S 15 AS 144/20

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
15
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 15 AS 144/20
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung eines Mehrbedarfs wegen Schwerbehinderung.

Der am 00.00.1964 geborene Kläger bezieht laufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) bei dem beklagten Jobcenter. Aufgrund des Weiterbewilligungsantrags vom 16.10.2018 bewilligte der Beklagte dem Kläger mit Bewilligungsbescheid vom 23.10.2018 Leistungen für den Bewilligungszeitraum vom 01.11.2018 bis 31.10.2019. Für diesen Bewilligungszeitraum ergingen am 24.11.2018, 24.01.2019 und 21.06.2019 Änderungsbescheide zur Anpassung des Regelbedarfs sowie der Heizkosten- und Betriebskostenvorauszahlungen.

Mit Schreiben vom 15.10.2019, eingegangen am 16.10.2019, beantragte der Kläger die Gewährung eines Mehrbedarfs wegen Schwerbehinderung. Dem Antrag legte er den Feststellungsbescheid über seine Schwerbehinderung bei. Nach diesem Bescheid vom 20.10.2011 waren bei dem Kläger ab dem 03.08.2011 nach § 152 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderung – (SGB IX) ein Grad der Behinderung von 70 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Gehfähigkeit), "B" (Berechtigung für eine ständige Begleitung) und "RF" (Ermäßigung der Rundfunkgebühren) festgestellt worden.

Mit Bescheid vom 25.10.2019 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers auf Gewährung eines Mehrbedarfs wegen Schwerbehinderung ab. Zur Begründung führte er aus, dass dieser die tatbestandlichen Voraussetzungen der Anspruchsgrundlage im SGB II nicht erfülle. Der Kläger sei zwar schwerbehindert, allerdings sei er kein Bezieher einer anspruchsauslösenden Maßnahme.

Mit Schreiben vom 24.11.2019 legte der Kläger gegen diese Entscheidung Widerspruch ein. Den Widerspruch verwarf der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 13.12.2019 als unzulässig und unbegründet. Der Widerspruch sei unzulässig, da er nicht fristgemäß eingelegt worden sei. Die Widerspruchsschrift des Klägers sei erst am 02.12.2019 und damit verspätet eingegangen. Zudem sei der Widerspruch unbegründet. Eine Schwerbehinderung führe nicht automatisch zum Mehrbedarf im SGB II. Die weitere Voraussetzung einer anspruchsauslösenden Maßnahme erfülle der Kläger nicht.

Der Kläger hat am 13.01.2020 form- und fristgerecht Klage erhoben. Zur Begründung führt er aus, dass der Widerspruch zulässig sei. Den Bescheid habe er am 29.11.2019 erhalten. Den dagegen gerichteten Widerspruch habe er am 26.11.2019 postalisch als Einwurfeinschreiben aufgegeben. Der Widerspruch sei auch begründet. Wegen seiner Schwerbehinderung sei ihm ein Mehrbedarf zu gewähren.

Der Kläger beantragt sinngemäß schriftsätzlich,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 25.10.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.12.2019 zu verurteilen, bei ihm einen Mehrbedarf wegen Schwerbehinderung in Höhe von 35 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs anzuerkennen und damit im Bewilligungszeitraum vom 01.11.2018 bis 31.10.2019 monatlich höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes zu gewähren.

Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte verweist im Wesentlichen auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid.

Die Beteiligten sind über die Absicht des Gerichts, den Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, in Kenntnis gesetzt worden. Sie haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der vorliegenden Verwaltungsakte des Beklagten sowie den der Prozessakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Streitsache konnte gemäß § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Gerichtsbescheid entschieden werden, da sie keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist.

Die Anhörungsmitteilung musste hier nach Eingang des Schriftsatzes des Beklagten vom 10.06.2020 auch nicht wiederholt werden, weil sich die Prozesslage nicht wesentlich geändert hat (vgl. Burkiczak, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 105 Rn. 71). Die in diesem Schriftsatz und der beigefügten Anlage gemachten Angaben des Beklagten dienten allein zur Vervollständigung des noch für das Gericht offenen – den Beteiligten allerdings hinreichend bekannten – Sachverhalts.

1. Gegenstand des Verfahrens ist der Ablehnungsbescheid vom 25.10.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.12.2019, mit dem der Beklagte es auf das Schreiben des Klägers vom 16.10.2019 hin der Sache nach abgelehnt hat, dem Kläger höhere Leistungen nach dem SGB II unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs für erwerbsfähige behinderte Leistungsberechtigte zu zahlen. Streitgegenständlich kann aber nicht der Bescheid vom 25.10.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.12.2019 isoliert sein, denn die Gewährung eines Mehrbedarfs kann nicht in zulässiger Weise zum isolierten Streitgegenstand eines gerichtlichen Verfahrens gemacht werden (st. Rspr. vgl. BSG, Urteil vom 15.12.2010 – B 14 AS 44/09 R, Rn. 13, juris; BSG, Urteil vom 24.02.2011 – B 14 AS 49/10 R, Rn. 13, juris; BSG, Urteil vom 26.05.2011 – B 14 AS 146/10 R, Rn. 14, juris; BSG, Urteil vom 04.06.2014 – B 14 AS 30/13 R, Rn. 12, juris). Der angefochtene Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheids ist deswegen so zu lesen, dass der Beklagte die Abänderung der im streitgegenständlichen Zeitraum bereits ergangenen Bewilligungsbescheide in der Fassung der Änderungsbescheide (vom 23.10.2018, 24.11.2018, 24.01.2019 und 21.06.2019) unter Berücksichtigung des geltend gemachten Mehrbedarfs ablehnte. Der Kläger hat den (sachlichen) Streitgegenstand zulässigerweise insoweit beschränkt, als Kosten der Unterkunft nicht in Streit stehen. Streitgegenstand des Verfahrens ist der Zeitraum von November 2018 bis Oktober 2019. Denn lediglich sofern der Grundsicherungsträger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gänzlich ablehnt, kann zulässiger Streitgegenstand des gerichtlichen Verfahrens – je nach Klageantrag – die gesamte bis zur Entscheidung verstrichene Zeit sein (st. Rspr. vgl. BSG, Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 14/06 R, Rn. 30, juris). Ist dagegen – wie hier – lediglich die Höhe der laufenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts streitig, kann einer Entscheidung des Trägers der Grundsicherung wegen der in § 41 Abs. 3 Satz 1 SGB II vorgesehenen abschnittsweisen Bewilligung von Leistungen grundsätzlich keine Bindungswirkung für künftige Bewilligungsabschnitte zukommen (vgl. BSG, Urteil vom 22.03.2010 – B 4 AS 59/09 R, Rn. 16, juris; BSG, Urteil vom 24.02.2011, a.a.O., Rn. 14). Da der Bescheid des Beklagten vom 25.10.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.12.2019 ausdrücklich auf den Bewilligungsabschnitt vom 01.11.2018 bis 31.10.2019 Bezug nimmt, wird der Streitzeitraum auf diese Zeit begrenzt (vgl. BSG, Urteil vom 24.02.2011, a.a.O., Rn. 14). Die Antragsschrift des Klägers konnte wegen des Meistbegünstigungsgrundsatzes (vgl. etwa BSG, Urteil vom 06.04.2011 – B 4 AS 119/10 R, Rn. 29 m.w.N., juris) nicht dahingehend ausgelegt werden, dass der Kläger die Leistungen erst ab August 2019 beantragt und damit den Streitgegenstand in zeitlicher Hinsicht für die Zeit ab August 2019 begrenzt hat (zur Zulässigkeit der zeitlichen Beschränkung des Streitgegenstandes vgl. BSG, Urteil vom 02.07.2009 – B 14 AS 32/07 R, Rn. 16, juris; BSG, Urteil vom 12.07.2012 – B 14 AS 153/11 R, Rn. 11, juris). Zum einen ist diese Erklärung nicht so formuliert, als dass dieser eindeutig entnommen werden kann, dass der Kläger eine Begrenzung seines Leistungsanspruchs vornehmen wollte. Entsprechend hat auch der Beklagte über den gesamten Bewilligungsabschnitt entschieden. Zum anderen geht der Kläger offensichtlich davon aus, dass es im August 2019 eine Gesetzesänderung gab, wonach ihm der Mehrbedarf nunmehr gewährt werden könne, obgleich er darauf hinweist, bereits seit 2011 unverändert im Besitz der Schwerbehinderteneigenschaft und des Merkzeichens "G" zu sein. Im Interesse des Klägers geht daher auch das Gericht – wie zuvor schon der Beklagte – davon aus, dass der Kläger den streitigen Bewilligungsabschnitt als solchen zur Überprüfung stellen wollte. Jedenfalls aufgrund der klaren Ausführungen des Beklagten im Ablehnungsbescheid hätte sich der Kläger im Falle einer gewollten bzw. bewussten Antragsbegrenzung zu einer Klarstellung veranlasst sehen müssen. Weder in der Widerspruchsschrift noch in der Klageschrift findet sich eine Begrenzung der Leistungen auf die Zeit ab August 2019. Der Kläger hat den ablehnenden Bescheid des Beklagten gänzlich angefochten und eine Begrenzung des zeitlichen Streitgegenstandes selbst nicht vorgenommen.

2. Die Klage ist zulässig.

a. Statthafte Klageart ist die kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 i.V.m. § 56 SGG), da die Klage bzw. der Antrag für die Zeit von November 2018 bis Oktober 2019 sinngemäß auf die Überprüfung des zu diesem Zeitpunkt bereits erlassenen Bewilligungsbescheids vom 23.10.2018 wegen anfänglicher Rechtswidrigkeit nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) zielt (vgl. BSG, Urteil vom 30.03.2017 – B 14 AS 55/15 R, Rn. 12, juris).

b. Auch ist das nach § 78 Abs. 1 Satz 1 SGG notwendige Vorverfahren ordnungsgemäß durchgeführt worden. Die Widerspruchsfrist beträgt gemäß § 84 Abs. 1 SGG einen Monat, nachdem der Bescheid bekanntgegeben wurde. Nach § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der im Inland durch die Post übermittelt wird, am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Nach Satz 3 gilt dies nicht, wenn der Verwaltungsakt nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen. Der Beklagte hat den Bescheid am 25.10.2019 zur Post aufgegeben. Ob dieser am 28.10.2019 als bekanntgegeben gilt oder ob das qualifizierten Bestreiten des Klägers, wonach ihm der Bescheid erst am 29.10.2019 zugegangen sein soll, Zweifel an der Bekanntgabefiktion des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X auszulösen geeignet ist, bedarf im Ergebnis keiner Entscheidung. Denn auch unter Zugrundelegung des klägerischen Vortrags des Zugangs am 29.10.2019, den dieser bereits in seiner Widerspruchsschrift vom 24.11.2019 angegeben hat, obwohl sich zu diesem Zeitpunkt die Frage der Versäumung der Widerspruchsfrist nicht stellte und er bei Aufgabe des Einwurfeinschreibens am 26.11.2019 ausgehend von üblichen Postlaufzeiten eine Auslieferung am nächsten, spätestens am übernächsten Werktag erwarten durfte (zur Wiedereinsetzung bei unverschuldeter Fristversäumnis bei rechtzeitiger Aufgabe zur Post vgl. Senger, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 67 Rn. 49 m.w.N.), gilt die Widerspruchsfrist als versäumt. Bei Bekanntgabe des Bescheids am 29.10.2019 begann die einmonatige Widerspruchsfrist nach § 84 SGG i.V.m. § 64 Abs. 1 SGG bzw. nach § 26 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 187 Abs. 1 BGB am 30.10.2019 und endete gemäß § 84 SGG i.V.m. § 64 Abs. 2 Satz 1 SGG bzw. gemäß § 26 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 188 Abs. 2 BGB am Freitag, den 29.11.2019. Erst am 02.12.2019 und damit nach Ablauf der Widerspruchsfrist ist der Widerspruch des Klägers bei dem Beklagten eingegangen. Jedoch hat die Widerspruchsbehörde sich in der Sache eingelassen und einen Widerspruchsbescheid erlassen. Hat die Widerspruchsbehörde auf einen verspäteten Widerspruch aufgrund ihrer Sachherrschaft eine Entscheidung in der Sache getroffen und sich nicht auf die Versäumung der Widerspruchsfrist berufen, so darf nach herrschender Rechtsprechung, der sich die erkennende Kammer anschließt, das später angerufene Gericht – da die Einhaltung der Widerspruchsfrist keine von den Gerichten von Amts wegen zu prüfende Sachurteilsvoraussetzung ist – die Klage nicht von sich aus wegen Versäumung der Widerspruchsfrist als unzulässig abweisen; dies gilt jedenfalls dann, soweit es sich nicht um einen Verwaltungsakt mit Doppelwirkung handelt (vgl. BVerwG Urteil vom 13.12.1967 – IV C 124.65, Rn. 10, juris; BVerwG, Urteil vom 28.10.1982 – 2 C 4/80, Rn. 10, juris; BSG, Urteil vom 12.10.1979 – 12 RK 19/78, Rn. 18 ff.; BSG, Urteil vom 03.03.1994 – 1 RK 17/93, Rn. 13, juris; Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 84 Rn. 7; Gall in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 84 Rn. 34; Dolde/Porsch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 37. EL 07/2019, § 70 Rn. 37 ff.; a.A. Kopp/Schenke, VwGO, 23. Aufl. 2017, § 70 Rn. 9; Becker, in: Roos/Wahrendorf, SGG, 1. Aufl. 2014, § 84 Rn. 27; Rennert, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 70 Rn. 8 f.). Eine Sachentscheidung ist aber nur dann anzunehmen, wenn die Widerspruchsbehörde vorbehaltlos, d.h. nicht nur hilfsweise auf die materielle Rechtslage eingeht, sich mithin über die Form- oder Fristversäumnis hinwegsetzt (vgl. VG Neustadt (Weinstraße), Urteil vom 09.07.2009 – 4 K 409/09.NW, Rn. 29, juris; VG Köln, Urteil vom 13.02.2019 – 24 K 9822/17, Rn. 31, juris). Eine solche Sachentscheidung hat der Beklagte vorliegend getroffen. Zwar hat er in dem Widerspruchsbescheid vom 13.12.2019 auf die Unzulässigkeit des Widerspruchs wegen Versäumens der Widerspruchfrist hingewiesen. Er hat in dem Bescheid aber darüber hinaus auch ausgeführt, dass die Sach- und Rechtslage geprüft worden sei mit dem Ergebnis, dass der streitgegenständliche Ablehnungsbescheid rechtmäßig sei. Der Beklagte hat sich in dem Widerspruchsbescheid nicht nur hilfsweise zur Sache eingelassen, sondern sich vorbehaltlos zusätzlich zur materiellen Rechtlage geäußert; vgl. bereits den Entscheidungstenor, wonach der Widerspruch "als unzulässig und unbegründet verworfen" werde, und nicht etwa als unzulässig und hilfsweise als unbegründet.

3. Die zulässige Klage ist unbegründet. Der angefochtene Bescheid vom 25.10.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.12.2019 ist rechtmäßig und beschwert den Kläger nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Dem Kläger steht gegenüber dem Beklagten kein Anspruch auf die Gewährung eines Mehrbedarfs wegen Schwerbehinderung und damit die Gewährung von weiteren Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für die Zeit vom 01.11.2018 bis 31.10.2019 zu.

a. Der Kläger erfüllt dem Grunde nach die Anspruchsvoraussetzungen nach §§ 7 ff. SGB II i.V.m. § 19 SGB II. Er ist im streitgegenständlichen Zeitraum insbesondere erwerbsfähig gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 8 Abs. 1 SGB II. Eine dauerhafte Erwerbsminderung nach § 8 SGB II liegt nach dem Gutachten vom 10.10.2019 (Bl. 16 f. GA) nicht vor, so dass es nicht darauf ankommt, inwieweit dieses für den hiesigen Zeitraum überhaupt Berücksichtigung finden kann.

b. Der Kläger kann einen Anspruch nicht aus § 21 Abs. 4 Satz 1 SGB II ableiten.

Nach § 21 Abs. 4 Satz 1 SGB II erhalten erwerbsfähige behinderte Leistungsberechtigte, denen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 49 SGB IX oder sonstige Hilfen zur Erlangung eines geeigneten Platzes im Arbeitsleben oder Eingliederungshilfen nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 - 3 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch – Sozialhilfe – (SGB XII) erbracht werden, einen Mehrbedarfszuschlag von 35 Prozent des nach § 20 SGB II maßgebenden Regelbedarfs.

Zwar ist der Kläger, bei dem ein Grad der Behinderung von 70 anerkannt ist, ein erwerbsfähiger behinderter Hilfebedürftiger im Sinne dieser Norm. Die Regelung des § 21 Abs. 4 Satz 1 SGB II setzt aber ferner voraus, dass Leistungen zur Teilnahme am Arbeitsleben nach § 49 SGB IX mit Ausnahme der Leistungen nach § 49 Abs. 3 Nr. 2 und 5 SGB IX sowie sonstige Hilfen zur Erlangung eines geeigneten Arbeitsplatzes im Arbeitsleben oder Eingliederungshilfen nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 - 3 SGB XII erbracht werden. Dies ist bei dem Kläger im fraglichen Zeitraum auch nach eigenem Vortrag nicht der Fall gewesen.

c. Ein Anspruch des Klägers ergibt sich auch nicht aus § 23 Nr. 4 SGB II (analog) bzw. § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII (analog).

aa. Der Mehrbedarf nach § 23 Nr. 4 SGB II wird nur an nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte erbracht, die voll erwerbsgemindert im Sinne des § 43 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) sind. Für erwerbsfähige Leistungsberechtigte – wie der Kläger –, die Inhaber eines Ausweises mit dem Merkzeichen "G" sind, scheidet eine analoge Anwendung des § 23 Nr. 4 SGB II aus, weil es an einer planwidrigen Lücke fehlt. Es entspricht dem Willen des Gesetzgebers, erwerbsfähigen Leistungsberechtigten einen Mehrbedarf allein wegen ihrer Schwerbehinderung und der Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht zugänglich zu machen (vgl. Behrend, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 23 Rn. 40; Saitzek, in: Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 23 Rn. 34).

bb. Eine Anspruchsgrundlage für den Mehrbedarf für Schwerbehinderte ergibt sich auch nicht aus § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII. Danach erhalten nach dem SGB VI voll erwerbsgeminderte Personen unter 65 Jahren, die durch einen Bescheid oder einen Ausweis nach § 152 Abs. 4 bzw. 5 SGB IX die Feststellung des Merkzeichens "G" nachweisen, einen Mehrbedarf von 17 % des maßgeblichen Regelsatzes, soweit nicht im Einzelfall ein abweichender Bedarf besteht. Der Kläger erfüllt diese Voraussetzungen im streitbefangenen Zeitraum – wie oben ausgeführt – nicht. Zudem schließt nach § 5 Abs. 2 SGB II der Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II Leistungen nach dem Dritten Kapitel des Zwölften Buches aus. Eine analoge Anwendung scheitert auch hier an einer fehlenden planwidrigen Regelungslücke (vgl. Behrend, in: Schlegel/Voelzke, a.a.O., § 23 Rn. 40).

d. Schließlich steht dem Kläger auch kein Anspruch nach § 73 SGB XII zu. Die Kammer konnte daher davon absehen, den örtlichen Sozialhilfeträger nach § 75 Abs. 2 SGG beizuladen. Zwar sind Leistungen nach § 73 SGB XII aufgrund der Regelung des § 5 Abs. 2 SGB II für Bezieher von SGB II-Leistungen nicht generell ausgeschlossen. Es liegt aber weder eine atypische Bedarfslage i.S.v. § 73 SGB XII noch eine im Rahmen einer Ermessensvorschrift für einen Anspruch notwendige Ermessensreduzierung auf Null vor. Nach § 73 SGB XII können Geldleistungen als Beihilfe oder Darlehen auch in sonstigen Lebenslagen erbracht werden, wenn sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen. Eine "sonstige Lebenslage" i.S.v. § 73 SGB XII liegt nur dann vor, wenn die bedarfsauslösende Lebenslage weder innerhalb des SGB XII in den Kapiteln 3 – 9 (§§ 27 – 69) bzw. den sonstigen Hilfen in anderen Lebenslagen (§§ 70 – 72, 74) noch in anderen Bereichen des Sozialrechts geregelt und bewältigt wird (vgl. LSG NRW, Beschluss vom 22.06.2007 – L 1 B 7/07 AS ER, Rn. 27, juris; SG Detmold, Urteil vom 27.11.2008 – S 10 (12) AS 84/07, Rn. 35, juris). Es widerspräche dem Willen des Gesetzgebers, wenn § 73 SGB XII in eine allgemeine Auffangnorm umgedeutet würde, die in all den Fällen einen Anspruch gegen den Sozialhilfeträger begründen würde, in denen die eigentlich einschlägigen Normen den betreffenden Anspruch gerade ausschließen (vgl. LSG NRW, ebenda). Der von dem Kläger geltend gemachte Mehrbedarf ist in § 21 Abs. 4 SGB II und § 23 Nr. 4 SGB II abschließend geregelt. Da die dortigen Tatbestandsvoraussetzungen nicht vorliegen, kann derselbe Anspruch nicht über eine Auffangnorm aus § 73 SGB XII hergeleitet werden (vgl. LSG NRW, Urteil vom 28.05.2009 – L 7 AS 4/09, Rn. 55 ff., juris).

e. Der Kläger kann einen Anspruch auf Leistungen für Mehrbedarf für erwerbsfähige Menschen mit Behinderungen auch nicht auf Art. 3 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit § 30 Abs. 1 SGB XII oder § 23 Nr. 4 SGB II stützen. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ist nicht verletzt, weil das Ziel der Eingliederung in Arbeit ein zulässiges Differenzierungskriterium darstellt (vgl. BSG, Urteil vom 18.02.2010 – B 4 AS 29/09 R, Rn. 35 ff.).

4. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.

5. Der Beschwerdewert bei der vorliegend auch auf eine Geldleistung gerichteten Klage übersteigt einen Wert von 750,00 Euro, da der Kläger im Zeitraum vom 01.11.2018 bis 31.10.2019 höhere Leistungen unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs in Höhe von 35 % des maßgebenden Regelbedarfs begehrt.
Rechtskraft
Aus
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