L 9 KR 242/20 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Neuruppin (BRB)
Aktenzeichen
S 9 KR 271/19 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 KR 242/20 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 14. April 2020 geändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerinnen vom 24. Oktober 2018, den Bescheid vom 28. März 2019, beide in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Oktober 2019, wird angeordnet. Die Antragsgegnerinnen haben dem Antragsteller seine außergerichtlichen Kosten für beide Instanzen zu erstatten.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde des Antragstellers hat Erfolg. Das Sozialgericht hätte seinem Antrag, die aufschiebende Wirkung seiner Anfechtungsklage anzuordnen, vollständig stattgeben und die aufschiebende Wirkung ohne Beschränkung anordnen müssen.

Nach § 86a Abs. 2 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entfällt die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage bei der Anforderung von Beiträgen, Umlagen und sonstigen öffentlichen Abgaben einschließlich der darauf entfallenden Nebenkosten. Nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Die Antragsgegnerinnen haben mit dem Bescheid vom 24. Oktober 2018 sowie dem Bescheid vom 28. März 2019 die Beiträge zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung für den Antragsteller ab dem 1. Januar 2013 sowie die Säumniszuschläge festgesetzt. Seine dagegen beim Sozialgericht erhobene Anfechtungsklage hat keine aufschiebende Wirkung.

Der Antrag ist begründet. Die aufschiebende Wirkung der Klage war anzuordnen, weil dem Suspensivinteresse des Antragstellers der Vorrang einzuräumen ist. Trotz des Vorrangs, den § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG dem öffentlichen Interesse mit dem Ausschluss der aufschiebenden Wirkung vor dem Interesse des Betroffenen an einem Aufschub der Vollziehung einräumt, kann die im Einzelfall nach § 86b Abs. 1 Satz 1 SGG durch das Gericht vorzunehmende Interessenabwägung zugunsten des Betroffenen ausfallen. Dies ist dann der Fall, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgabepflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte (vgl. § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG).

Ausgehend davon bestehen an der Rechtmäßigkeit des Bescheides der Antragsgegnerinnen vom 24. Oktober 2018 sowie des Bescheides vom 28. März 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Oktober 2019 insgesamt ernsthafte Zweifel. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerinnen und des Sozialgerichts haben die Antragsgegnerinnen mit den Bescheiden erstmalig und damit rückwirkend ab dem 1. Januar 2013 für den Antragsteller höhere Beiträge zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung festgesetzt. Es handelt sich daher schon bei dem Bescheid vom 24. Oktober 2018 um einen Beitragsbescheid und nicht um einen bloßen Haftungsbescheid, der im Rahmen der Vollstreckung lediglich zur Feststellung bestehender Rückstände erlassen wurde. Es kann daher offen bleiben, ob sich ein Haftungsbescheid auf eine Rechtsgrundlage stützen könnte oder sich die Antragsgegnerinnen im Rahmen der Vollstreckung für eine "öffentliche Mahnung" auf § 66 Abs. 3 Sozialgesetzbuch/Zehntes Buch (SGB X) i.V.m. § 14 Abs. 2 Verwaltungsvollstreckungsgesetz für Baden-Württemberg (LVwVG vom 12. März 1974) berufen könnten. Denn ein Haftungs- oder bloßer Feststellungsbescheid setzt wie auch Vollstreckungshandlungen nach § 14 LVwVG (BW) einen zumindest vollziehbaren Beitragsbescheid voraus. Daran mangelte es aber für die seit dem 1. Januar 2013 geltenden höheren Beiträge. Die Antragsgegnerinnen haben mit den aktenkundigen Bescheiden vom 7. Dezember und 17. Dezember 2012, 29. Dezember 2014 zwar für den Antragsteller einen Beitrag (jeweils neu) festgesetzt. Der Antragsteller hat aber bestritten, diese den Beitrag jeweils ändernden Bescheide erhalten zu haben. Voraussetzung der Wirksamkeit von Beitragsbescheiden ist jedoch ihre Bekanntgabe an den Adressaten (§ 39 Abs. 1 SGB X). Bei schriftlichen Verwaltungsakten ist von der Bekanntgabe auszugehen, wenn sie in seinen Machtbereich gelangt, also zugegangen sind (§ 37 Abs. 1 SGB X). Die Antragsgegnerinnen können den Zugang der o.g. Bescheide bei dem Antragsteller aber nicht nachweisen. § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X, wonach ein schriftlicher Verwaltungsakt, der im Inland durch die Post übermittelt wird, am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben gilt, kommt nicht zur Anwendung. Nach Aktenklage können die Antragsgegnerinnen die Aufgabe der streitigen Bescheide zur Post nicht belegen. Da der Antragsteller den Erhalt der Bescheide bestreitet, haben die Antragsgegnerinnen den Zugang und den Zeitpunkt nachzuweisen (§ 37 Abs. 2 SGB X). Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller die Bescheide erhalten hat. Es spricht einiges dafür, dass er zuletzt die Aufforderung vom 15. November 2012 erhalten hat. Dieser ist er mit der Einreichung von Unterlagen und dem Antrag auf Beitragsentlastung für hauptberuflich Selbständige nachgekommen (Eingang am 27. November 2012). Danach hat er keine Unterlagen mehr eingereicht.

Derzeit spricht einiges dafür, dass der Antragsteller von der Beitragserhebung in Höhe von 224,44 Euro, welche die Beklagte mit dem Bescheid vom 7. Dezember 2012 für die Zeit ab dem 1. Dezember 2012 vorgenommen hat, durch fernmündliche Bekanntgabe der damaligen Bearbeiterin G Kenntnis erhielt. Dafür spricht sein Vortrag und die Tatsache, dass er diesen Betrag laufend monatlich ab Januar 2013 neben dem mit dem Bescheid vom 7. Dezember 2012 festgesetzten einmaligen Nachzahlungsbetrag in Höhe von 775,11 Euro sowie einem weiteren Einmalbetrag von 1.111,76 Euro nach dem Beitragskontoauszug im Januar 2013 entrichtet hat. Allein aus der Zahlung kann daher nicht darauf geschlossen werden, dass er die Beitragsbescheide aus Dezember 2012 beide erhalten hat, zumal eine Zahlung der mit dem Bescheid vom 17. Dezember 2012 festgesetzten erhöhten Beiträge gerade nicht erfolgt ist.

Die sowohl mit dem Bescheid vom 24. Oktober 2018 als auch mit dem Bescheid vom 28. März 2019 erfolgte rückwirkende Festsetzung höherer Beiträge ab Januar 2013 dürfte nicht zulässig sein. Für die Beiträge für das Jahr 2013 ist – bis auf den Dezember –Beitrag – Verjährung eingetreten. Der Antragsteller hat die Verjährungseinrede am 20. November 2018 im Rahmen des Widerspruchsverfahrens erhoben. § 25 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch/Viertes Buch (SGB IV) legt als Frist für die Verjährung von Ansprüchen auf Beiträge, die nicht vorsätzlich vorenthalten worden sind, einen Zeitraum von vier Jahren fest. Die Verjährungsfrist beginnt mit dem Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Beiträge nach § 23 SGB IV i. V. m. den besonderen Vorschriften für die einzelnen Versicherungszweige fällig geworden sind. Für die Beiträge zur Pflegeversicherung verweist auch § 8 der Satzung der Pflegekasse der Antragsgegnerinnen für die freiwillige Mitglieder auf die gesetzlichen Vorschriften. Gemäß § 23 Abs. 1 Satz 5 SGB IV werden sonstige Beiträge spätestens am Fünfzehnten des Monats fällig, der auf den Monat folgt, für den sie zu entrichten sind (für freiwillige Beiträge, Krauskopf/Stäbler, Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung, Stand: März 2020, SGB IV § 23 Rn. 9). Gemessen daran sind die Beiträge, die für die selbständige hauptberufliche Erwerbstätigkeit des Antragstellers bis zum Dezember 2013 fällig geworden sind, mithin diejenigen bis einschließlich November 2013, mit Ablauf des 31. Dezember 2017 verjährt.

Für die nicht verjährten Beiträge (ab Dezember 2013) liegen die gesetzlichen Voraussetzungen für die rückwirkende Erhebung nach derzeitigem Stand nicht vor. Rechtsgrundlage ist § 240 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V in der ab dem 1. April 2012 geltenden Fassung vom 20. Dezember 2011) i.V.m. § 44 ff. SGB X. Hingegen liegt eine nur endgültige Beitragsfestsetzung nach einer zunächst ab 1. Januar 2013 vorläufigen Festsetzung, wie sie der Bescheid vom 28. März 2019 zugrunde legt, nicht vor (vgl, zur einstweiligen Festsetzung für hauptberuflich Selbständige gemäß § 7 Abs. 7 Satz 5 der ab dem 1. Januar 2009 geltenden Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler vom 27. Oktober 2008).

Für das Vorliegen von Umständen, welche eine rückwirkende (höhere) Neufestsetzung der Beiträge gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X rechtfertigen, tragen die Antragsgegnerinnen die Beweislast. Da nach derzeitigem Stand nicht erwiesen ist, dass der Antragsteller die schriftlichen Bescheid ab dem 7. Dezember 2012 erhalten hat, kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass er einer gesetzlichen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Veränderungen (z.B. Vorlage von Einkommenssteuerbescheiden) vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X).

Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Beitragsbescheides vom 24. Oktober 2018 bestehen schließlich hinsichtlich der festgesetzten Säumniszuschläge. Gemäß § 24 Abs. 2 SGB IV in der bis zum 31. Dezember 2016 geltenden Fassung ist ein Säumniszuschlag bei rückwirkender Beitragsfeststellung nicht zu erheben, wenn der Beitragsschuldner glaubhaft macht, dass er unverschuldet keine Kenntnis von der Zahlungspflicht hatte. Wenn der Antragsteller von der mit dem Bescheid vom 17. Dezember 2012 erstmals festgesetzten (höheren) Beitragspflicht keine Kenntnis hatte, dürfte insoweit ab dem 1. Januar 2013 eine unverschuldete Säumnis im obigen Sinne vorliegen. Für den Zeitraum ab dem 1. Januar 2017 ist zudem noch § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB IV zu prüfen, wonach bei einer Einzugsermächtigung Säumniszuschläge nur zu erheben sind, wenn der Beitragspflichtige die Nichtabbuchung zu vertreten hat. Der Antragsteller hatte am 25. Juni 2009 zugunsten der AOK Stuttgart-Böblingen eine Einzugsermächtigung für die "anfallenden Beiträge" erteilt und nach Aktenlage nicht widerrufen (Bl. 28 Verwaltungsakte). Die Antragsgegnerinnen hoben selbst u.a. in den Bescheiden vom 7. und 17. Dezember 2012 auf die Einzugsermächtigung ab und geben bekannt, vom Konto des Antragstellers die neu festgesetzten Beiträge abzubuchen. Im Hauptsacheverfahren zu klären bleibt insoweit, warum eine Abbuchung im Januar 2013 gescheitert ist und ob konkret der Antragsteller diese zu vertreten hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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