L 18 AS 2067/19

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 149 AS 4453/17
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AS 2067/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Kläger wird der Gerichtsbescheid des Sozialge-richts Berlin vom 10. Oktober 2019 aufgehoben. Die Bescheide des Beklagten vom 22. November 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. März 2017 werden aufgehoben. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Kläger in beiden In-stanzen. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Kläger wenden sich gegen eine (Teil-)Aufhebung der Bewilligung von Leistun-gen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch – Grundsi-cherung für Arbeitsuchende – (SGB II) für April 2015 und Juni bis August 2015.

Der Beklagte bewilligte den 1950 geborenen, im Streitzeitraum in Bedarfsgemein-schaft lebenden Klägern zuletzt für die Zeit vom 1. März 2015 bis 31. August 2015 SGB II-Leistungen iHv mtl 823,48 EUR bzw – für August 2015 – iHv mtl 471,18 EUR (Re-gelbedarf jeweils mtl 197,27 EUR bzw (April bis Juli 2015) mtl 144,- EUR und Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) mtl jeweils 258,86 EUR (März 2015), 267,74 EUR (April bis Juli 2015) bzw 235,59 EUR (August 2015); Bescheide vom 10. März 2015 und – für August 2015 – vom 1. Juli 2015). Seit 1. Januar 2015 bezog der am 23. Mai 1950 geborene Kläger Altersrente für langjährig Versicherte (mtl Zahlbe-trag ab 1. Juli 2015 = 361,06 EUR; Nachzahlung für Januar bis Juni 2015 = 2.112,96 EUR). Der Leistungsbewilligung legte der Beklagte im Streitzeitraum ein Nettoentgelt des Klägers iHv mtl 640,- EUR (lt Arbeitsvertrag mit A I für eine ab 17. Dezember 2014 aus-geübte Beschäftigung als Servicemitarbeiter, auf dessen Inhalt Bezug genommen wird) und für August 2015 zusätzlich eine Rentenzahlung iHv 352,29 EUR zugrunde. Die Klägerin ist seit 1. September 2015 Regelaltersrentnerin.

Tatsächlich hatte der Kläger tatsächliche Nettoentgeltzuflüsse aus der genannten Beschäftigung iHv mtl 1.247, 21 EUR (im April 2015), 733,13 EUR (im Juni 2015), 1.713,12 EUR (im Juli 2015) und 1.592,19 EUR (im August 2019). Nach Anhörung der Kläger hob der Beklagte mit Bescheiden vom 22. November 2016 in der Gestalt des Wider-spruchsbescheides vom 6. März 2017 wegen nachträglicher Erzielung von Ein-kommen des Klägers zu 2) die Bewilligung von SGB II-Leistungen für April 2015 und Juni 2015 teilweise (April 2015: Regelleistungen in voller Höhe und KdUH-Leistungen iHv mtl 30,61 EUR; Juni 2015: Regelleistungen iHv mtl 20,47 EUR) und für Juli und August 2015 "ganz" auf; auf die in den Bescheiden dargestellte Berechnung und Aufschlüsselung nebst Berechnungsbögen wird Bezug genommen. Ferner forderte der Beklagte – nach Minderung gemäß § 40 Abs. 9 SGB II in der bis 31. De-zember 2016 geltenden Fassung (aF) - Erstattung eines Betrages iHv jeweils 618,45 EUR Die Widersprüche blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 6. März 2017). Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die auf Aufhebung der Bescheide vom 22. No-vember 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. März 2017 gerich-tete Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 10. Oktober 2019). Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klage sei nicht begründet. Der Beklagte habe für die streitigen Monate die Bewilligung von SGB II-Leistungen im verlautbarten Umfang zu Recht auf der Grundlage von § 40 SGB II iVm §§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X), 330 Abs. 3 Sozial-gesetzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III) ohne Ausübung von Ermessen aufgeho-ben. Der Kläger habe nach Bekanntgabe der Bewilligungsbescheide Einkommen erzielt, das bei der Leistungsberechnung gemäß § 11 Abs. 1 SGB II abzgl der nach § 11b SGB II abzusetzenden Beträge zu berücksichtigen gewesen sei. Berech-nungsfehler des Beklagten seien nicht ersichtlich. Die Grundfreibeträge und der Erwerbstätigenfreibetrag seien zutreffend in Ansatz gebracht worden, auch in den Monaten, in denen zwei Gehaltszahlungen erfolgt seien. Schließlich habe der Be-klagte in den Monaten Juli und August 2015 die Erstattungsforderung beanstan-dungsfrei nach § 40 Abs. 9 SGB II aF gemindert.

Mit der Berufung verfolgen die Kläger ihr Begehren weiter.

Sie beantragen,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 10. Oktober 2019 und die Bescheide des Beklagten vom 22. November 2016 in der Gestalt des Wi-derspruchsbescheides vom 6. März 2017 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Die Beteiligten haben sich, auch nach ergänzendem richterlichem Hinweis vom 29. Juni 2020, mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter ohne mündliche Ver-handlung einverstanden erklärt (vgl §§ 124 Abs. 2, 155 Abs. 3 und 4 Sozialgerichts-gesetz (SGG)).

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Kläger ist begründet. Auf die statthafte isolierte Anfechtungsklage waren die Bescheide vom 22. November 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbe-scheides vom 6. März 2017 aufzuheben, weil sie rechtswidrig sind und die Kläger in ihren Rechten verletzen.

Entgegen der Auffassung des SG kommt wegen der Aufhebung von zuvor bewillig-ten Leistungen hier nur die Regelung des § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II iVm § 45 Abs 1, Abs 2 bis 4 SGB X als Ermächtigungsgrundlage in Betracht. Der für die Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit einzig in Betracht zu ziehende Tatbestand des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X ist indes nicht erfüllt.

Nach § 48 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. § 45 SGB X regelt demgegenüber, dass ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begrün-det oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), soweit er rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter den Einschränkungen der Abs. 2 bis 4 ganz oder teilweise zurückgenommen werden darf. Die Normen grenzen sich nach den objektiven Verhältnissen im Zeitpunkt des Erlasses des aufzuhe-benden Verwaltungsakts voneinander ab (vgl BSGE 96, 285 = SozR 4-4300 § 122 Nr 4 - Rn 13; BSGE 65, 221, 222 = SozR 1300 § 45 Nr 45 S 141; vgl auch Bundes-sozialgericht (BSG), Urteil vom 24. Februar 2011 - B 14 AS 45/09 R = SozR 4-4200 § 11 Nr 36 - Rn 15). Dabei ist die Verwaltung grundsätzlich verpflichtet, vor Erlass eines Bescheides die Sachlage vollständig aufzuklären, um die objektiven Verhält-nisse festzustellen (vgl BSGE 93, 51 = SozR 4-4100 § 115 Nr 1 – Rn 6 mwN). Er-lässt die Verwaltung einen endgültigen Bescheid auf Grundlage eines nicht end-gültig aufgeklärten Sachverhalts und stellt sich später heraus, dass der Bescheid bereits im Zeitpunkt des Erlasses objektiv rechtswidrig war, ist ein Fall des § 45 SGB X gegeben. Dies gilt unabhängig davon, zu welchen Ermittlungen sich die Verwal-tung aufgrund der Angaben des Antragstellers vor Erlass des Ausgangsverwal-tungsakts gedrängt sehen musste (vgl bereits BSG, Urteil vom 21. Juni 2011 - B 4 AS 21/10 R = BSGE 108, 258 = SozR 4-4200 § 11 Nr 39 - Rn 16). Der Erlass eines endgültigen Bescheides ist damit kein taugliches Instrumentarium in Fällen, in denen objektiv nur die Möglichkeit einer prospektiven Schätzung ins-besondere der Einkommenssituation besteht. Wenn das zu erwartende Arbeitsent-gelt etwa als Leistungsentlohnung oder als Zeitlohn ohne von vornherein fest ver-einbarte Stundenzahl vertraglich geregelt ist, ist typischerweise der Anwendungsbe-reich des § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II iVm § 328 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) eröffnet (vgl hierzu BSG, Urteil vom 29. November 2012 – B 14 AS 6/12 R = SozR 4-1300 § 45 Nr 12 – Rn 18 ff). Der Erlass eines endgültigen Bescheides statt eines vorläufigen Bescheides ist dann von Anfang an rechtswidrig und § 45 SGB X die für seine Aufhebung einschlägige Ermächtigungsgrundlage. § 48 SGB X wäre demgegenüber nur dann anwendbar, soweit sich hinsichtlich der anderen Voraus-setzungen eine wesentliche Änderung ergibt (BSG, Urteil vom 21. Juni 2011 - B 4 AS 21/10 R - BSGE 108, 258 = SozR 4-4200 § 11 Nr 39 - Rn 16 unter Hinweis auf BSGE 93, 51 = SozR 4-4100 § 115 Nr 1, Rn 6).

Wegen der Bewilligung von Leistungen für den hier einschlägigen Leistungszeit-raum ist der Beklagte von vornherein von einer unzutreffenden Tatsachengrundla-ge ausgegangen. Er hat in den Bescheiden vom 10. März 2015 und 1. Juli 2015 als Einkommen des Klägers jeweils ein Nettoentgelt iHv mtl 640,- EUR, dh das mtl Rich-tentgelt, zugrunde gelegt, obwohl ausweislich des vorliegenden Arbeitsvertrages zwischen den Parteien des Arbeitsvertrages kein festes monatliches Arbeitsentgelt, sondern ein Leistungslohn vereinbart war ("Maßgebend für die Abrechnung ist der "Stundenzettel" mit den tatsächlich erbrachten und zu vergütenden Arbeitsstun-den") und daher prognostisch von schwankenden monatlichen Einkünften des Klägers auszugehen war (was dann auch der Fall war).

Den Formulierungen in den Bewilligungsbescheiden lässt sich nicht entnehmen, dass die Bewilligung als solche unter dem Vorbehalt ihrer Vorläufigkeit stehen soll-te. Für den Empfänger des Bescheides ist unter Würdigung der Gesamtumstände - insbesondere seiner Gestaltung - nicht mit hinreichender Deutlichkeit erkennbar geworden, dass eine abschließende Entscheidung noch ausstehen könnte (vgl BSG SozR 3-2500 § 85 Nr 46 S 384; BSG SozR 3-1300 § 32 Nr 4 S 35; SozR 3-1300 § 31 Nr 10 S 12). An keiner Stelle des Bewilligungsbescheides sind Ausführungen zu einer nur vorläufigen Bewilligung zu finden. Damit hat der Beklagte insoweit ei-ne Entscheidung getroffen, die nur noch unter den Voraussetzungen des § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II iVm § 45 SGB X korrigiert werden konnte.

Wenn sich danach § 45 SGB X als einschlägige Rechtsgrundlage für die Aufhe-bung darstellt, erweisen sich die angegriffenen Verfügungen des Beklagten nicht etwa deshalb als formell rechtswidrig, weil die Kläger zu den tatbestandlichen Vo-raussetzungen des § 45 SGB X nicht gemäß § 24 Abs. 1 SGB X ordnungsgemäß angehört worden sind. Denn bezüglich der Frage, ob ein Anhörungsfehler vorliegt, ist von der materiell-rechtlichen Rechtsansicht der handelnden Verwaltungsbehör-de auszugehen, mag sie auch falsch sein (vgl BSGE 69, 247, 252 = SozR 3-1300 § 24 Nr 4 und BSG SozR 3-4100 § 117 Nr 1; dazu auch BSG, Urteil vom 9. November 2010 - B 4 AS 37/09 R = SozR 4-1300 § 41 Nr 2 - Rn 12). Hierzu erfolgte eine Anhö-rung. Unschädlich ist grundsätzlich auch, dass sich der Beklagte fehlerhaft auf § 48 SGB X gestützt hat. Weil die §§ 45, 48 SGB X auf dasselbe Ziel, nämlich die Aufhe-bung eines Verwaltungsakts, gerichtet sind, ist das Auswechseln dieser Rechts-grundlagen grundsätzlich zulässig (dazu bereits BSG, Urteil vom 21. Juni 2011 – B 4 AS 21/10 R = SozR 4-4200 § 11 Nr 39 – Rn 34 mwN). § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II ver-weist ergänzend auf § 330 Abs 2 SGB III; dieser ordnet an, dass bei Vorliegen der in § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X genannten Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes diese - im Wege einer gebunde-nen Entscheidung, also ohne Ermessen - auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen ist.

Der Tatbestand des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X – die beiden anderen Tatbe-standsalternativen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X sind von vornherein nicht ein-schlägig – ist zur Überzeugung des Gerichts nicht erfüllt. Für die Klägerin gilt dies schon deshalb, weil ihr eine etwaige "Bösgläubigkeit" des Klägers ohnehin nicht zurechenbar wäre. Auch bei dem Kläger vermag das Gericht indes nach dem Ge-samtergebnis des Verfahrens und dem insoweit anzuwendenden subjektiven Ver-schuldensmaßstab nicht zu erkennen, dass dieser die (in Bezug auf April und Juni 2015 teilweise) Rechtswidrigkeit der Bewilligung kannte oder infolge grober Fahr-lässigkeit nicht kannte, zumal auch weiteres Einkommen der Bedarfsgemeinschaft zu berücksichtigen war. Hierbei ist das Merkmal der "groben Fahrlässigkeit", wie die gesetzliche Definition in § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X zeigt, nur dann erfüllt, wenn der Leistungsbezieher aufgrund einfachster und naheliegender Überlegun-gen mit Sicherheit hätte erkennen können und auch müssen, dass der Verwal-tungsakt (teilweise) rechtswidrig war. Dass der Kläger vorliegend nach dem insoweit anzulegenden subjektiven Fahrlässigkeitsmaßstab in Ansehung seiner durch-schnittlichen Urteils- und Kritikfähigkeit die Rechtswidrigkeit der Bewilligung hätte erkennen können, lässt sich mit der erforderlichen Sicherheit nicht feststellen, zu-mal hierzu auch die einzelnen Berechnungsschritte nachzuvollziehen sind. Da der Beklagte der Leistungsbewilligung das im Arbeitsvertrag genannte Richtentgelt iHv 640,- EUR mtl, dh die zum Zeitpunkt der Bescheiderteilung einzig greifbare Rechen-größe, zugrunde gelegt hatte, musste sich dem Kläger die Rechtswidrigkeit der Be-willigung auch nicht unter dem Gesichtspunkt ("juristische Parallelwertung in der Laiensphäre") aufdrängen, dass nur eine prospektive Schätzung des tatsächlich zufließenden Entgelts möglich war und daher nur eine vorläufige Bewilligung in Betracht kam.

Da der Beklagte zu einer rückwirkenden Aufhebung der Bewilligungsentscheidun-gen für April 2015 und Juni bis August 2015 nicht berechtigt war, sind die ange-fochtenen Rücknahmeentscheidungen schon aus diesem Grunde rechtswidrig und waren aufzuheben. Mangels Aufhebung der Bewilligungen sind keine Leistungen zu erstatten (vgl § 50 Abs. 1 SGB X).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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