S 27 AS 295/20 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
27
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 27 AS 295/20 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 383/20 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beigeladene wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig Überbrückungsleistungen nach dem SGB XII für den Zeitraum vom 27.5.2020 bis 26.6.2020 in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Im Übrigen werden die Anträge abgelehnt.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitssuchende – (SBG II) im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes, hilfsweise nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe – (SGB XII).

Die 1983 in Bulgarien geborene Antragstellerin hält sich seit unbekanntem Zeitpunkt in der Bundesrepublik Deutschland auf. Eine Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde erfolgte nicht. Die Antragstellerin ist – nach ihren eigenen Angaben – schon seit vielen Jahren als Prostituierte auf dem Straßenstrich in B-Stadt tätig.

Am 6.4.2020 stellte sie bei der Antragsgegnerin einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II. Hierbei gab sie an, bislang von ihren Einkünften, wenn auch knapp unter dem Existenzminimum, gelebt zu haben. Die Einnahmen aus ihrer Tätigkeit als Prostituierte seien ausschließlich durch Barzahlungen erfolgt. Zahlungsquittungen habe die Antragstellerin hierfür nicht ausgestellt. Sie habe auch weder eine Sozialversicherungsnummer noch eine Steuernummer bei dem zuständigen Finanzamt. Ebenso habe sie ihre Tätigkeit nicht beim Finanzamt angezeigt. Sie habe kein Gewerbe angemeldet, verfüge aber über einen Ausweis nach dem Prostitutionsschutzgesetz. Weiter gab sie an, bis zum 1.4.2020 in A-Stadt gewohnt zu haben. Die Wohnung habe sie aufgrund ausgebliebender Mietzahlungen verloren, welche stets in bar an den Vermieter erfolgt seien. Ein Mietvertrag existierte nicht. Aufgrund der Covid19-Pandemie habe die Antragstellerin seit März 2020 nicht mehr arbeiten können. Derzeit werde sie durch den Verein D. e.V. (im Folgenden D.) finanziell unterstützt. Sie sei seit dem 2.4.2020 durch das Ordnungsamt in einer Notunterkunft in einem Hotel in A-Stadt untergebracht und daher dringend auf Leistungen angewiesen.

Mit Bescheid vom 16.4.2020 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag mit der Begründung ab, die Antragstellerin sei von den Leistungen nach dem SGB II gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ausgeschlossen, weil sie sich nicht auf einen freizügigkeitsberechtigten Zweck nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) zur Ausübung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit berufen könne, da die Voraussetzungen hierfür nicht vorlägen. Gemäß der Vorschrift des § 49 des Vertrages über die Arbeitsweise der europäischen Union (AEUV) seien die berufs- und gewerberechtlichen Vorschriften zu beachten. Es könne nur dann ein Aufenthaltsrecht begründet werden, wenn die Tätigkeit unter den Bestimmungen des jeweiligen Mitgliedsstaates – insbesondere unter Beachtung der steuerrechtlichen Aufzeichnungspflichten – ausgeübt und die gesetzlichen Vorschriften nicht umgangen würden. Es könne daher im Falle der Antragstellerin nicht von einer rechtmäßigen selbstständigen Tätigkeit ausgegangen werden, die eine Erwerbstätigkeit im Sinne des § 2 FreizügG/EU begründen würde, so dass in der Konsequenz auch keine Erwerbstätigeneigenschaft fortwirken könne.

Gegen den Bescheid hat die Antragstellerin am 11.5.2020 Widerspruch eingelegt, über den noch nicht entschieden wurde.

Bereits am 20.4.2020 hat die Antragstellerin vor dem Sozialgericht Darmstadt einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes Anordnung gestellt.

Die Antragstellerin trägt vor, die Entscheidung eile außerordentlich, da sie mittellos sei und ihrer Tätigkeit aufgrund des Verbots der Prostitution und des Kontaktverbotes als Maßnahmen des Infektionsschutzes nicht mehr nachgehen könne. Eine Ausreise sei wegen der Einstellung des internationalen Busverkehrs keine Option.

Die Antragstellerin ist der Auffassung, sie sei freizügigkeitsberechtigt, da sie in der Vergangenheit Sexdienstleistungen gegen Entgelt in eigener Verantwortung und auf eigener Regie erbracht habe. Hiermit habe sie ein Aufenthaltsrecht als Selbstständige begründet und halte diesen Status gemäß § 2 Abs. 3 FreizügG/EU weiterhin aufrecht, da sie die Tätigkeit aufgrund von Umständen, auf die sie keinen Einfluss habe, unfreiwillig habe einstellen müssen. Die Tatsache, dass sie kein Gewerbe angemeldet und keine Steuererklärung abgegeben habe, führe nicht zum Verlust ihres Freizügigkeitsrechts als Selbstständige. Es komme in diesem Zusammenhang ausschließlich auf die tatsächliche Ausübung der selbstständigen Tätigkeit an. Einen Aufenthalt für die gesamte Dauer von fünf Jahren könne sie nicht nachweisen.

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr Leistungen zum Lebensunterhalt und die Kosten für die Unterbringung im Hotel zu gewähren,
hilfsweise
die Beigeladene zu verpflichten, ihr vorläufig Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII einschließlich sog. Überbrückungsleistungen, zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.

Zur Begründung wiederholt sie ihre Ausführungen aus dem Ablehnungsbescheid vom 16.4.2020 und trägt ergänzend vor, dass der gewöhnliche Aufenthalt im Sinne des § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II nicht nachgewiesen worden sei. Dieser müsse während der gesamten Fünfjahresfrist mittels einer fortwährenden Meldung in der Bundesrepublik Deutschland vorhanden sein, da die Meldung konstituierende Wirkung habe.

Mit Beschluss vom 20.4.2020 hat das Gericht die Stadt Offenbach – der Magistrat – als Leistungsträger nach dem SGB XII zum vorliegenden Verfahren beigeladen.

Die Beigeladene stellt keinen Antrag. Sie behauptet, die örtliche Zuständigkeit sowie eine aktuelle Bedürftigkeit der Antragstellerin seien nicht glaubhaft gemacht worden. Es werde nur pauschal vorgetragen, die Antragstellerin habe in A-Stadt gewohnt, wobei sich aus der übrigen Darstellung ergebe, dass diese sich hauptsächlich in B-Stadt aufhalte. Auch für eine Leistungsgewährung nach der Härtefallregelung im Sinne des § 23 Abs. 3 S. 6 SGB XII sei nichts ersichtlich, da diese Norm bereits ihrem Wortlaut nach eine "zeitlich befristete Bedarfslage" voraussetze, so dass nach dem Willen des Gesetzgebers kein dauerhafter Leistungsbezug möglich sei. Trotz der aktuell schwierigen Reisesituation sei es bulgarischen Staatsangehörigen nicht verwehrt, in ihr Heimatland zu reisen. Der fehlende Ausreisewille könne niemals die Annahme eines Härtefalles begründen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Behördenakte der Antragsgegnerin ergänzend Bezug genommen. Diese wurden Gegenstand der Entscheidung.

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig, aber nur teilweise hinsichtlich des auf Überbrückungsleistungen gerichteten Hilfsantrags – begründet.

Nach § 86b Abs. 2 S. 1 Sozialgesetzbuch (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts der Antragstellerseite vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach Satz 2 der Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (HLSG, Beschluss vom 18.3.2011 – L 7 AS 687/10 B ER). Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, voraus. Das Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache darf nicht mit wesentlichen Nachteilen verbunden sein, d.h. es muss eine dringliche Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert (HLSG, a.a.O.).

Nach § 86b Abs. 2 Satz 3 SGG i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 938, 294 Zivilprozessordnung (ZPO) sind sowohl Anordnungsgrund, als auch Anordnungsanspruch glaubhaft zu machen.

Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander, sondern in einer Wechselbeziehung, nach der die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit beziehungsweise Schwere des drohenden Nachteils zu verringern sind und umgekehrt (vgl. st. Rspr. HLSG, z.B. Beschluss vom 16.3.2015 – L 2 R 67/15 B ER; Beschluss vom 29.6.2005 – L 7 AS 1/05 ER; Beschluss vom 7.9.2012 – L 9 AS 410/12 B ER m.w.N.). Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist ein darauf bezogener Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund, auch wenn auf diesen nicht gänzlich verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Beteiligten ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache eher zuzumuten ist. Dabei sind grundrechtliche Belange des Antragstellers, soweit diese durch die Entscheidung berührt werden, umfassend in der Abwägung zu berücksichtigen.

1) Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze war der Hauptantrag vorliegend abzulehnen, weil der Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht wurde.

Nach § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II erhalten Leistungen nach dem SGB II Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben (Nr. 1), erwerbsfähig (Nr. 2) und hilfebedürftig sind (Nr. 3) und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (Nr. 4). Insoweit hat die Kammer an dem Vorliegen dieser Voraussetzungen keine Zweifel. Insbesondere hat die Antragstellerin ihre Hilfebedürftigkeit glaubhaft gemacht. Nach § 9 Abs. 1 SGB II ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält. Die Antragstellerin versicherte an Eides statt, keinerlei Einnahmen zu haben. Sie habe immer "von der Hand in den Mund gelebt" und daher weder hier noch in ihrem Heimatland Vermögen bilden können. Der Einnahmeausfall infolge der pandemiebedingten Schließung des Straßenstriches erscheint plausibel und nachvollziehbar. Für eine verbotswidrige Fortführung der Tätigkeit als Prostituierte sind keine Anhaltspunkte ersichtlich. Die Antragstellerin finanziert sich aktuell aus Spenden des Vereins D. Aufgrund der Tatsache, dass sich die Antragstellerin nicht nur vorübergehend im Sinne des § 30 Abs. 3 S. 2 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB I) in A Stadt aufhält, war auch ein gewöhnlicher Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland anzunehmen.

Allerdings entfällt der Leistungsanspruch der Antragstellerin, da sie nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 b) SGB II von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen ist. Danach sind Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt von den Leistungen ausgenommen. Entgegen der Auffassung der Antragstellerin kann sie sich allein auf ein Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 a) FreizügG/EU berufen. Eine Verlustfeststellung durch die zuständige Ausländerbehörde ist bislang nicht erfolgt.

Ein darüber hinaus gehendes Aufenthaltsrecht besteht nicht. Nach § 2 Abs. 1 FreizügigG/EU haben freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe dieses Gesetzes, wobei sich die Voraussetzungen im Einzelnen aus § 2 Abs. 2 und 3 FreizügG/EU ergeben.

Das Freizügigkeitsrecht der Antragstellerin ergibt sich nicht aus § 2 Satz 2 Nr. 1 FreizügigG/EU, weil sie weder Arbeitnehmerin war noch sich zur Arbeitsuche oder zur Berufsausbildung in der Bundesrepublik Deutschland aufhält. Vielmehr ging sie nach eigenen Angaben einer selbständigen Tätigkeit als Prostituierte nach. Dass die Tätigkeit jemals in einem Beschäftigungsverhältnis erfolgt ist, wurde nicht vorgetragen und ergibt sich auch nicht aus den Akten.

Ebenso wenig ergibt sich das Freizügigkeitsrecht der Antragstellerin aus § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügigG/EU. Demzufolge sind unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt Unionsbürger, wenn sie zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit berechtigt sind (niedergelassene selbständige Erwerbstätige). Eine allgemeine Definition des Selbständigen und seiner auf Gewinn ausgerichteten Tätigkeit existiert für das Unionsrecht nicht. Ausschlaggebend ist das Gesamtbild der Tätigkeit (OVG Hamburg, Beschluss vom 21.6.2010 – 1 B 137/10; LSG Berlin- Brandenburg, Beschluss vom 28.1.2013 – L 14 AS 3133/12 B ER; Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, § 2 FreizügG/EU Rn. 70). Dabei kommt es entscheidend darauf an, dass sie auf unbestimmte Zeit mittels einer festen Einrichtung tatsächlich ausgeübt wird, wobei nicht erforderlich ist, dass der erzielte Gewinn hieraus das notwendige Existenzminimum vollumfänglich deckt (BSG, Urteil vom 19.10.2010 – B 14 AS 23/10 R –, BSGE 107, 66-78, SozR 4-4200 § 7 Nr 21, Rn. 19). Ein formaler Akt, wie die Registrierung eines Gewerbes, ist nicht ausreichend (Bergmann/Dienelt/Dienelt, 13. Aufl. 2020, FreizügG/EU § 2 Rn. 81). Ebenso genügt beispielsweise ein bloßer Internetauftritt noch nicht als Beleg für eine ernsthaft betriebene selbständige Tätigkeit (LSG NRW, Beschluss vom 8.5.2015 – L 2 AS 270/15 B ER; Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 7 (Stand: 22.06.2020), Rn. 103).

Gemessen an diesen Grundsätzen hat die Antragstelllerin nicht glaubhaft gemacht, selbstständig erwerbstätig in dem obig bezeichneten Sinne gewesen zu sein. Zur Gaubhaftmachung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit reicht es nicht aus, dass sie über einen Ausweis nach dem Prostitutionsschutzgesetz verfügt. Auch wenn die Prostitution in der Bundesrepublik Deutschland nicht verboten ist, ergibt sich nicht schon allein aus deren Ausübung die Annahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit (LSG NRW, Beschluss vom 20.8.2012 – L 12 AS 531/12 B ER –, juris – Rn. 18). Vielmehr ist zudem eine dauerhafte wirtschaftliche Integrität in dem jeweiligen Aufnahmestaat von Nöten. Die Tätigkeit muss eine Teilnahme am Wirtschaftsleben darstellen (Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 7 (Stand: 22.06.2020), Rn. 103).

Unter Zugrundelegung des Vorbringens der Antragstellerin kommt die Kammer zur Überzeugung, dass die von ihr ausgeübte Tätigkeit diesen Anforderungen nicht genügt. Eine derartige dauerhafte wirtschaftliche Integrität kann in den Fällen nicht angenommen werden, in denen die gesetzlichen Vorgaben für die Ausübung einer Tätigkeit nicht eingehalten werden. Hierfür wäre neben der ordnungsgemäßen Anmeldung nach dem Prostituiertenschutzgesetz beim Ordnungsamt eine ordnungsgemäße steuerliche Anmeldung erforderlich (SG Darmstadt, Beschluss vom 28.5.2020 – S 21 AS 296/20 ER; LSG NRW, Beschluss vom 20.8.2012 – L 12 AS 531/12 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20.10.2014 – L 29 As 2052/14 B ER).

Die Antragstellerin hat weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht, dass sie ihre Tätigkeit als Prostituierte dem Finanzamt angezeigt hätte, den steuerrechtlichen Buchführungs- und Aufzeichnungspflichten nachgekommen wäre oder eine Einkommenssteuererklärung abgegeben hat. Wer sich jedoch dem Abgaberecht völlig entzieht und jedwede Prüfung des Einkommens und der etwaigen Steuerpflicht gänzlich unmöglich macht, kann sich nicht auf dauerhafte wirtschaftliche Integrität berufen, zumal die Steuerhinterziehung eine Straftat darstellt.

Entgegen der Auffassung der Antragstellerin ist in diesem Zusammenhang irrelevant, ob ihr Einkommen den einkommenssteuerrechtlichen Grundfreibetrag unterschritten hat. Ob die Einkünfte tatsächlich so gering gewesen sind, dass keine Steuern angefallen wären, hätte gerade erst nach einer entsprechenden Anzeige durch die zuständige Finanzbehörde geprüft werden müssen. Ebenso durfte sich die Antragstellerin nicht darauf verlassen, dass das Ordnungsamt ihre Tätigkeit dem zuständigen Finanzamt weiterleitet.

Der bloß formale Akt einer Anmeldung nach dem Prostitutionsschutzgesetz reicht ebensowenig nicht aus, um den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 2 S. 2 SGB II zu entkräften, wie eine bloße Gewerbeanmeldung. Auch wenn die Kammer an dem Vortrag der Antragstellerin hinsichtlich der tatsächlich ausgeübten Tätigkeit als Prostituierte keine Zweifel hat, lässt ein solcher formaler Akt allein – wie vorstehend bereits ausgeführt – nicht auf eine dauerhafte wirtschaftliche Integrität in der Bundesrepublik Deutschland schließen.

Eine abweichende Beurteilung ergibt sich auch nicht aus § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügigG/EU. Die Norm setzt voraus, dass die Einstellung einer selbständigen Tätigkeit infolge von Umständen erfolgt, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte und die Tätigkeit mehr als ein Jahr ausgeübt wurde. Ungeachtet der Problematik, ob diese Vorschrift im Zusammenhang mit dem Begriff der selbständigen Tätigkeit auch solche selbständig Erwerbstätigen erfasst, die keine Niederlassung an einem festen Ort haben oder nur solche, die mit einer Niederlassung in fester Einrichtung tätig sind und die Vorschrift dann europarechtskonform auszulegen wäre (vgl. hierzu LSG NRW, Beschluss vom 2.7.2012 – L 19 AS 1071/12 B ER), greift diese Vorschrift deshalb nicht statuserhaltend für die Antragstellerin ein, weil ihre vorherige Tätigkeit – wie obig ausgeführt – nicht den Anforderungen einer selbstständigen Erwerbstätigkeit im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügigG/EU entspricht.

Die weiteren Tatbestände des § 2 Abs. 2 FreizügigkeitsG/EU sind nicht gegeben.

Nach alledem kann mangels entgegenstehender Anhaltspunkte allenfalls bei wohlwollender Betrachtung zugunsten der Antragstellerin von einem Aufenthaltszweck der Arbeitssuche ausgegangen werden. Dies hat jedoch zur Folge, dass die Voraussetzungen des Leistungsausschlusses gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfüllt sind.

Letztlich ergibt sich auch aus § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II keine andere Beurteilung. Demzufolge erhalten abweichend von Satz 2 Nummer 2 der Vorschrift Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach dem SGB II, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben und der Verlust des Freizügigkeitsrechts nicht festgestellt wurde. Ein solcher Aufenthalt dokumentiert eine Verbindung zum Inland, die Voraussetzung für eine Verfestigung des Aufenthalts ist, die ihrerseits eine Leistungsgewährung rechtfertigt. Zu prüfen bleibt aber im Einzelfall stets, ob ein gewöhnlicher Aufenthalt im Inland gegeben ist. Leistungsberechtigte haben dies nachzuweisen, bzw. glaubhaft zu machen. Herangezogen werden können z.B. Meldebescheinigungen, Mietverträge, Abrechnungen von Energieversorgern etc. (Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 7 (Stand: 22.6.2020), Rn. 162). Die Antragstellerin hat trotz mehrfacher gerichtlicher Aufforderung nicht glaubhaft gemacht, ihren Aufenthalt seit mindestens fünf Jahren im Bundesgebiet zu haben. Vielmehr trägt sie selbst vor, einen lückenlosen Aufenthalt nicht nachweisen zu können.

Selbst wenn die Kammer der Rechtsauffassung folgen würde, dass § 7 Abs. 1 S. 5 SGB II kein durchgehendes Meldeerfordernis erfordert (so HLSG, Beschluss vom 16.10.2019 L 7 AS 343/19 B ER sowie LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 4.5.2020 – L 31 AS 602/20 B ER), bestünden erhebliche Zweifel an dem fünfjährigen Aufenthalt der Antragstellerin in der Bundesrepublik Deutschland.

Gemäß § 7 Abs. 1 S. 5 SGB II beginnt die Frist nach Satz 4 mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde. Da die Antragstellerin melderechtlich überhaupt nicht in Erscheinung getreten ist, kann dies im vorliegenden Fall nicht als Ausgangspunkt herangezogen werden. Auf die gerichtliche Anfrage vom 20.4.2020 sowie vom 12.6.2020, wann die Antragstellerin erstmals in die Bundesrepublik eingereist sei, erfolgte keine konkrete Angabe eines Zeitpunktes bzw. Datums. Die Aussage, die Antragstellerin befinde sich bereits seit Jahren im Bundegebiet, reicht zur Glaubhaftmachung nicht aus. Auch eine gerichtliche Anfrage bei dem Ausländeramt, seit wann sich die Antragstellerin in Deutschland befinde, bzw. ob Ein- und Ausreisedaten bekannt seien, blieb erfolglos.

Nichts Anderes ergibt sich aus der Behauptung, sie sei dem Verein D. seit über zehn Jahren bekannt. Zur Glaubhaftmachung wurde eine Auflistung des Vereins D. eingereicht, aus der sich ergibt, wann die Antragstellerin von Vereinsmitgliedern auf dem Straßenstrich angetroffen worden ist. Allerdings geht hieraus hervor, dass die Antragstellerin nur unregelmäßig und erst seit dem Jahr 2018 angetroffen worden ist. Gleiches gilt für die Bescheinigungen des Polizeihauptkommissars E. So ist die Antragstellerin beispielsweise im Jahr 2016 überhaupt nicht angetroffen worden. Es wurde weiter vorgetragen, dass sie zwecks Geburt und Adoptionsfreigabe ihres Kindes im Jahr 2015 im Bundesgebiet gewesen sei. Nachweise hierüber wurden allerdings auch auf Nachfrage nicht vorgelegt. Letztlich wurde die Antragstellerin auch erst im Jahr 2018 als Prostituierte angemeldet, was die Frage aufwirft, wieso dies nicht bereits zu einem früheren Zeitpunkt erfolgte. Auf die Frage des Vorliegens einer besonderen Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) für den Hauptantrag kommt es vor dem Hintergrund des fehlenden Anordnungsanspruches nicht mehr an.

2) Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist aber in Bezug auf den Hilfsantrag teilweise begründet.

Die Antragstellerin hat einen Anspruch auf Gewährung sog. Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 S. 3 SGB XII durch die Beigeladene glaubhaft gemacht. Demnach werden hilfebedürftigen Ausländern, die § 23 Abs. 3 S. 1 SGB XII unterfallen, bis zur Ausreise, längstens jedoch für einen Zeitraum von einem Monat, einmalig innerhalb von zwei Jahren nur eingeschränkte Hilfen gewährt, um den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken (Überbrückungsleistungen); die Zweijahresfrist beginnt mit dem Erhalt der Überbrückungsleistungen nach Satz 3. Vorliegend hat die Antragstellerin derartige Überbrückungsleistungen noch nicht erhalten. Ein Ausreisewille ist hierbei keine Voraussetzung (HLSG, Beschluss vom 20.6.2017 – L 4 SO 70/17 B ER –, juris – Rn. 16).

An der Hilfebedürftigkeit der Antragstellerin bestehen – wie obig ausgeführt – keine Zweifel.

Ebenso ist der tatsächliche Aufenthalt der Antragstellerin im Bereich der Beigeladenen für die Kammer hinreichend glaubhaft gemacht worden. Sie ist derzeit auf Kosten des Vereins D. in einem Hotel in A-Stadt untergebracht.

Da sie die Überbrückungsleistungen ausdrücklich erstmals in dem Schriftsatz vom 27.5.2020 geltend machte, beginnt ihr einmonatiger Anspruch ab diesem Zeitpunkt.

Im Übrigen ist die Antragstellerin von der Leistungsgewährung im Sinne des SGB XII ausgeschlossen. Ausländer und ihre Familienangehörigen erhalten gemäß § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XII keine Leistungen, wenn sie kein Aufenthaltsrecht haben oder sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zwecke der Arbeitssuche ergibt. Infolgedessen unterfällt die Antragstellerin – ungeachtet der Überbrückungsleistungen – dem Leistungsausschluss, da diese lediglich über ein Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitssuche verfügt.

Die Voraussetzungen der Härtefallregelungen des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII liegen ebenfalls nicht vor. Danach werden, soweit dies im Einzelfall besondere Umstände erfordern, Leistungsberechtigten nach Satz 3 zur Überwindung einer besonderen Härte andere Leistungen im Sinne von Abs. 1 gewährt; ebenso sind Leistungen über einen Zeitraum von einem Monat hinaus zu erbringen, soweit dies im Einzelfall auf Grund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage geboten ist. Auch die Härtefallregelungen des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII sollen nach dem Willen des Gesetzgebers keinen dauerhaften Leistungsbezug ermöglichen (Begründung des Entwurfes eines Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, Bundestags-Drucksache 18/10211, S. 16 f). Eine Gewährung der Leistung soll nur ganz ausnahmsweise in Betracht kommen (Groth in BeckOK-Sozialrecht, § 23 Rn. 18b [September 2018]). Dass bei der Antragstellerin besondere Umstände im Sinne des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII vorliegen, ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Die Antragstellerin behauptet selbst nicht, dass diese Voraussetzungen bei ihr vorlägen.

Eine besondere Eilbedürftigkeit hinsichtlich der Überbrückungsleistungen besteht dadurch, dass die Antragstellerin zur Bestreitung ihres laufenden Lebensunterhalts entscheidend auf diese Leistungen angewiesen ist. Sie erklärte an Eides statt, sie sei völlig mittellos und dringend auf existenzsichernde Leistungen angewiesen.

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Das Obsiegen der Antragstellerin stellt sich hier als geringfügig dar, so dass auch eine anteilige Kostentragungspflicht der Beigeladenen ausscheidet.

Das zulässige Rechtsmittel der Beschwerde ergibt sich aus § 172 Abs. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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