L 2 AS 1111/20 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
2
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 41 AS 969/20 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 2 AS 1111/20 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 03.07.2020 geändert. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 17.03.2020 gegen den Bescheid vom 02.01.2020 wird angeordnet. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin hat auch in der Sache Erfolg.

Gemäß § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Weitere Kriterien für die Anwendung dieser gerichtlichen Anordnungsbefugnis sind gesetzlich nicht geregelt. Sie sind durch Auslegung zu gewinnen. Diese ergibt, dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs oder einer Anfechtungsklage Ergebnis einer Interessenabwägung ist. Die aufschiebende Wirkung eines solchen Rechtsbehelfs ist anzuordnen, wenn im Rahmen der Interessenabwägung dem privaten Aufschubinteresse gegenüber dem öffentlichen Interesse einer sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes Vorrang gebührt. Bei dieser Interessenabwägung ist insbesondere die - nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage zu bewertende - Erfolgsaussicht des Rechtsbehelfs in der Hauptsache zu berücksichtigen. Ferner ist zu beachten, dass der Gesetzgeber in Fällen des § 86 a Abs. 2 Nrn. 1 - 4 SGG das Entfallen der aufschiebenden Wirkung angeordnet und damit grundsätzlich ein überwiegendes Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes geregelt hat (vgl. Landessozialgericht [LSG] Nordrhein-Westfalen [NRW], Beschluss vom 01.06.2015, Az.: L 2 AS 730/15 B, bei juris Rn. 5). Davon abzuweichen besteht nur Anlass, wenn im konkreten Fall ein überwiegendes privates Aufschubinteresse feststellbar ist. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung muss eine mit gewichtigen Argumenten zu begründende Ausnahme sein (LSG NRW, Beschluss vom 09.12.2013, Az.: L 2 AS 1956/13 B ER, bei juris Rn. 3). Eine solche Ausnahme liegt dann vor, wenn der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist, denn ein überwiegendes öffentliches Interesse am Vollzug offensichtlich rechtswidriger Verwaltungsakte besteht nicht. Ist der Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig, ist die aufschiebende Wirkung regelmäßig nicht anzuordnen. Sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs nicht abschätzbar, ist eine allgemeine Interessenabwägung durchzuführen. Dabei sind auch die grundrechtlichen Belange des Antragstellers in die Abwägung einzustellen (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 12.05.2005, Az. 1 BvR 569/05, bei juris Rn. 26; siehe auch LSG NRW, Beschluss vom 01.06.2015, Az.: L 2 AS 730/15 B, bei juris Rn. 5).

Der Widerspruch der Antragstellerin vom 17.03.2020 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 02.01.2020 hat gemäß § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG in Verbindung mit § 39 Nr. 2 Sozialgesetzbuch 2. Buch (SGB II) keine aufschiebende Wirkung.

Der auf Anordnung derselben gerichtete Antrag hat Erfolg, weil sich die Aufforderung zur Rentenantragstellung jedenfalls nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung als wirksam angefochten und derzeit rechtswidrig erweist. Bei der Aufforderung handelte sich um einen Verwaltungsakt im Sinne von § 31 des Sozialgesetzbuches 10. Buch (SGB X) [siehe dazu Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 19.08.2015 zum Aktenzeichen B 14 AS 1/15 R - Rn. 12 der Wiedergabe bei juris]. Diesen Verwaltungsakt hat die Antragstellerin auch wirksam angefochten. Zwar erfolgte der Widerspruch nicht binnen Monatsfrist, da der angefochtene Verwaltungsakt jedoch nicht mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen war, greift statt der Monatsfrist die (hier gewahrte) Jahresfrist (siehe § 84 i.V.m. § 66 SGB X).

Rechtsgrundlage für den mithin wirksam angefochtenen Bescheid sind § 12a und § 5 Abs. 3 SGB II, deren Regelungen nach höchstrichterlicher Rechtsprechung (siehe dazu BSG aaO. zur Rn. 15 bei juris) keinen Anlass für verfassungsrechtliche Bedenken bieten. Die am 29.03.1957 geborene Antragstellerin hat zwischenzeitlich das 63. Lebensjahr vollendet und ist nach der Wertung des Gesetzgebers damit grundsätzlich verpflichtet, vorrangige Leistungen, zu denen Rentenansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherung zählen, zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit in Anspruch zu nehmen. Diese grundsätzliche Verpflichtung entfällt allerdings dann, wenn sich die vorzeitige Inanspruchnahme einer Rente wegen Alters im Einzelfall als unbillig erweist. Wann von einer solchen Unbilligkeit auszugehen ist, wird in der Verordnung zur Vermeidung unbilliger Härten durch Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente abschließend (siehe dazu BSG, am angegebenen Ort, zur Rn. 23 der Wiedergabe bei juris) geregelt (zur Verordnungsermächtigung siehe § 13 Abs. 2 SGB II).

Der angefochtene Bescheid ist wegen Ermessensnichtgebrauch rechtswidrig. Die Aufforderung zur Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente ist nach dem Gesetz eine Ermessensentscheidung (siehe dazu BSG, am angegebenen Ort, zur Rn. 25 der Wiedergabe bei juris). Ermessen wurde hier vom Antragsgegner bei Erlass des Bescheides nicht erkennbar ausgeübt. Die Ermessensausübung und die für die Ermessensentscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte müssen sich aus der Begründung des Verwaltungsaktes ergeben. Dies erfordert nicht notwendig umfangreiche Ausführungen. Insbesondere wenn keine Abweichungen von einem "Normalfall" vorliegen, kann auch mit im Allgemeinen gehaltenen Ausführungen wie beispielsweise: "man habe vom eingeräumten Ermessen pflichtgemäß Gebrauch gemacht" oder die Entscheidung sei "unter Würdigung Ihrer persönlichen Umstände" ergangen, eine Ermessensentscheidung rechtmäßig ergehen. Es muss aber mindestens erkennbar sein, dass die Behörde sich der Notwendigkeit, eine Ermessensentscheidung zu treffen, bewusst gewesen ist. Fehlt es auch daran, ist die Entscheidung wegen Ermessensnichtgebrauchs rechtswidrig. Im Übrigen wäre die Entscheidung des Antragsgegners auch bei unterstelltem Ermessensgebrauch wegen Ermessensfehlgebrauchs im Zeitpunkt der Erteilung des Verwaltungsaktes (auf den insoweit abzustellen ist) rechtswidrig. Ein rechtmäßiger Ermessensgebrauch setzt unter anderen voraus, dass alle maßgeblichen Ermessensgesichtspunkte in die Entscheidung miteinbezogen wurden. Verpflichtend ist deshalb vor Erlass des Verwaltungsaktes eine Aufklärung des Sachverhalts im für die rechtmäßige Ausübung von Ermessen notwendigen Umfang. Auch daran fehlt es hier. Die für die Ermessensausübung wichtige Klärung der von der Antragstellerin zu erwartenden Rentenhöhe ist hier ersichtlich nicht vor Erlass der angefochtenen Aufforderungen zur Rentenantragstellung erfolgt. Dies ergibt sich bereits aus dem Bescheid vom 02.01.2020, in dem zur Rentenhöhe lediglich Vermutungen bzw. Erwartungen (siehe Seite 2 des Bescheides) angestellt werden. Die der Antragstellerin vom Rentenversicherungsträger erteilte Rentenauskunft vom 16.01.2020 konnte in dem zuvor vom Antragsgegner erlassenen Bescheid nicht berücksichtigt werden. Zwar befindet sich in den Verwaltungsakten auch eine am 07.02.2019 erteilte Rentenauskunft; allein auf diese abzustellen, genügte im vorliegenden Verfahren aber nicht, weil es wegen des nur geringen Überschreitens bzw. Unterschreitens der Grenze der Unbilligkeit der Rentenantragstellung zur rechtmäßigen Ermessensausübung einer möglichst aktuellen und damit genaueren Rentenauskunft bedurfte.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 SGG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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