L 6 AS 383/20 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
6
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 27 AS 295/20 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 383/20 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Darmstadt vom 13. Juli 2020 geändert und der Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig laufende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende in gesetzlicher Höhe für die Zeit vom 20. April 2020 bis zum 26. Mai 2020 und vom 27. Juni 2020 bis zum 30. September 2020 zu gewähren.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die zur Rechtsverfolgung notwendigen Kosten für die erste Instanz vollständig und für das Beschwerdeverfahren zu vier Fünfteln zu erstatten. Im Übrigen haben die Beteiligten einander Kosten nicht zu erstatten.

Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin B. B., B-Stadt, bewilligt.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes um die Gewährung von laufenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II), konkret um das Eingreifen des Ausschlusstatbestandes nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchst. b SGB II.

Die 1983 geborene Antragstellerin ist bulgarische Staatsangehörige und lebt nach ihren Angaben seit vielen Jahren in Deutschland, eine Meldung bei den Meldebehörden ist jedoch bislang nicht erfolgt. Sie arbeitete als selbstständige Prostituierte auf dem sogenannten Straßenstrich in B-Stadt. Dabei erfolgte im Jahr 2018 eine Anmeldung nach § 3 des Gesetzes zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen (Prostituiertenschutzgesetz – ProstSchutzG). Das Ordnungsamt der Stadt Frankfurt am Main erteilte ihr daraufhin am 14. November 2018 eine Bescheinigung nach § 5 ProstSchutzG gültig bis 14. November 2020. Im Rahmen ihrer Tätigkeit hatte sie regelmäßig Termine bei dem zuständigen Ordnungsamt und Gesundheitsamt wahrgenommen. Über eine Sozialversicherungsnummer oder Steuernummer verfügt die Antragstellerin nicht. Ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte sie in den letzten Jahren in A Stadt, wo sie in der C-Straße ein möbliertes Zimmer bewohnte. Aufgrund der Corona-Pandemie wurde der Antragstellerin im März 2020 die weitere Ausübung ihrer Tätigkeit untersagt. Nachdem sie aus diesem Grunde keine Einnahmen mehr erzielte und daher ihre bis dahin genutzte Wohnmöglichkeit verlor, lebt sie derzeit in einem Hotel im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners und der Beigeladenen. Ihren Lebensunterhalt sicherte sie durch kleine Zuwendung des Vereins D. – DX. e.V., B-Stadt, der sie auch bei der Regelung behördlicher Angelegenheiten unterstützt.

Unter dem 6. April 2020 stellte die Antragstellerin bei dem Antragsgegner einen Antrag auf Arbeitslosengeld II. Im Begleitschreiben des Vereins D. vom 3. April 2020 hieß es unter anderem, die Antragstellerin sei dem Verein auf Grund von dessen aufsuchender Arbeit auf dem Straßenstrich seit vielen Jahren bekannt. Nachweise über die Einkünfte, die sie dabei erzielt habe, gebe es aufgrund der üblicherweise in bar erbrachten Zahlungen im Prostitutionsgewerbe nicht. Gegenwärtig sei die Antragstellerin mittellos, da sie ihrer Tätigkeit aufgrund der Maßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz nicht weiter nachgehen könne. Sie gerate dadurch unverschuldet in existenzielle Not und Obdachlosigkeit.

Durch Bescheid vom 16. April 2020 lehnte der Antragsgegner den Antrag mit der Begründung ab, vorliegend könne sich die Antragstellerin als Unionsbürgerin nur auf Freizügigkeit gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 Freizügigkeitsgesetzes (FreizügG/EU) berufen, wenn die von ihr ausgeübte Tätigkeit im Rahmen der hiesigen Bestimmungen einschließlich Beachtung der steuerrechtlichen Regelungen und nicht unter Umgehung gesetzlicher Vorschriften ausgeübt werde. Diese Grundsätze seien hier nicht eingehalten, so dass keine rechtmäßige selbstständige Tätigkeit im Sinne von § 2 FreizügG/EU anzunehmen sei. Gegen den Bescheid erhob die Antragstellerin bei dem Antragsgegner Widerspruch am 11. Mai 2020, über den bislang noch nicht entschieden worden ist.

Bereits zuvor – am 20. April 2020 – hatte die Antragstellerin bei dem Sozialgericht Darmstadt einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt und zur Begründung unter Berufung auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ausgeführt, ein Leistungsausschluss greife nicht ein, weil sie nachwirkend freizügigkeitsberechtigt aufgrund ihrer Mitte März 2020 unfreiwillig aufgegebenen selbständigen Tätigkeit sei. Prostitution sei weder sitten- noch sozialwidrig und vermittle als erlaubte selbständige Tätigkeit ein Freizügigkeitsrechts als Selbständige. Dies gelte unabhängig davon, ob ein Gewerbe angemeldet oder eine Steuererklärung abgegeben worden sei. Ein Verlust des Freizügigkeitsrechts könne sich hieraus nicht ergeben. Ergänzend hat die Antragstellerin zu Umfang, Dauer und legalem Charakter ihrer früheren Tätigkeit einen Vermerk von Polizeihauptkommissar (PHK) E., Polizeipräsidium Frankfurt am Main, vom 8. Mai 2020 vorgelegt. Danach sei sie erstmals am 18. Oktober 2014 bei der Ausübung der Straßenprostitution auf der F-Straße (legaler Bereich) angetroffen worden. Ferner sei sie nachweisbar sechsmal im Jahr 2017, zweimal im Jahr 2018 und einmal im Jahr 2019 dort angetroffen und überprüft worden. Er könne bestätigen, dass die Klägerin dort wesentlich öfter der Prostitution nachgegangen sei. Nach Inkrafttreten des Prostituiertenschutzgesetzes habe die Antragstellerin am 14. November 2018 eine Anmeldung als Prostituierte bei dem Ordnungsamt der Stadt Frankfurt am Main beantragt. Die Anmeldung sei bis zum 14. November 2020 gültig. Weiter hat die Antragstellerin eine Aufstellung des Vereins D. darüber vorgelegt, wie oft sie von deren Streetworkern angetroffen worden sei, ebenso eine eidesstattliche Versicherung einer Kollegin (G.) über ihre regelmäßig und seit Jahren ausgeübte Tätigkeit.

Das Sozialgericht hat durch Beschluss vom 20. April 2020 den zuständigen Sozialhilfeträger beigeladen und diesen durch Beschluss vom 13. Juli 2020 im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin für die Zeit vom 27. Mai 2020 bis 26. Juni 2020 Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 3 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialhilfe – (SGB XII) zu gewähren. Im Übrigen und damit namentlich im Verhältnis zum Antragsgegner hat es den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz abgelehnt. Zur Begründung hat das Sozialgericht im Wesentlichen ausgeführt, für den auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch gerichteten Hauptantrag fehle es vorliegend an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs. Zwar sei die Hilfebedürftigkeit der Antragstellerin nach § 9 Abs. 1 SGB II glaubhaft gemacht, ein Leistungsanspruch entfalle jedoch, da sie nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchst. b SGB II von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen sei. Die Antragstellerin könne sich allein auf ein Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1a FreizügG/EU berufen. Ein darüberhinausgehendes Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 1 bis 3 FreizügG/EU bestehe nicht, weil die Antragstellerin weder Arbeitnehmerin gewesen sei noch sich zur Arbeitssuche oder zur Berufsausbildung in der Bundesrepublik Deutschland aufhalte. Vielmehr sei sie einer selbständigen Tätigkeit als Prostituierte nachgegangen. Ebenso wenig ergebe sich ein Freizügigkeitsrecht daraus, dass die Antragstellerin zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit berechtigt sei (niedergelassene selbstständige Erwerbstätige). Zur Glaubhaftmachung einer solchen selbständigen Erwerbstätigkeit reiche es im Fall der Antragstellerin nicht aus, dass sie über einen Ausweis nach dem Prostituiertenschutzgesetz verfüge. Auch wenn die Prostitution in der Bundesrepublik Deutschland nicht verboten sei, ergebe sich nicht schon allein aus deren Ausübung die Annahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit (Hinweis auf LSG NRW, Beschluss vom 20. August 2012, L 12 AS 531/12 B ER). Vielmehr sei zudem eine dauerhafte wirtschaftliche Integration in den jeweiligen Aufnahmestaat vonnöten. Diesen Anforderungen genüge die von der Antragstellerin ausgeübte Tätigkeiten nicht, denn es fehle jedenfalls an einer ordnungsgemäßen steuerlichen Anmeldung. Mangels entgegenstehender Anhaltspunkte könne bei wohlwollender Betrachtung allenfalls zu Gunsten der Antragstellerin von einem Aufenthaltszweck der Arbeitssuche ausgegangen werden. Dies habe jedoch zur Folge, dass die Voraussetzungen des Leistungsausschlusses gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfüllt seien. Eine andere Beurteilung ergäbe sich auch nicht aus § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II (gewöhnlicher Aufenthalt im Bundesgebiet seit mindestens fünf Jahren). Insoweit habe die Antragstellerin selbst vorgetragen, einen lückenlosen Aufenthalt nicht nachweisen zu können. Diese sei melderechtlich bislang nicht in Erscheinung getreten. Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz sei jedoch in Bezug auf den Hilfsantrag teilweise begründet. Die Antragstellerin habe einen Anspruch auf Gewährung sogenannter Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 S. 3 SGB XII gegen die Beigeladene glaubhaft gemacht. An der Hilfebedürftigkeit der Antragstellerin bestünden ebenso wenig Zweifel wie an dem tatsächlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich der Beigeladenen. Da die Antragstellerin Überbrückungsleistungen ausdrücklich erstmals mit Schriftsatz vom 27. Mai 2020 geltend gemacht habe, beginne der einmonatige Anspruch ab diesem Zeitpunkt. Darüberhinausgehende Ansprüche habe die Antragstellerin dagegen nicht glaubhaft gemacht. Insbesondere lägen die Voraussetzungen der Härtefallregelungen des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII nicht vor. Im Übrigen bestehe eine besondere Eilbedürftigkeit hinsichtlich der Überbrückungsleistungen dadurch, dass die Antragstellerin zur Bestreitung ihres laufenden Lebensunterhaltes entscheidend auf diese Leistungen angewiesen sei.

Die Antragstellerin hat nach Zustellung des Beschlusses bei ihrer Prozessbevollmächtigten am 14. Juli 2020 mit Eingang am 20. Juli 2020 Beschwerde eingelegt. Zur Begründung wiederholt und vertieft sie ihr bisheriges Vorbringen und trägt ergänzend vor, sie habe am 17. Dezember 2019 bei dem Finanzamt beantragt, von der Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung befreit zu werden. Sie legt hierzu den entsprechenden Antrag vor. Zudem verweist die Antragstellerin darauf, sie habe sich in der Zeit seit März 2020 bis dato mit Hilfe verschiedener Mitarbeiterinnen von D. intensiv um eine Anstellung bemüht und auch versucht, einen Sprachkurs zu finden. Bisher sei alles erfolglos geblieben.

Die Antragstellerin beantragt,
den Antragsgegner unter Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Darmstadt vom 13. Juli 2020 im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch für einen angemessenen Zeitraum ab dem 20. April 2020 in gesetzlicher Höhe vorläufig zu gewähren, hilfsweise, die Beigeladene unter Abänderung des Beschlusses des Sozialgerichts Darmstadt vom 13. Juli 2020 im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr Überbrückungsleistungen für einen angemessenen Zeitraum über den 26. Juni 2020 hinaus vorläufig zu erbringen.

Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.

Er verteidigt den angegriffenen Beschluss des Sozialgerichts und trägt ergänzend vor, es sei nicht ausreichend, dass die Tätigkeit von der Antragstellerin legal ausgeübt worden sei. Vielmehr sei entscheidend zu berücksichtigen, dass sie weder eine Meldeadresse gehabt habe noch in die Steuer- oder Sozialkasse eingezahlt habe. Da es zu der Ausübung der Tätigkeit der Antragstellerin keinerlei Nachweise gebe, stehe zudem auch gar nicht fest, ob die behauptete Tätigkeit ausgeübt bzw. ob sie nicht auch schon vor den Corona-Einschränkungen aus anderen Gründen aufgegeben worden sei.

Der Beigeladene hat einen eigenen Antrag nicht gestellt und hinsichtlich Überbrückungsleistungen auf den Beschluss des Sozialgerichts Bezug genommen. Eine Verpflichtung zu Leistungen über einen längeren Zeitraum als einen Monat werde nicht gesehen.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze sowie auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der die Antragstellerin betreffenden Verwaltungsakte des Antragsgegners Bezug genommen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist überwiegend auch begründet. Der angegriffene Beschluss des Sozialgerichts Darmstadt vom 13. Juli 2020 kann weitgehend keinen Bestand haben. Der Antragsgegner ist im Wege der einstweiligen Anordnung zur vorläufigen Erbringung von laufenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch für die Zeit vom 20. April 2020 bis zum 26. Mai 2020 und vom 27. Juni 2020 bis zum 30. September 2020 zu verpflichten. Eine Ausnahme von seiner vorläufigen Leistungspflicht besteht nur für die Zeit vom 27. Mai 2020 bis zum 26. Juni 2020, für die das Sozialgericht die Beigeladene zur Erbringung von existenzsichernden Leistungen verpflichtet hat, so dass die Antragstellerin in diesem zeitlichen Umfang auf Arbeitslosengeld II nicht angewiesen ist und deshalb kein Anordnungsgrund besteht. Für darüberhinausgehende Zeiträume besteht dagegen kein Anspruch auf vorläufige Leistungen.

I. Die Beschwerde ist zulässig: Insbesondere ist sie nach § 172 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1, § 143, § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und genügt den Vorgaben zu Form und Frist aus § 173 SGG.

II. In der Sache liegen die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten Regelungsanordnung, die hier allein in Betracht kommt, nachdem die Antragstellerin ein Leistungsbegehren verfolgt, (nur) für die Zeit vom 20. April 2020 bis zum 26. Mai 2020 und vom 27. Juni 2020 bis zum 30. September 2020 vor.

1. Das Gericht kann eine entsprechende Anordnung erlassen, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Ein solcher Nachteil ist (nur) anzunehmen, wenn einerseits der Antragstellerin gegenüber dem Antragsgegner ein materiell-rechtlicher Leistungsanspruch in der Hauptsache mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zusteht (Anordnungsanspruch) und es ihr andererseits nicht zuzumuten ist, die Entscheidung über den Anspruch in der Hauptsache abzuwarten (Anordnungsgrund). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO –).

Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert neben-, vielmehr in einer Wechselbeziehung zueinander, nach der die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit beziehungsweise Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt (vgl. für die st. Rspr. des Hess. LSG: erk. Senat, Beschl. v. 11. Dezember 2019, L 6 AS 528/19 B ER, juris, Rn. 31; Hess. LSG, Beschl. v. 29. Juni 2005, L 7 AS 1/05 ER, info also 2005, 169 und Hess. LSG, Beschl. v. 7. September 2012, L 9 AS 410/12 B ER; außerdem Keller, in: Meyer-Ladewig u.a., SGG, 13. Aufl. 2020, § 86b Rn. 27 ff.): Wäre eine Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Wäre eine Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund, auch wenn auf diesen nicht gänzlich verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- oder Rechtslage im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Beteiligten ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache eher zuzumuten ist.

Dabei sind grundrechtliche Belange der Antragstellerin, soweit diese durch die Entscheidung berührt werden, umfassend in der Abwägung zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, Kammerbeschl. v. 12. Mai 2005, 1 BvR 569/05, info also 2005, 166). Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen. Namentlich haben sie haben eine Verletzung der grundgesetzlichen Gewährleistung der Menschenwürde zu verhindern, auch wenn diese nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert (vgl. BVerfG, Kammerbeschl. v. 12. Mai 2005, 1 BvR 569/05, BVerfGK 5, 237 = info also 2005, 166; BVerfG, Kammerbeschl. v. 25. Februar 2009, 1 BvR 120/09, BVerfGK 15, 133 = juris, Rn. 11; dem folgend u.a. erk. Senat, Beschl. v. 11. Dezember 2019, L 6 AS 528/19 B ER, juris, Rn. 32).

2. Ausgehend von diesen Grundsätzen liegen die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung in dem aus dem Tenor ersichtlichen zeitlichen Umfang vor.

a) Die Grundvoraussetzungen eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld II aus § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind erfüllt – was zwischen den Beteiligten im Übrigen auch nicht streitig ist: Die im Jahre 1983 geborene Antragstellerin hält sich in den in § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 7a SGB II geregelten Altersgrenzen. Sie ist weiter erwerbsfähig im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 8 Abs. 1 SGB II; Hinweise auf gesundheitliche Einschränkungen ihrer Leistungsfähigkeit sind nicht ersichtlich. Ausländerrechtliche Beschränkungen hinsichtlich der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 8 Abs. 2 SGB II) bestehen nicht, da die Antragstellerin Staatsangehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Union ist. Der Senat hat weiter keine durchgreifenden Zweifel an ihrer Hilfebedürftigkeit (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 in Verbindung mit §§ 9 ff. SGB II): Insbesondere bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass sie sich dauerhaft auf die Zuwendungen durch den Verein D. stützen und diese ausreichen könnten, um ihren Bedarf vollständig zu decken. Weiter hat sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II in Verbindung mit § 30 Abs. 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch – Allgemeiner Teil (SGB I)), nachdem sie sich seit Jahren und bis auf Weiteres im Inland aufhält. Nachdem die Beigeladene, die als Ausländerbehörde auch hierfür zuständig wäre, nicht vorgetragen hat und insoweit auch sonst keine Hinweise ersichtlich sind, dass ein Verlust des Freizügigkeitsrechts der Antragstellerin festgestellt worden sein könnte, kann offenbleiben, welche Auswirkungen dies auf den Fortbestand des gewöhnlichen Aufenthaltes im Inland haben könnte. Die Antragstellerin hat schließlich auch den nach § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB II notwendigen Antrag auf laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gestellt.

b) Weiter greift nach Auffassung des Senats auch ein Ausschlusstatbestand zu Lasten der Antragstellerin nicht ein. Insbesondere folgt ein solcher nicht aus § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchst. b SGB II, da der Antragstellerin ein Aufenthaltsrecht nicht nur zur Arbeitsuche zusteht. Vielmehr kann sie sich auf die Fortwirkung ihrer Freizügigkeitsberechtigung auf Grund ihrer bis in das Frühjahr diesen Jahres ausgeübten selbständigen Tätigkeit stützen. Sie kann sich wegen ihrer selbständigen Tätigkeit auf das Freizügigkeitsrecht aus Art. 49 AEUV berufen; innerstaatlich ist dies durch § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU umgesetzt. Dieses wirkt auf Grund der unfreiwilligen Einstellung oder jedenfalls Unterbrechung ihrer Tätigkeit infolge des behördlichen Verbots, die sie zuvor seit 2014 ausgeübt hat, fort (vgl. § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU).

Mögliche Einwände hiergegen, wie sie auch vom Sozialgericht und vom Antragsgegner vorgebracht worden sind, lassen sich auf drei Ebenen formulieren, greifen nach Auffassung des Senats aber allesamt nicht durch: Weder kann der Antragstellerin entgegengehalten werden, dass es sich bei ihrer Tätigkeit gar nicht um eine selbständige Tätigkeit im Sinne des Freizügigkeitsrechts handele (dazu aa), noch, dass sie sich auf Grund der Ausgestaltung ihrer Tätigkeit außerhalb der Rechtsordnung gestellt habe und daher zu ihren Gunsten die freizügigkeitsrechtlichen Verbürgungen nicht eingriffen (dazu bb), noch schließlich, dass sich die Berufung auf die europarechtliche Freizügigkeit auf Grund der Ausgestaltung ihrer Tätigkeit als missbräuchlich darstelle.

aa) Zunächst steht letztlich nicht in Frage, dass die Antragstellerin – zumindest bis zur Untersagung der weiteren Ausübung – als niedergelassene selbständige Erwerbstätige im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU anzusehen war. Jedenfalls nach der Legalisierung der Prostitution, die – spätestens – mit dem Gesetz zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen (Prostituiertenschutzgesetz – ProstSchutzG) vom 21. Oktober 2016 (BGBl. I S. 2372) verbunden war, kann dies nicht mehr fraglich sein; im Übrigen hatte der Europäische Gerichtshof die Frage auch für den Fall bejaht, dass die Prostitution als rechts- und sittenwidrig angesehen wird (vgl. EuGH, Urt. v. 20. November 2001, C-268/99, juris; daran anschließend BVerwG, Beschl. v. 24. Oktober 2002, 1 C 31.02, juris).

Auch im Einzelfall sind die Voraussetzungen für eine niedergelassene selbständige Tätigkeit glaubhaft gemacht. Der Senat hat keine Anhaltspunkte für eine abhängige Beschäftigung. Zudem liegen die zeitlichen, räumlichen und wirtschaftlichen Elemente für die Annahme einer derartigen Tätigkeit vor (vgl. hierzu EuGH, Urt. v. 25. Juli 1991, C 221/89, RS Factortame Ltd. u.a., Slg. I-3905; Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 2 FreizügG/EU Rn. 83): Die Antragstellerin hat auf unbestimmte Dauer und mit der Absicht der Gewinnerzielung im Rahmen einer wirtschaftlichen Tätigkeit als Prostituierte gearbeitet. Fraglich könnte allein das übliche Erfordernis einer festen Einrichtung im Aufnahmestaat sein: Dieses dient allerdings primär der Abgrenzung der Niederlassungs- von der Dienstleistungsfreiheit und ist deshalb von untergeordneter Bedeutung, wenn die Tätigkeit ihrer Art nach kein räumliches Substrat aufweist, wie das gerade bei der Straßenprostitution der Fall ist. In diesem Falle geht der Senat – jedenfalls für das Eilverfahren – davon aus, dass es ausreicht, dass die Tätigkeit über Jahre ausschließlich im Inland ausgeübt wird und der Betroffene sich im Inland angesiedelt hat. Maßgeblich ist insoweit die stetige und dauerhafte Teilnahme am Wirtschaftsleben des Aufnahmestaates (vgl. hierzu auch Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 2 FreizügG/EU Rn. 86).

Weiter hat der Senat keine Hinweise darauf – und solche sind auch von keiner Seite formuliert worden –, dass das Gewerbe nach dem Umfang der Tätigkeit oder dem daraus erzielten Verdienst so eng begrenzt gewesen wäre, dass deswegen die Annahme einer Freizügigkeitsberechtigung in Frage zu stellen wäre. Auch wenn man davon ausgeht, dass insofern – ähnlich der entsprechenden Grenzen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit – eine Erwerbstätigkeit, die nicht als "tatsächlich und echt" und damit umgekehrt als nur "völlig untergeordnet und unwesentlich" eingeordnet werden könnte, nicht zu einer Freizügigkeitsberechtigung führen kann, würde dies im konkreten Fall einer Freizügigkeitsberechtigung nicht entgegenstehen können (vgl. zu den genannten Voraussetzungen für die Begründung der Arbeitnehmerfreizügigkeit aus der st. Rspr. des EuGH grundlegend: EuGH, Urt. v. 6. November 2003, C-413/01, RS Ninni-Orasche, Slg. 2003, I-13187; näher dazu Schreiber, SGb 2019, 698/700 f.). Vielmehr hat die Antragstellerin offenbar über einen längeren Zeitraum einen Verdienst erzielt, der ihr ein wenn auch zeitweise möglicherweise prekäres – Leben ohne die Inanspruchnahme von existenzsichernden öffentlichen Leistungen ermöglichte. Nicht zuletzt war sie offenbar bis zum Verbot der weiteren Tätigkeit in der Lage, 700,- Euro monatlich für die bis dahin von ihr (mit ) genutzte Wohnmöglichkeit aufzubringen.

Auch der Umstand, dass die Antragstellerin sich als Person nicht entsprechend den Vorgaben des Melderechts bei der Beigeladenen angemeldet hatte, hat nach Auffassung des Senats nicht zur Folge, dass sie mit Blick auf ihr Gewerbe nicht als niedergelassene selbständige Erwerbstätige zu qualifizieren wäre. Wenn man überhaupt schon auf dieser Ebene Fragen der Rechtmäßigkeit der Gewerbeausübung einbezieht, steht insoweit nach Auffassung des Senats im Vordergrund, dass sie der diesbezüglich vorgesehenen Anmeldepflicht (§ 3 Abs. 1 ProstSchutzG) genügt hat.

bb) Dieser Umstand führt nach Auffassung des Senats im Übrigen auch dazu, dass nicht davon ausgegangen werden kann, die Antragstellerin habe sich mit ihrem Gewerbe außerhalb der Rechtsordnung gestellt, so dass ihr im Gegenzug auch die damit verbundenen Vorteile – wie die hier in Rede stehende europarechtliche Freizügigkeit – nicht zugebilligt werden könnten.

Die Antragstellerin hat, wie sie durch Vorlage der Anmeldebescheinigung nach § 5 Abs. 1 ProstSchutzG, aber auch die Bestätigung von PHK E. glaubhaft gemacht hat, der zentralen Vorgabe für eine legale und den zuständigen Behörden bekannte Tätigkeit als Prostituierte, der Anmeldepflicht nach § 3 ProstSchutzG, genügt. Auch wurde sie offenbar wiederholt von den für die Überwachung der Prostitutionstätigkeiten zuständigen Polizeibeamten kontrolliert, ohne dass diese Anlass für ein Einschreiten oder Anhaltspunkte für einen illegalen Zuschnitt der Tätigkeit gefunden hätten. Von einer Tätigkeit, die ihrer Ausrichtung nach außerhalb der Rechtsordnung oder jedenfalls in Unkenntnis der zuständigen öffentlichen Stellen ausgeübt worden wäre, kann im Grunde bereits deswegen nicht ausgegangen werden.

Überdies ist eine eigenständige gewerberechtliche Anmeldung neben der Anmeldung nach § 3 ProstSchutzG nicht erforderlich. Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 der Gewerbeordnung ist diese vielmehr ausdrücklich (unter anderem) auf die Tätigkeit der Prostituierten nicht anwendbar. Dazu heißt es in der Begründung zum Regierungsentwurf (BT-Drucks. 18/8556, S. 104): "Nach wohl überwiegender Auffassung ist die persönliche Ausübung der Prostitution kein Beruf wie jeder andere und kein Gewerbe im Sinne der Gewerbeordnung. Auch wenn einige Kommunen Gewerbeanzeigen von Prostituierten entgegennehmen, besteht im Verwaltungsvollzug weitgehende Übereinstimmung, dass Prostituierte kein nach § 14 Absatz 1 der Gewerbeordnung anmeldepflichtiges Gewerbe ausüben. Angesichts der Besonderheiten der Prostitution ist dies auch sachgerecht ( ). Mit der Änderung des § 6 Absatz 1 Satz 1 wird daher klargestellt, dass die Gewerbeordnung auf die persönliche Ausübung der Prostitution keine Anwendung findet. Mit dem Prostituiertenschutzgesetz nach Artikel 1 wird ein spezialgesetzlicher Regelungsrahmen geschaffen, der auch Vorschriften für die persönliche Ausübung der Prostitution umfasst. Dazu gehören insbesondere die Einführung einer Anmeldepflicht nach § 3 des Prostituiertenschutzgesetzes sowie ordnungsrechtliche Kontroll- und Eingriffsinstrumentarien. Es besteht daher kein Bedürfnis für eine subsidiäre Anwendung der Gewerbeordnung auf Prostituierte." Einer gewerberechtlichen Anmeldung bedurfte die Antragstellerin demnach nicht.

Das Sozialgericht hat der Antragstellerin entgegengehalten, sie habe ihre Tätigkeit den Steuerbehörden nicht ordnungsgemäß gemeldet. Für die Frage, ob eine Tätigkeit § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU unterfällt, kommt es nach Auffassung des Senats jedenfalls dann, wenn sie als solche den zuständigen Behörden bekannt ist, auf die Erfüllung der steuerrechtlichen Verpflichtungen nicht an. Ein entsprechender Verstoß, so er vorläge, würde die Ausübung der Tätigkeit nicht als solche illegal werden lassen (vgl. so auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 28. Januar 2013, L 14 AS 3133/12 B ER, juris). Sie wäre vielmehr durch die Steuerbehörden zu ahnden, die wegen der in § 34 Abs. 8 ProstSchutzG vorgesehenen Unterrichtung des zuständigen Finanzamtes durch die für die Anmeldung nach § 3 ProstSchutzG zuständige Behörde dazu auch regelmäßig in der Lage wären.

Der Senat will damit selbstverständlich weder die Bedeutung der Steuerpflicht noch in Frage stellen, dass ein entsprechender behördlicher Datenaustausch die eigenen Pflichten der Betroffenen nicht beseitigt. Im Kontext des Freizügigkeitsrechts gibt es jedoch keinen Anhaltspunkt dafür, dass nur ein vollständig in Übereinstimmung mit der Rechtsordnung geführtes Gewerbe als Tätigkeit im Sinne § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU angesehen werden könnte. Denkbar erscheint dem Senat vielmehr nur, dass – entweder – die Pflichtverletzung so gravierend ist, dass sich der Betroffene damit, bildlich gesprochen, für die Rechtsordnung unsichtbar machen will – was hier angesichts der Anmeldung nach § 3 Abs. 1 ProstSchutzG nicht angenommen werden kann –, oder dass die Pflichtverletzung eine Bedeutung hat, dass danach die Berufung auf das Freizügigkeitsrecht als rechtsmissbräuchlich erscheint.

cc) Auch dies ist jedoch nicht der Fall; einen Rechtsmissbrauch vermag der Senat jedenfalls bei der im einstweiligen Rechtsschutz möglichen und gebotenen Prüfungstiefe nicht zu erkennen.

Zwar trifft es zu, dass die europarechtlichen Verbürgungen unter einem Vorbehalt des Missbrauchs stehen (vgl. allg. EuGH, Urt. v. 14. Dezember 2000, C-110/99, RS Emsland-Stärke, Slg. 2000, I-11459, Rn. 51; EuGH, Urt. v. 22. Dezember 2010, C-303/08, RS Bozkurt, Slg. 2010, I-13445, Rn. 47 sowie EuGH, Urt. v. 12. März 2014, C-456/12, RS O., juris, Rn. 58). Die Annahme eines Missbrauchs setzt nach der maßgeblichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zum einen voraus, dass eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde, und zum anderen ein subjektives Element, nämlich die Absicht, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden (vgl. EuGH, Urt. v. 16. Oktober 2012, C-364/10, RS Ungarn/Slowakei, juris, Rn. 58; EuGH, Urt. v. 12. März 2014, C-456/12, RS O., juris, Rn. 58).

Davon kann nach Auffassung des Senats vorliegend nicht ausgegangen werden: Dabei ist zunächst in den Blick zu nehmen, dass der Europäische Gerichtshof den Missbrauchstatbestand im Zusammenhang mit der (Arbeitnehmer ) Freizügigkeit, soweit ersichtlich, nur zur Anwendung gebracht hat, wenn die Aufnahme einer freizügigkeitsrechtlich begünstigten Tätigkeit im Zielstaat erkennbar darauf zielte, sich Zugang zu Leistungen mit einem deutlich anderen Förderziel – konkret: Studienbeihilfen – zu verschaffen und eine mehr als ganz kurzzeitige Integration unmittelbar in das Erwerbsleben daher von vornherein nicht angestrebt war (vgl. EuGH, Urt. v. 21. Juni 1988, C-39/86, RS Lair, juris; EuGH, Urt. v. 6. November 2003, C-413/01, RS Ninni-Orasche, Slg. 2003, I-13187). Eine Übertragung dieser Überlegungen auf Sozialleistungen, die gerade der Absicherung nach dem unfreiwilligen Ausscheiden aus einer Erwerbstätigkeit und der (Re ) Integration in das Erwerbsleben dienen, erscheint dem Senat daher schon strukturell als problematisch. Das gilt jedenfalls, sofern die Aufnahme der Erwerbstätigkeit nicht mehr oder weniger zum Schein oder von vornherein mit dem (primären) Ziel erfolgt ist, sich entsprechende Sozialleistungsansprüche zu verschaffen, wofür hier keine Anhaltspunkte bestehen: Hinweise darauf, dass die Antragstellerin mit der Einreise und der Aufnahme einer Tätigkeit als Prostituierte ein anderes Ziel verfolgt hätte, als sich durch den daraus resultierenden Erwerb ihren Lebensunterhalt zu sichern, sind nicht erkennbar. Insbesondere kann vor diesem Hintergrund nicht davon ausgegangen werden, dass sie die Tätigkeit nur aufgenommen hätte, um einen Aufenthalt im Bundesgebiet und den Erhalt von Sozialleistungen zu ermöglichen (vgl. zur Annahme eines Missbrauchs unter entsprechenden Umständen – für die Arbeitnehmerfreizügigkeit – Hess. VGH, Beschl. v. 5. März 2019, 9 B 56/19 und Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 2 FreizügG/EU Rn. 56).

Jedenfalls aber fehlt es an dem subjektiven Element: Insoweit hat sich die Antragstellerin mit ihrer Anmeldung nach § 3 ProstSchutzG rechtskonform verhalten. Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten vermag der Senat vor diesem Hintergrund nicht zu erkennen.

c) Ein Anordnungsgrund liegt (nur) für den aus dem Tenor ersichtlichen Zeitraum vor.

Dem Grunde nach hat der Senat keinen durchgreifenden Zweifel, dass die Antragstellerin dringend auf Leistungen der Existenzsicherung angewiesen ist. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Antragstellerin derzeit Einkommen erzielen oder auf Vermögen zurückgreifen könnte. Vielmehr hat sie nach dem Verbot, die Prostitutionstätigkeit auszuüben, ihre frühere Wohnmöglichkeit verloren, ersichtlich weil sie die notwendigen Mittel dafür nicht mehr aufbringen konnte.

Es ist weiter nicht erkennbar, dass ihr durch Unterstützung durch D. mehr als das schlichte Überleben ermöglicht würde. Die notwendigen Mittel zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz stehen ihr erkennbar nicht in ausreichendem Umfang zur Verfügung.

Damit ist sie zentral in ihrem durch Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG geschützten Recht auf Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums betroffen, das nicht nachholend verwirklicht werden kann. Bei der Abwägung der wechselseitigen Interessen und in Anbetracht der erheblichen Erfolgsaussichten kann ihr daher nicht zugemutet werden, den Ausgang eines Hauptsacheverfahrens abzuwarten.

Nicht gegeben ist ein Anordnungsgrund allerdings für die Zeit vom 27. Mai 2020 bis zum 26. Juni 2020, da für diesen Zeitraum die Beigeladene existenzsichernde Leistungen zu erbringen hat, nachdem sie die entsprechende Verpflichtung durch den Beschluss des Sozialgerichts vom 13. Juli 2020 nicht angegriffen hat.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin erstinstanzlich vollständig hätte Erfolg haben müssen; im Beschwerdeverfahren konnte sie dagegen in der Zeit, für die das Sozialgericht die Beigeladene zur Leistungserbringung verpflichtet hatte, keine weiteren Leistungen verlangen und musste insoweit mit ihrer Beschwerde ohne Erfolg bleiben.

IV. Schließlich liegen auch die Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 ff. ZPO) vor, so dass ihrem diesbezüglichen Antrag unter Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten zu entsprechen war. Nachdem für die anwaltliche Vertretung im sozialgerichtlichen Verfahren regelmäßig und auch hier Rahmengebühren entstehen (§ 14 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz), besteht dabei für eine nur teilweise Bewilligung kein Raum, auch wenn es der Beschwerde hinsichtlich der Zeit der Sicherstellung des Lebensunterhalts durch die Verpflichtung des Beigeladenen von vornherein an hinreichenden Erfolgsaussichten gefehlt haben dürfte.

Dieser Beschluss kann gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde angefochten werden.
Rechtskraft
Aus
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