L 13 SB 32/19

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 119 SB 1755/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 32/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 17. Dezember 2018 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten über die Höhe des bei dem Kläger festzustellenden Grades der Behinderung (GdB) und über die Zuerkennung des Merkzeichens G.

Bei dem 1945 geborenen Kläger hatte der Beklagte im März 2014 einen GdB von 40 festgestellt. Auf den Neufeststellungsantrag vom 25. November 2014 stellte er nach medizinischen Ermittlungen, insbesondere auf der Grundlage des Gutachtens des Praktischen Arztes Dr. Y vom 13. Dezember 2015, mit Bescheid vom 19. Januar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. September 2016 bei dem Kläger einen Gesamt-GdB von 50 fest, lehnte aber die Zuerkennung des Merkzeichens G ab. Dem legte er folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:

1. Herzleistungsminderung, Durchblutungsstörungen des Herzens, abgelaufener Herzinfarkt, Koronardilatation, Bypass, Bluthochdruck bei ausgeprägter Adipositas (Einzel-GdB von 40), 2. degenerative Veränderungen und Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Nerven- und Muskelreizerscheinungen bei Bandscheibenschäden, Wirbelsäulenverformung, postoperative Brustbeinbeschwerden (Einzel-GdB von 30).

Mit der Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger einen GdB von mehr als 60 sowie das Merkzeichen G begehrt.

Das Sozialgericht hat das Gutachten des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. B vom 15. Februar 2018 eingeholt, der nach Untersuchung des Klägers folgende Funktionsbeeinträchtigungen festgestellt hat:

1. koronare Herzkrankheit (Einzel-GdB von 30), 2. degenerative Veränderungen der Lendenwirbelsäule (Einzel-GdB von 20).

Der Sachverständige hat den Gesamt-GdB mit 40 bewertet. Eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit des Klägers im Straßenverkehr hat er verneint.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 17. Dezember 2018 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Beklagte habe den Gesamt-GdB mit 50 angemessen beurteilt. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens lägen nicht vor.

Gegen die sozialgerichtliche Entscheidung wendet sich der Kläger mit seiner Berufung, mit der er sein Begehren weiterverfolgt.

Der Kläger beantragt seinem schriftlichen Vorbringen zufolge sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 17. Dezember 2018 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 19. Januar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. September 2016 zu verpflichten, bei ihm mit Wirkung ab dem 25. November 2014 einen Grad der Behinderung von mindestens 60 und das Vorliegen der gesundheitlichen Vor-aussetzungen für das Merkzeichen G festzustellen.

Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält seine Entscheidung für zutreffend.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

II.

Die Berufung des Klägers wird nach § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Beschluss zurückgewiesen, da der Senat sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

Das angefochtene Urteil ist nicht zu beanstanden.

Der Einwand des Klägers, die Entscheidung leide an einem Verfahrensfehler, da es bei der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht keine Protokollführung gegeben habe, geht fehl. Denn das Sozialgericht hat zulässigerweise nach § 122 SGG in Verbindung mit § 159 Abs. 1 Zivilprozessordnung von der Hinzuziehung eines Protokollführers absehen dürfen.

1. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen, soweit der Kläger einen GdB von mehr als 60 begehrt. Denn er hat hierauf keinen Anspruch.

Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung bzw. nach § 152 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch in der am 1. Januar 2018 in Kraft getretenen Fassung sind die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft zu bewerten. Hierbei sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" (VMG) heranzuziehen.

Ein höherer Gesamt-GdB als 50 ist bei dem Kläger nicht zu rechtfertigen. Dies hat das Sozialgericht, gestützt auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. B vom 15. Februar 2018, überzeugend dargelegt. Der Senat folgt den zutreffenden Gründen des angefochtenen Urteils vom 17. Dezember 2018 und sieht nach § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.

2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens G.

Gemäß § 145 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (SGB IX a.F.) bzw. nach § 228 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch in der am 1. Januar 2018 in Kraft getretenen Fassung (SGB IX n.F.) haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Personenverkehr. Alternativ können sie nach § 3a Abs. 2 Kraftfahrzeugsteuergesetz eine Ermäßigung der Kraftfahrzeugsteuer um 50 v. H. beanspruchen. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX a.F. bzw. § 152 Abs. 1 und 4 SGB IX n.F.).

Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX a.F. bzw. § 229 Abs. 1 Satz 1 SGB IX n.F. ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein – d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen – noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2). Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann. Das Gesetz fordert in § 145 Abs. 1 Satz 1, § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX darüber hinaus, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung dessen Gehvermögen einschränken muss (sog. "doppelte Kausalität", siehe BSG, Urteil vom 24. April 2008 – B 9/9a SB 7/06 R –, SozR 4-3250 § 146 Nr. 1). Hierzu hatte das Bundessozialgericht die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) herangezogen, die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 Regelfälle beschrieben, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten (so BSG, Urteil vom 13. August 1997, – 9 RVs 1/96 –, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gaben die AHP an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen mussten, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filterten die AHP all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (vgl. BSG, Urteil vom 13. August 1997, a.a.O.).

Diese Grundsätze gelten auch auf der Grundlage der in der Anlage zu der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" weiter, und zwar unabhängig davon, ob – wie überwiegend vertreten wird (so Dau, jurisPR-SozR 4/2009, Anm. 4; Oppermann, in: Hauck/Noftz, GK SGB, Loseblattwerk Stand: 2013, Rn. 36a zu § 69 SGB IX; LSG Baden-Württemberg, seit Urteil vom 23. Juli 2010 – L 8 SB 3119/08 – in ständiger Rechtsprechung, zuletzt Urteil vom 24. Januar 2014 – L 8 SB 2723/13 –; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 – L 10 SB 39/09 –; offen gelassen von: LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Oktober 2013 – L 10 SB 154/12 –; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Dezember 2011 – L 13 SB 12/08 –) – die Vorschriften über die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" in Teil D Nr. 1d bis 1f der Anlage zu § 2 VersMedV mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage nichtig sind. Denn die in den AHP aufgestellten Kriterien wurden über Jahre hinweg sowohl von der Verwaltung als auch von den Gerichten in ständiger Übung angewandt, weshalb die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" als gewohnheitsrechtlich anerkannt zu betrachten sind (so auch LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 – L 10 SB 39/09 –). Hinzu kommt, dass mit ihrer Verrechtlichung durch die VersMedV keine Änderung des Rechtszustandes beabsichtigt war, da sie materiell die Regelungen zum Merkzeichen "G" unverändert aus den AHP übernommen hat. Den genannten Bedenken hat der Gesetzgeber inzwischen mit dem Gesetz vom 7. Januar 2015 (BGBl. II S. 15) Rechnung getragen, indem er in § 70 Abs. 2 SGB IX mit Wirkung ab 15. Januar 2015 das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt hat, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des Grades der Behinderung und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Nach Ansicht des Bundessozialgerichts (Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 1/14 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 21) verbleibt es für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen Rechtsverordnung bei der bisherigen Rechtslage (vgl. § 159 Abs. 7 SGB IX; hierzu BT-Drucks 18/3190, S. 5).

Die Aufzählung der Regelbeispiele in Teil D Nr. 1d bis Nr. 1f der Anlage zu § 2 VersMedV enthält indes keine abschließende Listung der in Betracht kommenden Behinderungen aus dem Formenkreis einzelner medizinischer Fachrichtungen: Anspruch auf den Nachteilsausgleich G hat – über die genannten Regelbeispiele hinausgehend – vielmehr auch der schwerbehinderte Mensch, der nach Prüfung des einzelnen Falles aufgrund anderer Erkrankungen mit gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion und die zumutbare Wegstrecke dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis gleichzustellen ist (siehe BSG, Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 1/14 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 21). Denn der umfassende Behindertenbegriff im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX gebietet im Lichte des verfassungsrechtlichen als auch des unmittelbar anwendbaren UN-konventions-rechtlichen Diskriminierungsverbots (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG; Art. 5 Abs. 2 UN-BRK) die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen. Den nicht erwähnten Behinderungen sind die Regelbeispiele als Vergleichsmaßstab zur Seite zu stellen (vgl. BSG, Urteil vom 11. August 2015 a.a.O. unter Hinweis auf das Urteil vom 13.8.1997 – 9 RVs 1/96 –, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2).

Gemessen an diesen Maßstäben ist der Kläger nicht erheblich gehbehindert. Nach Überzeugung des Senats ist er in der Lage, ohne erhebliche Schwierigkeiten oder ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr von 2 km in einer halben Stunde zurückzulegen. Der Sachverständige Dr. B hat in seinem Gutachten vom 15. Februar 2018 nachvollziehbar dargelegt, dass bei dem Kläger Funktionseinschränkungen, welche dessen Fortbewegungsfähigkeit stärker beeinträchtigen, nicht festzustellen sind. Der Kläger vermag die üblichen Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen, da er sich raumfördernd und ohne Hilfsmittel sicher fortzubewegen vermag. Auch die am 15. Oktober 2018 durchgeführte Laufanalyse, auf die sich der Kläger in seiner Berufung bezieht, rechtfertigt keine abweichende Entscheidung. Denn eine – wie oben dargelegt – für die Zuerkennung des Merkzeichens G erforderliche "erhebliche" Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit des Klägers im Straßenverkehr ergibt sich aus ihr nicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
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