L 12 AS 352/18

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 41 AS 2877/12
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 12 AS 352/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 14 AS 43/19 BH
Datum
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 07.12.2017 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen den Widerspruchsbescheid vom 24.07.2012, mit welchem der Beklagte den Widerspruch des Klägers vom 01.07.2011 gegen die Bescheide vom 27.05.2011 wegen Verfristung als unzulässig verworfen hat.

Der im Jahre 1966 geborene Kläger wandte sich mit Schreiben vom 06.06.2006, eingegangen am 13.06.2006, an den Beklagten. Darin nahm er auf einen bei der Bundesagentur für Arbeit am 24.01.2005 gestellten Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) Bezug. Hierbei gab er zu seinen Unterkunftskosten an, dass er zum 01.12.1987 eine Wohnung angemietet habe. Laut beigefügten Mietvertrag verfügt die Wohnung über etwa 82 qm, der Mietpreis belief sich (Stand 01.02.1995) auf 1488 DM (ca. 760 Euro). 1995 sei er in Zahlungsschwierigkeiten hinsichtlich der Miete geraten. Im Jahre 1996 hätten seine Eltern die Wohnung gekauft, obwohl er den Kontakt zu diesen zu diesem Zeitpunkt bereits abgebrochen gehabt habe. Seit Juni 1995 habe er nach seiner Erinnerung keine Miete mehr gezahlt. Der Beklagte gewährte ihm daraufhin Leistungen nach dem SGB II in Form des Regelbedarfs ab dem 13.06.2006. Die Gewährung von Bedarfen für Unterkunft und Heizung lehnte er hingegen ab, da aus seiner Sicht nicht nachgewiesen sei, dass diese tatsächlich entstehen. In der Folge begehrte der Kläger neben der Gewährung von Unterkunftskosten auch die Bewilligung der Leistungen bereits ab dem 24.01.2005. Dem letztgenannten Begehren kam der Beklagte nach Durchführung eines Klageverfahrens vor dem Sozialgericht Düsseldorf (Az.: S 7 (28) AS 7/08) und Hinweis des Sozialgerichts im Erörterungstermin vom 24.01.2011 schließlich mit den Bescheiden vom 27.05.2011 nach. Er bewilligte mit diesen Leistungen für die Zeit vom 24.01.2005 bis zum 12.06.2006 in Form des Regelbedarfs in Höhe von 345 EUR monatlich, Bedarfe für Unterkunft und Heizung hingegen aus den bereits genannten Gründen nicht.

Der Kläger erhob hiergegen mit Schreiben vom 30.06.2011, eingegangen beim Beklagten per Telefax am 01.07.2011, Widerspruch und machte geltend, die Höhe der Regelleistung sei nicht verfassungsgemäß. Außerdem seien die Bedarfe für Unterkunft und Heizung zu übernehmen, da ein Mietvertrag vorliege. Der Beklagte wertete den Widerspruch des Klägers aufgrund Fristversäumung als Überprüfungsantrag nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) und lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 18.05.2012 ab. Zur Begründung verwies er auf die Entscheidung des Sozialgerichts Düsseldorf vom 09.02.2012 in dieser Sache (Az. S 14 (28) AS 136/07). Der Kläger erhob gegen diesen Bescheid keinen Widerspruch.

Den Widerspruch vom 01.07.2011 verwarf der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 24.07.2012 als unzulässig. Die angefochtenen Bescheide seien am 27.05.2011 bei der Post aufgegeben worden und gälten folglich gemäß § 37 Abs. 2 SGB X am 30.05.2011 als bekannt gegeben. Die Widerspruchsfrist habe somit am 30.06.2011 geendet. Der Widerspruch sei erst nach Ablauf dieser Frist eingegangen.

Der Kläger hat hiergegen am 27.08.2012 Klage erhoben und zu deren Begründung vorgetragen, die Bescheide seien erst am 30.05.2011 bzw. 31.05.2011 laut Poststempel zur Post gegeben worden. Der Widerspruch sei daher rechtzeitig eingelegt worden. Er begehre mit der Klage die Verpflichtung des Beklagten zur Bescheidung seines Widerspruchs vom 01.07.2011.

Der Beklagte hat auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid verwiesen und weiter vorgetragen, es fehle an einem Rechtsschutzbedürfnis, weil der verfristete Widerspruch als Überprüfungsantrag gewertet und am 18.05.2012 beschieden worden sei. Gegen diesen habe der Kläger keinen Widerspruch erhoben.

Das Sozialgericht hat die Klage auf die mündliche Verhandlung vom 07.12.2017, an der der Kläger nicht teilgenommen hat, mit Urteil vom gleichen Tag abgewiesen. Dabei hat es das Klagebegehren des Klägers aus den Schriftsätzen im Klageverfahren sinngemäß dahingehend ausgelegt, dass der Kläger unter Abänderung der Bescheide vom 27.05.2011 und unter Aufhebung des Bescheides vom 18.05.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.07.2012 die Verurteilung des Beklagten zur Gewährung höherer Leistungen nach dem SGB II begehre. Hierauf habe der Kläger keinen Anspruch. Zwar sei nicht ausgeschlossen, dass der Widerspruch des Klägers gegen die Bescheide vom 27.05.2011 entgegen der Ansicht des Beklagten nicht unzulässig sei. Den Vortrag des Klägers, dass der Versand der Bescheide erst am 30.05.2011 erfolgt sei, habe der Beklagte nicht hinreichend widerlegt. Letztlich könne dies aber dahinstehen, da die Bescheide materiell rechtmäßig seien und von dem Beklagten auch inhaltlich geprüft worden seien. Der Beklagte lehne danach die Gewährung höherer Leistungen an den Kläger zu Recht ab. Die Regelleistung sei zutreffend in Höhe von 345 EUR monatlich bewilligt worden. Ein höherer Leistungsanspruch ergebe sich nicht aus verfassungsrechtlichen Gründen. Der Kläger habe auch keinen Anspruch auf Kosten der Unterkunft für den streitigen Zeitraum. Die Voraussetzungen des § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II lägen nicht vor. Der Beklagte habe insoweit zutreffend auf die Ausführungen des Sozialgerichts Düsseldorf im Rechtsstreit S 41 (28) AS 136/07 verwiesen. Auch in dem hiesigen Verfahren habe der Kläger nicht nachgewiesen, dass er für die von ihm bewohnte Wohnung ernsthaften Mietzinsforderungen ausgesetzt gewesen sei. Die Vermieter - die Eltern des Klägers - hätten diese Zahlungen nicht geltend gemacht, obwohl der Kläger bereits seit Juni 1995 keine Mietzahlungen geleistet habe.

Gegen das ihm am 05.02.2018 zugestellte Urteil hat der Kläger am 05.03.2018 Berufung eingelegt. Seine Klage richte sich ausschließlich gegen die Entscheidung des Beklagten vom 24.07.2012 zur Zulässigkeit des Widerspruchs. Darüber hinausgehende Ansprüche würden unter Bezugnahme auf die Dispositionsmaxime nicht geltend gemacht. Das Sozialgericht sei nicht berechtigt gewesen, über die Sache zu entscheiden, bevor der Beklagte dies getan habe. Die Entscheidung vom 18.05.2012 sei nach § 86 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des Widerspruchsverfahrens geworden. Der Beklagte habe sich mit dem Widerspruchsbescheid schlussendlich darauf festgelegt, in der Sache nicht zu entscheiden. Der Beklagte habe damit selbst den Prüfungsumfang festgelegt. Insofern entspreche sein Klageanspruch dem einer Untätigkeitsklage, mit dem Unterschied, dass der Grund der Untätigkeit nicht erst im Klageverfahren genannt worden sei. Für die materiell-rechtlichen Entscheidungen des Sozialgerichts fehlten nicht nur die elementaren Prozessvoraussetzungen, es handele sich auch um eine verfassungswidrige Überraschungsentscheidung. Er sei nicht darauf hingewiesen worden, dass in der Sache entschieden werden soll. Er sei nicht geladen worden, sondern habe nur eine Terminsmitteilung erhalten.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 07.12.2017 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, den Bescheid vom 24.07.2012 aufzuheben und über den Widerspruch vom 01.07.2011 gegen die Leistungsbescheide vom 27.05.2011 zu entscheiden.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Der Beklagte erwidert, dass angesichts des eingeschränkten Berufungsbegehrens ein Rechtsschutzbedürfnis für das Berufungsverfahren fehle. Im Übrigen verweist er auf die Ausführungen des Sozialgerichts im angefochtenen Urteil.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Verwaltungsakten des Beklagten und der beigezogenen Gerichtsakten S 41 (28) AS 136/07, S 7 (28) AS 7/08 und S 41 AS 3519/10 verwiesen. Dieser ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist zulässig. Sie ist insbesondere fristgerecht eingelegt worden und auch statthaft im Sinne von §§ 143, 144 Abs. 1 SGG. Für die Berufung besteht ferner ein ausreichendes Rechtsschutzbedürfnis.

Eine Beschwer des Klägers im Sinne eines Rechtsschutzbedürfnisses für ein Rechtsmittel liegt vor, wenn die angefochtene Entscheidung ihm etwas versagt, das er beantragt hatte - sog. formelle Beschwer (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, Vor § 143 Rn. 6). Das ist hier gegeben. Der Kläger hat beantragt, den Widerspruchsbescheid vom 24.07.2012 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, über seinen Widerspruch vom 01.07.2011 gegen die Leistungsbescheide vom 27.05.2011 erneut zu entscheiden. Mit diesem Begehren ist der Kläger beim Sozialgericht unterlegen. Insofern ist eine formelle Beschwer des Klägers durch das Urteil des Sozialgerichts gegeben. Inwieweit das Sozialgericht die Klage zu Recht abgewiesen hat, sei es, weil sie unzulässig, sei es, weil sie unbegründet ist, ist eine Frage der Begründetheit der Berufung.

Die Berufung des Klägers ist unbegründet. Das Sozialgericht hat mit dem angefochtenen Urteil die Klage des Klägers im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Die Klage des Klägers ist bereits unzulässig. Ihr mangelt es an dem erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis.

Ausweislich der Klageschrift vom 27.08.2012, der Schriftsätze im Berufungsverfahren sowie der Erklärung des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 27.02.2012 vor dem erkennenden Senat geht es dem Kläger allein darum, dass der Widerspruchsbescheid vom 24.07.2012 aufgehoben wird, um so eine Entscheidung des Beklagten in einem neu eröffneten Widerspruchsverfahren zu erreichen. Seine Klage ist somit als Anfechtungsklage im Sinne von § 54 Abs. 1 SGG zu verstehen, die allein die Aufhebung des Widerspruchsbescheides vom 24.07.2012 zum Ziel hat.

Für diese sog. isolierte Anfechtungsklage ist ein Rechtsschutzbedürfnis nicht gegeben. Ein solches ergibt sich nicht etwa mit Blick auf § 78 Abs. 1 SGG. Danach sind Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsaktes vor Erhebung der Anfechtungsklage in einem Vorverfahren nachzuprüfen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist ein Vorverfahren im Sinne von § 78 Abs. 1 SGG aber auch dann durchgeführt, wenn der Widerspruch als unzulässig, d.h. aus formalen Gründen ohne Sachprüfung, verworfen worden ist. Besondere Anforderungen, insbesondere hinsichtlich des Prüfungsumfangs, an die Durchführung eines Vorverfahrens stellt § 78 Abs. 1 SGG nicht, weil andernfalls die Zulässigkeit der Klage des Adressaten eines belastenden Verwaltungsakts von der Rechtmäßigkeit des weiteren Verhaltens der Behörde bzw. der zuständigen Widerspruchsbehörde abhängig wäre (vgl. BSG Urteil vom 24.11.2011, B 14 AS 151/10 R). Der Widerspruchsbescheid vom 24.07.2012 schließt somit das für die Anfechtungsklage erforderliche Vorverfahren (das Widerspruchsverfahren gegen die Bescheide vom 27.05.2011) im Sinne von § 78 Abs. 1 SGG ab.

Auch weitere Ausnahmetatbestände, die ein Rechtsschutzbedürfnis für eine isolierte Anfechtung des Widerspruchsbescheides in diesem Einzelfall begründen könnten, liegen nicht vor. Weder ist durch den Widerspruchsbescheid vom 24.07.2012 ein Dritter erstmalig beschwert noch enthält er für den Kläger eine zusätzliche selbstständige Beschwer (vgl. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 95 Rn. 3f). Schließlich handelt es sich bei den mit Widerspruch angefochtenen Bescheiden des Beklagten auch nicht um sog. Ermessensentscheidungen, für die ein Rechtsschutzbedürfnis zur Durchführung eines (erneuten) Widerspruchsverfahren bestehen kann (vgl. Schmidt, a.a.O., § 95 Rn. 3cff). Die Gewährung von existenzsichernden Leistungen nach dem SGB II erfolgt als sog. gebundene Entscheidung. Liegen die gesetzlich normierten Voraussetzungen für die Leistungsgewährung vor (vgl. §§ 7ff SGB II), hat der Leistungsberechtigte Anspruch auf die ihm nach dem SGB II zustehenden Leistungen (vgl. Becker in Eicher/Luik, SGB II, 4. Auflage 2017, § 19 Rn. 1). Ein Ermessen kommt dem Leistungsträger insoweit nicht zu. Aus dem Umstand, dass beispielsweise nach § 22 Abs. 1 SGB II die "angemessenen" Bedarfe für Unterkunft und Heizung zu übernehmen sind, folgt entgegen der Ansicht des Klägers nichts anderes. Die Prüfung der Angemessenheit der Unterkunftskosten eröffnet dem Beklagten kein Ermessen im eigentlichen Sinne. Ein Ermessen ist für die Behörde dann eröffnet, wenn sie zwischen verschiedenen Verhaltensweisen wählen kann, sie also über einen sog. Ermessensspielraum verfügt. Die zutreffende Ausübung des Ermessens kann von den Gerichten nur eingeschränkt überprüft werden (vgl. Schütze in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Auflage 2014, § 45 Rn. 92). Demgegenüber beinhaltet der unbestimmte Rechtsbegriff der "Angemessenheit" keinen einer gerichtlichen Kontrolle entzogenen Beurteilungsspielraum, sondern unterliegt der uneingeschränkten gerichtlichen Überprüfung (vgl. Luik in Eicher/Luik, SGB II, 4. Auflage 2017, § 22 Rn. 73 m.w.N.). Außer den von dem Kläger benannten, jedoch nicht relevanten formalen Aspekten, sind für den Senat ansonsten keine Gründe ersichtlich, die im Rahmen einer - wie hier - gebundenen Entscheidung ausnahmsweise ein Rechtsschutzbedürfnis für die isolierte Aufhebung des Widerspruchsbescheides und das erneute Durchführen eines Widerspruchsverfahrens rechtfertigen könnten.

Da der Kläger den Prüfungsgegenstand im Klageverfahren ausdrücklich hierauf beschränkt hat, unterlag die Klage der Abweisung. Die Berufung ist mithin unbegründet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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