L 14 AS 469/17

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
14
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 45 AS 677/15
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 14 AS 469/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 AS 70/20 R
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr i.S.v. § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG sind in Angelegenheiten des SGB II nur gegeben, wenn der einzelne Bewilligungszeitraum mehr als ein Jahr umfasst.
2. Dies gilt auch im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 31. Januar 2017 wird als unzulässig verworfen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Gründe:

I. Die Beteiligten streiten um die Frage, ob der Kläger für die Monate Januar bis Au-gust 2013 sowie März bis August 2014 höhere Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU) nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) beanspruchen kann.

Die vom Kläger zu zahlende Miete, die sich in der Zeit bis August 2013 auf 515 EUR und bis August 2014 auf 480 EUR insgesamt belief, setzte sich wie folgt zusammen:

2013 2014 Grundmiete 237,62 EUR 237,62 EUR Mod.-Umlage 125,78 EUR 125,78 EUR VZ Heizkosten 66,45 EUR 48,45 EUR VZ Betriebskosten 83,36 EUR 66,36 EUR Antennengebühr 1,79 EUR 1,79 EUR Gesamtmiete 515 EUR 480 EUR

Für die Zeit ab dem 1. September 2013 hatte die Vermieterin des Klägers den zu-nächst festgesetzten Anteil für Heizkosten von 50,37 EUR (Schreiben vom 29. Juli 2013) – diesen Betrag legten in der Folgezeit das Sozialgericht und die Klägerseite zugrunde – etwas später auf 48,45 EUR (Schreiben vom 8. August 2013) reduziert.

Mit diversen vom Kläger zunächst nicht angefochtenen Bescheiden, jeweils für die Zeiträume Januar bis Februar 2013 (Bescheide vom 26. Juli 2012, vom 20. Septem-ber 2012 und vom 24. November 2012), März bis August 2013 (Bescheid vom 1. Februar 2013) und März bis August 2014 (Bescheid vom 17. Februar 2014), ge-währte der Beklagte dem Kläger KdU in aus seiner Sicht angemessener Höhe. Den unter dem 2. April 2014 formulierten Überprüfungsantrag des Klägers lehnte der Be-klagte mit Bescheid vom 14. Oktober 2014 ab. Mit Bescheid vom 5. März 2015 so-wie dem Widerspruchsbescheid vom 12. März 2015 bewilligte der Beklagte etwas höhere KdU, wies mit letzterem den Widerspruch im Übrigen jedoch zurück. Im Ein-zelnen ergibt sich hinsichtlich der bewilligten KdU (jeweils in EUR) folgendes Bild:

Zeitraum tatsächl. Miete bewilligt/bestätigt mit Bescheiden v. Bescheid v. 5.3.15 und Widerspruchs- bescheid Klageantrag 26.7.12, 20.9.12, 24.11.12 und 14.10.14 Jan - Feb 13 515,00 426,60 433,24 81,76 1.2.13 und 14.10.14 Mrz - Aug 13 515,00 426,60 433,24 81,76 17.2.14 und 14.10.14 Mrz - Aug 14 480,00 393,52 417,16 64,76

Mit seiner Klage machte der Kläger die Differenz zwischen den zuletzt bewilligten KdU und der tatsächlichen Miete geltend, mithin die Zahlung weiterer 81,76 EUR für die Monate Januar bis August 2013 bzw. 64,76 EUR für die Monate März bis August 2014. Für den zuletzt genannten Zeitraum berücksichtigte er die o.g. Reduzierung der Heizkosten nicht und ging daher von einer tatsächlichen Miete i.H.v. 481,92 EUR aus.

Mit Urteil vom 31. Januar 2017 gab das Sozialgericht Potsdam der Klage teilweise statt und verurteilte den Beklagten unter Änderung der o.g. Bescheide, für den strei-tigen Zeitraum jeweils weitere 28,80 EUR monatlich zu zahlen. Zur Begründung führte das Sozialgericht aus, dass die Beklagte nicht über ein schlüssiges Konzept verfüge und daher die Werte der Wohngeldtabelle nach § 12 Wohngeldgesetz (WoGG) zu-grunde zu legen seien. Die Klage sei abzuweisen gewesen, soweit der Kläger die tatsächlichen KdU verlange, denn er sei bereits im Jahr 2011 darüber belehrt wor-den, dass seine tatsächliche Miete unangemessen hoch sei. Das Sozialgericht erteil-te die Rechtsmittelbelehrung, dass die Berufung zulässig sei, weil wiederkehrende Leistungen für mehr als ein Jahr im Streit stünden.

Gegen dieses ihm am 13. Februar 2017 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung des Klägers vom 3. März 2017, mit der er erneut die Zahlung weiterer 81,76 EUR für die Monate Januar bis August 2013 bzw. 64,76 EUR für die Monate März bis August 2014 begehrt.

Nach einem Hinweis des Berichterstatters, dass die Berufung als unzulässig zu ver-werfen sein dürfte, weil die Voraussetzungen für § 144 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht vorlägen, vertritt der Kläger die Auffassung, das Gericht berücksichtige nicht hinreichend, dass Gegenstand des Verfahrens ein Antrag auf Überprüfung nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) sei. Angegriffen sei ein einzelner Überprüfungsbescheid mit einem Widerspruch, auf den ein Widerspruchsbescheid ergangen sei. Das Bundessozialgericht (BSG) habe mit Urteil vom 19. März 2008 (B 11b AS 23/06 R) dargelegt, dass die geltend gemachten höheren Leistungen pa-rallel zu der dem Überprüfungsbescheid zugrunde liegenden Bewilligung stünden. Insofern stehe es ihm – dem Kläger – frei, den streitgegenständlichen Zeitraum ein-zuschränken. Soweit dies jedoch nicht geschehen und auch durch die Behörde keine Abtrennung der Verfahren erfolgt sei, solange die Behörde noch Herrin des Verfah-rens gewesen sei, vermöge nicht eine willkürliche Aufteilung im Rahmen des Beru-fungsverfahrens zu einer Unzulässigkeit zu führen. Die vorläufige Rechtsauffassung des Gerichts sei auch nicht konsequent. Denn wenn das Landessozialgericht (LSG) aus § 41 SGB II eine regelmäßige Beschränkung des Streitgegenstandes auf maxi-mal zwölf Monate (was keinesfalls die Höchstgrenze nach der gesetzlichen Regelung sei) entnehme, so müssten auch Verfahren auf Leistungen zur Grundsicherung nach dem SGB II nach einer Leistungsablehnung und ohne Stellung eines Weiterbewilli-gungsantrags, für welche das BSG stets den Leistungs- und Streitzeitraum unbe-grenzt bis zur letzten mündlichen Verhandlung angenommen habe, begrenzt werden. Denn auch hier gelte § 41 SGB II. Der Beschluss des BSG vom 22. Juli 2010 (B 4 AS 77/10 B) werde vom Gericht im Rahmen der vorläufigen Rechtsauffassung unvollständig zitiert. Anders als in dem vom BSG entschiedenen Rechtsstreit stelle es im vorliegenden Verfahren nicht mehr nur eine "lediglich fiktive Möglichkeit" dar, dass er – der Kläger – hier höhere Leis-tungen für mehr als ein Jahr begehre. Dem Urteil des BSG lasse sich nicht entneh-men, dass unter diesen Umständen die streitgegenständlichen Zeiträume nicht ad-diert werden könnten.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 31. Januar 2017 zu ändern und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 14. Oktober 2014 in der Gestalt des Bescheides vom 5. März 2015 und des Widerspruchsbescheides vom 12. März 2015 zu verpflichten, die Bescheide vom 26. Juli 2012, 1. Feb-ruar 2013 und 17. Februar 2014 sowie die Änderungsbescheide vom 20. September 2012 und 24. November 2012 zu ändern und ihm für den Zeitraum Januar bis August 2013 weitere 81,76 EUR monatlich sowie für den Zeitraum März bis August 2014 weitere 64,76 EUR monatlich zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen sowie wegen des weiteren Vor-bringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwal-tungsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, verwiesen.

II. Die Berufung ist unzulässig, sodass sie gemäß § 158 Satz 1 SGG zu verwerfen ist. Dies darf – wie hier – gemäß § 158 Satz 2 SGG durch Beschluss erfolgen. Die Beteiligten wurden zu dieser Vorgehensweise angehört.

1. Gemäß § 144 Abs. 1 SGG bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 1. bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 EUR oder 2. bei einer Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden 10.000 EUR nicht übersteigt. Das gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.

Hieran gemessen bedarf die Berufung des Klägers der Zulassung. Denn der Wert des Beschwerdegegenstandes übersteigt 750 EUR nicht (hierzu a.). Auch der Ausnah-mefall wiederkehrender oder laufender Leistungen für mehr als ein Jahr (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG) liegt nicht vor (hierzu b.).

a. Der Wert des Beschwerdegegenstandes ist danach zu bestimmen, was das Sozi-algericht dem Rechtsmittelkläger versagt hat und was von diesem mit seinen Beru-fungsanträgen zum Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsmittels weiter verfolgt wird (BSG, Beschluss vom 5. August 2015 – B 4 AS 17/15 B –, juris, m.w.N.). Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird demnach durch das Maß des Unterliegens in der Vorinstanz begrenzt. Soweit die Anträge im Rechtsmittelverfahren dieses Maß über-schreiten, sind sie unerheblich. Denn andernfalls könnte der Berufungsführer durch eine entsprechende Antragstellung im Berufungsverfahren die mit dem § 144 Abs. 1 SGG verfolgte Beschränkung des Berufungszugangs beliebig unterlaufen (BSG, Be-schluss vom 04. Juli 2011 – B 14 AS 30/11 B –, juris, m.w.N.)

Für den vorliegenden Rechtsstreit bedeutet dies: Mit dem Klageantrag wurde ein Be-trag von insgesamt (8 Monate x 81,76 EUR + 6 Monate x 64,76 EUR =) 1.042,64 EUR geltend gemacht, wie vom Sozialgericht auf Seite 7 seines Urteils auch zutreffend festgestellt wurde. Erfolgreich war die Klage im Umfang von (14 Monate x 28,80 EUR =) 403,20 EUR. Unterlegen ist die Klägerseite daher mit ein Betrag von 639,44 EUR, mithin weniger als 750 EUR. Ohne Bedeutung ist nach dem soeben Gesagten, dass der Kläger – ohne Berücksichtigung des vor dem Sozialgericht erzielten Teilerfolges – mit seinem Beru-fungsantrag erneut eine Verurteilung des Beklagten in Höhe des o.g. Betrages von 1.042,64 EUR begehrt.

b. Auch die Voraussetzungen des in § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG vorgesehenen Aus-nahmefalls liegen nicht vor. Den wiederkehrenden und laufenden Leistungen i. S. dieser Vorschrift sind die Wiederholung, die Gleichzeitigkeit und der Ursprung in demselben Rechtsverhältnis gemeinsam. Leistungen beruhen auf demselben Rechtsverhältnis, wenn ihnen derselbe Leistungsfall zugrunde liegt, auf den die Ein-zelansprüche zurückgeführt werden können. Lediglich ein natürlicher oder wirtschaft-licher Zusammenhang oder dasselbe Sozialrechtsverhältnis reichen hierfür nicht aus (BSG, Beschluss vom 22. Juli 2010 – B 4 AS 77/10 B –, juris, m.w.N.). § 41 Abs. 1 Sätze 4 und 5 SGB II (in der 2013 und 2014 geltenden, hier maßgeblichen alten Fassung - aF), wonach Leistungen jeweils für sechs Monate, ggf. auch für zwölf Mo-nate bewilligt werden sollten, schafft eine zeitliche Zäsur, die den jeweiligen Streitge-genstand in zeitlicher Hinsicht umschreibt und auf die Dauer von sechs bzw. maximal zwölf Monaten begrenzt (BSG, a. a. O.).

Der hiesige Rechtsstreit betrifft insgesamt drei Bewilligungszeiträume (Januar und Februar 2013, März bis August 2013 und März bis August 2014), von denen keiner für sich genommen ein Jahr übersteigt (hierzu aa.). Dass der Kläger höhere Leistun-gen für diese drei Bewilligungszeiträume im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X geltend macht und sich sowohl der zugrunde liegende Antrag des Klägers vom 2. April 2014 als auch der Bescheid vom 14. Oktober 2014 und der Wi-derspruchsbescheid vom 12. März 2015 jeweils einheitlich auf alle drei Teilzeiträume beziehen, führt – entgegen der klägerischen Auffassung – zu keiner anderen Beurtei-lung (hierzu bb.).

aa. Leistungen nach dem SGB II sind – zumindest jenseits des Bewilligungszeit-raums von sechs bzw. zwölf Monaten – keine "wiederkehrenden" oder "laufenden" Leistungen im Sinne von § 144 Abs. 1 Satz 2 SGB II, weil dem Leistungsanspruch nach dem SGB II kein einheitliches Stammrecht (wie etwa im abweichend zu beurtei-lenden Fall eines mehr als ein Jahr dauernden Bezuges von Arbeitslosengeld I nach dem Arbeitsförderungsrecht oder einer Rente aus der gesetzlichen Renten- oder Un-fallversicherung) zugrunde liegt, auf das eine dauerhafte Leistungsgewährung zu-rückgeführt werden kann. Ansprüche aus verschiedenen Bewilligungszeiträumen i.S.v. § 41 Abs. 1 Sätze 4 und 5 SGB II aF sind – selbst bei Verbindung (§ 113 SGG) oder objektiver Klagehäufung (§ 56 SGG) – jeweils rechtlich selbständig und hin-sichtlich der Anspruchsvoraussetzungen voneinander unabhängig (LSG Baden-Würt-tem¬berg, Urteil vom 12. Februar 2020 – L 3 AS 4066/19 –, unter Verweis auf BSG a.a.O.; Bayerisches LSG, Urteil vom 18. März 2015 – L 11 AS 761/14 –; Thüringer LSG, Beschlüsse vom 8. November 2018 – L 10 AS 442/15 – und vom 16. April 2012 – L 4 AS 1389/11 NZB –; LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 05. Dezember 2011 – L 8 B 430/10 NZB –; Sächsisches LSG, Urteil vom 19. Juni 2012 – L 7 AS 115/11 –; jeweils juris; Wehrhahn, in Schlegel/Voelzke, jurisPraxiskommen-tar-SGG, § 144, Rn. 27; Meyer-Ladewig/Kel¬ler/Lei¬therer/B. Schmidt, Sozialgerichts-gesetz, 12.A., § 144, Rn. 24; alle m.w.N.; a.A. Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil vom 15. April 2008 – L 11 AS 35/07 –, juris). Denn für jeden Bewilligungsabschnitt ist jeweils ein eigener Antrag nach § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB II zu stellen, die Prüfung der Leistungsvoraussetzungen ist insofern für jeden beantragten Bewilligungsabschnitt erneut und unabhängig von früheren Bewilligungsabschnitten vorzunehmen (Bayeri-sches LSG, Urteil vom 18. März 2015 – L 11 AS 761/14 –; Thüringer LSG, Be-schluss vom 16. April 2012 – L 4 AS 1389/11 NZB –; LSG Sachsen-Anhalt, Be-schluss vom 13. Mai 2009 – L 5 AS 17/09 B –; alle juris). Dass bei der Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen für mehrere Bewilligungsabschnitte i.S.v. § 41 Abs. 1 Sätze 4 und 5 SGB II aF dieselben Rechtsgrundlagen oder identischen Sachfragen eine Rolle spielen, genügt demgegenüber nicht (so aber Thüringer LSG, Beschluss vom 5. Oktober 2016 – L 9 AS 434/15 NZB –; Schleswig-Holsteinisches LSG, a.a.O.; jeweils juris).

Diesem Ergebnis steht nicht entgegen, dass das BSG für andere Rechtsgebiete (vgl. für das Vertragsarztrecht: BSG, Urteil vom 24. Januar 1974 – 6 RKa 2/73 –; für das Übergangsgeld nach § 59 Arbeitsförderungsgesetz: BSG, Urteil vom 22. März 1989 – 7 RAr 106/88 –; für die Arbeitslosenhilfe: BSG, Urteil vom 23. Juni 1982 – 7 RAr 70/81 –; jeweils juris) den Jahreszeitraum nach § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG als über-schritten angesehen hat, wenn mehrere kürzere, ggf. nicht einmal zusammenhän-gende oder ursprünglich in unterschiedlichen Verfahren geltend gemachte (Leis-tungs-)Zeiträume zusammenaddiert werden. Denn ob "die erhobenen Ansprüche inhaltlich gleichartig und demselben Rechtsverhältnis entspringen" (BSG, Urteil vom 24. Januar 1974 – 6 RKa 2/73 –, juris), ist für jede Rechtsmaterie anhand der jeweils maßgeblichen Rechtsgrundsätze gesondert zu ermitteln.

Aus dem Beschluss des BSG vom 22. Juli 2010 (B 4 AS 77/10 B, juris) lassen sich keine für den Kläger günstigere Schlussfolgerungen ableiten. Auf die darin erwähnte "Behauptung der lediglich fiktiven Möglichkeit", das Ergebnis eines auf weniger als ein Jahr beschränkten Rechtsstreits auf weitere nicht streitgegenständliche Zeiträu-me zu erstrecken und hierauf die Zulässigkeit der Berufung nach § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG zu stützen, kommt es im vorliegenden Fall nicht an, weil der streitgegenständli-che Zeitraum rein rechnerisch zwar ein Jahr übersteigt, ihm aber mehrere Streitge-genstände zugrunde liegen.

bb. Dies alles gilt auch, wenn die streitgegenständlichen Bescheide im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X ergangen sind (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 12. Februar 2020 – L 3 AS 4066/19 –; LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 05. Dezember 2011 – L 8 B 430/10 NZB –; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 08. Dezember 2014 – L 2 AS 1828/14 –; ebenso für Leis-tungen nach den Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 19. April 2018 – L 7 SO 2772/16 –; jeweils juris und m.w.N.; a.A. LSG Thürin-gen 10. Januar 2013 – L 9 AS 831/10 –, juris). Denn der Ursprung der (wiederkeh-renden und laufenden) Leistungen ist jeweils in eigenständigen Bewilligungsbeschei-den des Beklagten zu finden, die wiederum lediglich eine Bewilligung von Arbeitslo-sengeld II für einen Zeitraum nicht über ein Jahr hinaus enthielten. Auch Überprü-fungsverfahren nach § 44 SGB X liegt kein – sich über mehrere Bewilligungsab-schnitte i.S.v. § 41 Abs. 1 Sätze 4 und 5 SGB II aF erstreckendes – Stammrecht zugrunde und auch hier erfolgt die Prüfung der Sach- und Rechtslage bezogen auf die ursprünglichen Bewilligungsabschnitte (vgl. auch Wehrhahn a.a.O.; Hengelhaupt, in: Hauck/Noftz, SGB, Stand: 05/18, § 41 SGB II, Rn. 215).

Die gegenteilige Auffassung (Thüringer LSG, a.a.O.) würde zu systemwidrigen Lö-sungen führen. Das Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X – als Besonderheit im deutschen Verwaltungsrecht (vgl. Baumeister, NVwZ 2019, 1499) – gestattet die Be-seitigung von Rechtsfehlern aufgrund bereits bestandskräftiger Verwaltungsakte und dient dem Ziel, die Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung eines rechtswidri-gen Verwaltungsakts und der materiellen Gerechtigkeit zugunsten letzterer aufzulö-sen (statt vieler: Baumeister, in: Schlegel/Voelzke, jurisPraxiskommentar-SGB X, 2.A., § 44 Rn. 18 ff., mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung des BSG). Es hilft somit insbesondere Sozialleistungsberechtigten nach der Versäumung von Rechtsbehelfsfristen, bewirkt aber nicht die Wiedereinsetzung in eine solche Frist (BSG, Urteil vom 10. Dezember 1985 – 10 RKg 14/85 –, juris; Lehr- und Pra-xiskommentar-SGB X/Siewert, 5.A., SGB X § 44 Rn. 2). Daher ist die Reichweite der durch ein Überprüfungsverfahren erzielbaren Rechtsfolgen geringer als im Primär-rechtsschutz (missverständlich insoweit: Baumeister, a.a.O., Rn. 75.1). Begrenzun-gen dieser Art finden sich in der eingeschränkten Rückwirkung auf vier Jahre (§ 44 Abs. 4 SGB X) bzw. ein Jahr (§ 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II), dem Ausschluss der Rücknahme bei bloßen Anhörungs- oder Formverstößen (BSG, Urteile vom 03. Mai 2018 – B 11 AL 3/17 R – und vom 28. Mai 1997 – 14/10 RKg 25/95 –, juris; Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht/Steinwedel, Stand: Dezember 2019, SGB X § 44 Rn. 39 ff.; vgl. auch: Steinwedel, jurisPraxisrecht-SozR 7/2020 Anm. 4), der nur ermessensabhängigen Rücknahme für die Vergangenheit in den Fällen des § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X oder der fehlenden Kostentragungspflicht der Behörde bei Er-folg eines Überprüfungsantrags (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 08. Juli 2013 – L 6 AS 323/13 B –, juris). Das Überprüfungsverfahren erweist sich daher im Verhältnis zum "primären" Rechtsbehelfsverfahren als das schwächere Verfahren. Zu diesem System unterschiedlicher Verfahrensreichweiten stünde es aber in Wider-spruch, wollte man Rechtsschutzsuchenden im Rahmen von § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG bei Überprüfungsbescheiden eine Rechtsschutzmöglichkeit (in Gestalt einer zulassungsfreien Berufung) einräumen, die ihnen im "primären" Rechtsbehelfsverfah-ren nicht offen stünde. Die Gegenauffassung hätte systemwidrig zur Folge, dass die eine Rechtsbehelfsfrist versäumenden und daher auf § 44 SGB X angewiesenen Rechtsschutzsuchenden besser stünden als die die Rechtsbehelfsfrist wahrenden.

Soweit der Kläger im Übrigen auf das Urteil des BSG vom 19. März 2008 (B 11b AS 23/06 R, juris) hinweist, spricht dieses nicht gegen, sondern für die Auffassung des Senats, weil auch das BSG davon ausgeht, dass der vom dortigen Überprüfungsbe-scheid erfasste Zeitraum mit dem des überprüften Bescheids übereinstimmt.

II. Die somit zulassungsbedürftige Berufung wurde vom Sozialgericht nicht zugelas-sen. Das Sozialgericht ist ausdrücklich (s. S. 7 des Urteils), aber irrtümlich davon ausgegangen, dass wiederkehrende Leistungen von mehr als einem Jahr Streitge-genstand sind; es hat daher die Berufung unter Hinweis auf § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG ohne gesonderte Zulassungsentscheidung für zulässig gehalten und das Urteil mit einer entsprechenden Rechtsmittelbelehrung versehen.

Weder der Irrtum des Sozialgerichts über die Zulässigkeit der Berufung noch die für die zulassungsfreie Berufung übliche Rechtsmittelbelehrung, die keine Entscheidung über die Zulassung ist, sondern eine fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung, binden das Berufungsgericht (BSG, Beschluss vom 22. Juli 2010 – B 4 AS 77/10 B –, Rn. 8, ju-ris, m.w.N.). Gründe, die auf Umstände hindeuten, warum im vorliegenden Fall den-noch von einer Zulassung der Berufung durch das Sozialgericht auszugehen sein sollte, sind weder ersichtlich noch vorgetragen.

III. Die Berufung des Klägers kann auch nicht in eine Nichtzulassungsbeschwerde umgedeutet werden (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/B. Schmidt, Sozialgerichtsge-setz, 12.A., vor § 143 Rn. 15c m.w.N.). Beide Rechtsmittel verfolgen unterschiedli-che Zielrichtungen. Es ist auch nicht in allen Fällen als selbstverständlich anzuneh-men, dass die Umdeutung dem Beteiligtenwillen entsprechen würde. Vielmehr er-scheint es zumindest denkbar, dass der Rechtsmittelführer den zusätzlichen Auf-wand einer Nichtzulassungsbeschwerde nicht auf sich genommen hätte, wenn ihm die Unzulässigkeit der Berufung und der die Unzulässigkeit begründende geringe Be-schwerdewert bewusst gewesen wäre. Speziell im sozialgerichtlichen Verfahren scheidet die Umdeutung eines unzulässigen Rechtsmittels in das zulässige auch we-gen der allen anfechtbaren Entscheidungen beizufügenden Rechtsmittelbelehrung (für Urteile vgl. § 136 Abs. 1 Nr. 7 SGG) aus. Im Fall einer – wie hier – unzulässigen Berufung an Stelle einer Nichtzulassungsbeschwerde käme eine Auslegung im Sinne des zulässigen Rechtsmittels allenfalls dann in Betracht, wenn außer der Bezeich-nung alle übrigen Ausführungen für eine Beschwerde sprächen (BSG, Urteil vom 20. Mai 2003 – B 1 KR 25/01 R –, juris, m.w.N.). Der Kläger hält jedoch auch nach einem Hinweis des Senats die Berufung für zulässig und hat sein Rechtsmittel er-sichtlich auf dieser Basis begründet.

IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits.

Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG), weil streitentscheidende Rechtsfragen zur Anwendbarkeit von § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG höchstrichterlich noch nicht geklärt sind.
Rechtskraft
Aus
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