehne hat letzterer anhand von Literaturquellen nachvollziehbar aufgezeigt, dass hierdurch die Subscapularissehne wie mit einem Messer von unten (teilweise) zerschnitten worden ist. Gegen die akute sturzbedingte Luxation der Bizepssehne lässt sich entgegen Dr. L. auch nicht einwenden, das im Bericht vom 16. August 2014 dokumentierte Hämatom sei auf eine reine Schulterprellung zurückzuführen. Denn ein derartiger umfassender Bluterguss im Verlauf der langen Bizepssehne bis hin zum Ellenbogen ist nach den Darlegungen des gerichtlichen Sachverständigen nur bei massiven Traumen zu beobachten.

Als Ruptur- bzw. Luxationsursache lassen sich auch keine Verschleißerscheinungen im linken Schultergelenk heranziehen. Insbesondere scheidet eine Einordnung der Sehnenverletzungen als vorbestehend aus.

Soweit insoweit Dr. L. auf den im MRT vom 5. August 2014 beschriebenen Humeruskopfhochstand anspricht, ist Prof. Dr. R. dem mit dem überzeugenden Hinweis darauf begegnet, dass ein schon länger vorbestehender Hochstand durch repetitive Mikrofrakturen zu vorzeitigen Abnutzungserscheinungen im oberen Labrumrand geführt haben müsste. Solche sind intraoperativ von Dr. J. aber ebenso wenig festgestellt worden wie für ihn Veranlassung bestand, den allein bildgebend im AC-Gelenkbereich angegebenen Osteophyten abzutragen. Da schließlich sowohl im MRT als auch intraoperativ Hinweise auf eine Muskelatrophie oder fettige Degeneration fehlen, ist eine bereits vor dem Unfall vorhandene Sehnenschädigung mit Prof. Dr. R. auszuschließen. Die erst im September 2015 erhobenen bildgebenden und intraoperativen Befunde haben in Bezug auf eine Ursachendifferenzierung schon keine Aussagekraft mehr.

Im Ergebnis sprechen damit erheblich mehr Aspekte für als gegen die Wahrscheinlichkeit einer naturwissenschaftlichen Verursachung der Sehnenrupturen bzw. Luxation durch den Arbeitsunfall.

Darüber hinaus ist das Unfallereignis auch rechtlich als (eine) wesentliche Ursache der bezeichneten Verletzungen zu werten.

Rechtlich ursächlich sind nur solche Ereignisse, die sich wegen ihrer besonderen Beziehung zum Eintritt des betreffenden Gesundheitsschadens als wesentliche Bedingung darstellen. Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, ist aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besonderen Beziehungen der Ursache zum Eintritt des Gesundheitsschadens abzuleiten. Ist die ursächliche Bedeutung einer äußeren Einwirkung mit derjenigen einer vorhandenen Schadensanlage zu vergleichen und abzuwägen, ist darauf abzustellen, ob die Krankheitsanlage so stark oder so leicht ansprechbar war, dass die Auslösung akuter Erscheinungen nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte, sondern dass ein anderes, alltäglich vorkommendes Ereignis etwa zu der selben Zeit die Erscheinung ausgelöst hätte. Gesichtspunkte hierfür sind insbesondere die Art und das Ausmaß der versicherten Einwirkung bzw. der konkurrierenden Ursache (siehe nochmals BSG, Urteil vom 9. Mai 2006 – B 2 U 1/05 R – a.a.O.).

Hiervon ausgehend kommt einer konkurrierenden Ursache, selbst wenn der Senat der bildgebend beschriebenen AC-Gelenkarthrose mit Osteophytenbildung und Bursitis subacromialis entgegen Prof. Dr. R. ebenfalls eine naturwissenschaftliche Relevanz für die Entstehung der Sehnenverletzungen zumessen würde, in Relation zur Unfalleinwirkung jedenfalls keine überragende Bedeutung zu. Denn mangels muskulärer Atrophie und/oder fettiger Infiltration der betroffenen Sehnen hat der Sachverständige eine überragende Schadensanlage positiv ausgeschlossen. Dies überzeugt ebenfalls, da allein bildgebende Beschreibungen ohne intraoperative Konsequenzen im Sinne einer acromialen Dekompression insoweit nicht ausreichen. Auch die Bizepssehne wies laut Dr. J. keinerlei äußere Texturstörung auf; der histologische Befund, der schon keine Aussage zu der Supraspinatus- und er Subscapularissehne treffen konnte, ist von Prof. Dr. R. ausdrücklich als altersentsprechend gewertet worden. Erst bei einer – hier nicht gegebenen – Texturstörung dritten Grades kann nach ihm von einer Gelegenheitsursache ausgegangen werden. Vom Schutzbereich der Gesetzlichen Unfallversicherung sind indessen nicht lediglich gesunde und/oder jugendliche Versicherte erfasst. Einbezogen ist der Versicherte vielmehr in demjenigen Alter und Zustand, in dem er sich aktuell befindet (vgl. etwa BSG, Urteil vom 27. Oktober 1987 – 2 RU 35/87 – SozR 2200 § 589 Nr. 10; Urteil vom 22. März 1983 – 2 RU 22/81 – juris; Urteil vom 19. September 1974 – 8 RU 236/73 – SozR 2200 § 548 Nr. 4).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor, da die Entscheidung auf gesicherter Rechtslage und tatsächlicher Einzelfallbewertung beruht, ohne dass der Senat von einem der in dieser Norm bezeichneten Gerichte abweicht.
Rechtskraft
Aus
Saved